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ISBN 978-3-492-97130-0
Dezember 2015
© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2015
Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Covermotiv: FinePic, München, Frank Zauritz
Datenkonvertierung: Fotosatz Amann, Memmingen


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Ich habe ein Problem. Das glaube ich zumindest. Vielleicht ist »Problem« aber auch der falsche Ausdruck. Ich bin kein Mediziner. Aber »Leiden« klingt schon wieder so weinerlich, und es »eine Qual« zu nennen, ist vielleicht ein bisschen übertrieben. Und ich übertreibe nicht, wenn es um meine Gesundheit beziehungsweise um eine vermeintliche, eventuell schwere Krankheit geht. Ich bin ein Mann und kann einiges ab.

Doch seit etwa einem Monat habe ich ein mal etwas stärkeres, mal etwas schwächeres Schwindelgefühl. Ein bisschen so, als würde sich das Sichtfeld zu einem schwammigen Tunnel verengen und langsam nach hinten kippen, während man in einem abstürzenden Fahrstuhl in atemberaubender Geschwindigkeit einen stickigen Schacht hinunterrast.

Nur nicht ganz so schlimm.

»Das Wetter! Sicher bist du wetterfühlig«, habe ich am Anfang gedacht. Das liest und hört man ja ständig. Alte Menschen spüren in den morschen Knochen, wenn das Wetter umschlägt und der Körper auf jede noch so marginale Klimaveränderung reagiert. Kopfschmerzen, Kreislaufprobleme. Wenn die wulstige Kriegsnarbe im Bein zieht, wird es morgen wieder drückend schwül von der Westfront her. Nun war ich nie im Krieg, und im eigentlichen Sinne alt bin ich mit dreißig auch noch nicht. Schwül war es die letzten Wochen ebenso wenig gewesen. Eher heiß. Sehr heiß. Keine Wolke am Himmel. Jahrhundertsommer!

Mein Unwohlsein musste also eine andere Ursache haben.

Das für den Menschen lebenswichtige Vitamin D erhält der Körper zum größten Teil durch Sonneneinstrahlung direkt über die Augen. Etwa 45 Minuten soll man sich draußen aufhalten, um den täglichen Bedarf an Vitamin D zu decken. Möglichst ohne Sonnenbrille. Generell kein Problem in einem Jahrhundertsommer, aber um hier auch wirklich nichts dem Zufall zu überlassen, lag ich jeden Tag etwa drei Stunden in der prallen Sonne und starrte in den Himmel. Das Wetter konnte also ebenso wenig der Grund für meinen Schwindel sein.

»Vielleicht ernähre ich mich nicht ausgewogen genug!«, war mein nächster Gedanke. Stichwort Mangelernährung. Werden dem Körper nicht alle nötigen Nahrungsbestandteile zugeführt, kommt es zu mitunter massiven Beschwerden. Das lernt man schon in der Grundschule. Leider ernähre ich mich recht gesund. Schon zum Frühstück esse ich eine große Portion Obst und Gemüse. Also, genauer gesagt: Vitaminpillen. Obst und Gemüse schmecken mir nicht sonderlich, und warum soll ich meinen Körper mit etwas quälen, was mir nicht schmeckt, wenn ich über 250 Prozent meines täglichen Bedarfs an Vitaminen auch mit fünf geschmacksneutralen Tabletten und bunten Geleekapseln decken kann?

Mittags und abends gibt es dann überwiegend helles Fleisch. Wenn ich koche, achte ich immer darauf, möglichst hochwertige Zutaten zu verwenden und gleichzeitig meinen Geldbeutel zu schonen. Denn Gutes muss nicht immer teuer sein, und wenn Hühnerbrustfilet zu zwei Euro das Kilo im Angebot ist, kaufe ich schon mal auf Vorrat. Hier stimmen der Preis und die Qualität. Da vertraue ich den Lebensmittelkontrollen in unserem Land blind, schließlich sind eine Deutschlandflagge und ein Bauernhof auf der Verpackung abgebildet.

In Deutschland hat generell alles seine Ordnung. So kann ich mir als Verbraucher auch absolut sicher sein: Wenn auf meinem Panna-Cotta-Sahne-Joghurt keine Kalorien angegeben sind, dann hat der auch keine. Dasselbe mit Wein. Stehen keine Kalorien drauf, dann sind auch keine Kalorien drin! Und ein Glas Rotwein am Tag – da sind sich Mediziner seit Hunderten von Jahren einig – soll man schließlich sogar trinken. Oder war es eine Flasche? Rotwein minimiert das Herzinfarktrisiko, und ich gehe da lieber auf Nummer sicher. Dass ich zu wenig Flüssigkeit zu mir nehme, ist auch grundsätzlich ausgeschlossen. Ich trinke täglich locker vier Liter Wasser. Schon alleine, um den Brand zu löschen, den ich vom Vorabend aus der Kneipe mit nach Hause gebracht habe.

Ausschlaggebend dafür, dass ich jetzt im muffigen Behandlungszimmer meines Hausarztes Dr. Haberkorn sitze und ihm meine Beschwerden schildere, die ich trotz meines gesundheitsbewussten Lebenswandels habe, ist Google. In einem schwachen Moment, in dem der Schwindel wieder besonders stark war und mich schon am frühen Nachmittag auf die Couch zwang, habe ich »Schwindelgefühl über Wochen Grund« in die Google App meines Smartphones eingegeben. Die Suchergebnisse waren alarmierend: »Hirntumor, nur noch drei Wochen zu leben« war noch eine der optimistischsten Diagnosen.

»Ist Ihnen denn jetzt im Moment auch schwindlig?«, fragt Dr. Haberkorn und tippt dabei etwas in seinen vorsintflutlichen Computer. Er tippt mit zwei Fingern. Er tippt so unfassbar langsam, dass es mich fast aggressiv macht. Er fixiert dabei jeden anzuschlagenden Buchstaben, zielt und drückt dann mit einem leichten Nachfedern so bedächtig Letter für Letter des abgenutzten Keyboards, als müsste er das Codewort zum Entschärfen einer Atombombe einloggen. Mit einem Zeitzünder ist die Bombe vermutlich nicht versehen. Generell ist Dr. Haberkorn ein eher bedächtiger, fast möchte man sagen, ein gemütlicher Typ, was sicherlich auch mit seiner enormen Körperfülle zusammenhängt.

»Ein wenig schwindelig ist mir. Nicht sehr«, gebe ich zur Antwort und muss mich dabei beherrschen, ihm nicht anzubieten, eventuell für ihn weiterzutippen. Das würde Zeit sparen, und mein gemütlicher Arzt könnte endlich mit der Diagnose beginnen. Ein Wunder, dass er mit den fleischigen Fingern seiner prankenartigen Hände überhaupt einzelne Tasten erwischt. Sein dicker Bauch dient ihm beim Schreiben als Ellbogenstütze, und seine runden Blumenkohlohren wackeln bei jedem Anschlag. Es sieht ein bisschen so aus, als hätte Balu der Bär sich einen Arztkittel übergezogen. Und besonders gesund wirkt Dr. Haberkorn auch nicht. Ich glaube, ich war überhaupt noch nie bei einem Arzt, der richtig gesund aussah. Meine Skepsis wächst. Wenn Balu Haberkorn noch lange so weitertippt, frage ich ihn, ob ich in der Zwischenzeit ein Nickerchen auf seiner Untersuchungsliege machen kann. Oder hat er die Diagnose vielleicht schon längst gestellt, ohne dass ich es bemerkt habe? Eventuell schreibt er ja gerade die Überweisung zu einem Experten, weil er auf den ersten Blick erkannt hat, dass ich in die Hände eines Fachmanns gehöre?

Während Haberkorns Blick weiter wie in Zeitlupe zwischen Tastatur und Bildschirm hin- und herschleicht und er nicht auf meine Antwort reagiert, fahre ich einfach – wenn auch zunehmend irritiert – fort: »Jetzt gerade ist mir so wenig schwindlig wie seit Wochen nicht. Aber das ist ja immer so. Wenn man sich endlich aufraffen kann, zum Arzt zu gehen, und schließlich im Sprechzimmer sitzt, sind die Beschwerden wie weggeblasen. Nach dieser Logik müsste es Ihnen ja immer gut gehen, hehehehe, hehe, he.« Riesengag, Christian.

Haberkorn lacht nicht und sieht mich das erste Mal direkt an. Unangenehmes, fast greifbares Schweigen. Mein missglückter Scherz hallt in der Stille nach. Ich hüstle verlegen.

»Weil Sie als Arzt ja schließlich jeden Tag in Ihrem eigenen Sprech…«

»Sitzen Sie denn viel vorm Computer?«, unterbricht er mich.

»Ganz normal, denke ich. So neun Stunden am Tag bei der Arbeit im Tonstudio und dann noch mal so drei, vier Stunden daheim. Aber das ist Freizeit. Man soll das ja auch nicht übertreiben. Ist mir schon klar. Deshalb beantworte ich viele Mails direkt am Smartphone. Das ist recht praktisch, und man kann etliches während des Fernsehens, in der Bahn oder beim Essen erledigen.«

Balu Haberkorn tippt wieder. Tippt jemand so langsam und ruhig, der seinen Patienten gleich damit konfrontieren wird, dass dieser ziemlich sicher einen Hirntumor und nur noch maximal drei Wochen zu leben hat? Oder will er Zeit schinden? Vielleicht überlegt er, wie er mir die niederschmetternde Wahrheit am schonendsten beibringen kann. Ich halte dieses Warten nicht mehr aus.

»Machen wir ein großes Blutbild?«, schlage ich vor. »Oder lieber direkt in die Röhre?« In die Röhre! Mediziner-Slang für Kernspintomografie. Meine Google-Recherche macht sich bezahlt. Ich habe meine Hausaufgaben gemacht. Jetzt weiß Dr. Balu Haberkorn, dass wir uns auf Augenhöhe unterhalten.

»Ich würde Ihnen Folgendes raten: Arbeiten Sie weniger. Sitzen Sie weniger vorm Bildschirm. Starren Sie nicht dauernd auf Ihr Handy. Treiben Sie Sport. Lassen Sie den Fernseher aus, und treffen Sie sich mit Freunden. Trinken Sie weniger Alkohol. Und schlafen Sie mehr. Probieren Sie es mit etwas mehr Ruhe, und zwingen Sie sich zu ein bisschen Gemütlichkeit.«

Versucht der Herr Doktor jetzt selbst witzig zu sein? So locker hätte ich ihn gar nicht eingeschätzt. Und gebietet die Situation nicht ein wenig mehr Ernsthaftigkeit? Stichwort Lebensgefahr! Vorsichtig versuche ich zu schmunzeln, was mir aber ziemlich misslingt, als ich realisiere, dass mein Arzt das gerade völlig ernst gemeint hat. »Wenn es Ihnen in vier Wochen nicht besser gehen sollte, kommen Sie noch mal vorbei«, schließt Haberkorn seinen vorläufigen Befund ab und drückt mit Schwung die Enter-Taste seines PCs.

In vier Wochen?! Vielleicht sollte der Gute mal googeln. »Wenn ich dann noch lebe«, murmle ich. Jetzt lacht Dr. Haberkorn. Schön. Freut mich für ihn. Lachen ist gesund. Grußlos verlasse ich die Praxis. Noch im Treppenhaus tippe ich »Neuer Hausarzt Berlin« in mein Smartphone.

Der Schwindel ist wieder da.

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»Bitte keine Werbung« – dieser Zettel klebt jetzt seit etwa zwei Wochen an meinem Briefkasten. Nicht zu übersehen, direkt unter der zerkratzten Briefkastenklappe platziert. Gut leserlich und von Hand geschrieben. Handmade. Mit Edding. In blutroten, fetten Druckbuchstaben. Kurz hatte ich überlegt, ob ich noch einen Totenkopf dazu zeichnen soll. Mit Blitzen! Leider kann ich nicht besonders gut zeichnen, und ein Totenkopf wäre vielleicht auch ein bisschen übertrieben gewesen. Andererseits meinte ich diesen Zettel todernst. Ich war wirklich genervt von der Flyerflut, die sich jeden Nachmittag aus meinem Briefkasten ergoss. Speisekarten von neu eröffneten Restaurants wollten mir mit Slogans wie »Ich will ein Rind von dir – Beef, das Steakhouse mit Biss« oder »Paolo der Pizza Pimp hat ein Mittagsangebot, das du nicht ablehnen kannst« Appetit machen. Clubs und Discos versprachen mir die Party meines Lebens mit 28 DJs auf 29 Floors, so viel Wodka-Energy, wie ich trinken könne, und freien Eintritt bis Mitternacht, wenn ich eine »Lady« sei. Ich bekam so viele Broschüren und Wurfzettel von Umzugsunternehmen und Entrümpelungsfirmen, dass ich langsam den Verdacht hegte, jemand wolle mich aus dem Haus ekeln.

Für nur 70 Euro bekommt man 10000 Flyer gedruckt und gefühlt alle werden wöchentlich in meinem Haus verteilt. Oft sind die Briefkästen hier so voll mit Werbung, Wochenblättern und kostenlosen Zeitungsexemplaren, dass der Postbote Briefe und Päckchen gar nicht mehr durch den Schlitz bekommt. Ist ein Briefkasten voll, legt er die Sendung einfach offen und für jedermann sichtbar in den Hausgang. Offenbar glaubt der Postbote noch an das Gute im Menschen. Im Gegensatz zu mir. Vielleicht sollte ich einfach selbst 10000 Flyer drucken lassen und an die mich mit Werbung bombardierenden Firmen verteilen?

Textvorschlag (um das Niveau zu halten):

Machen Sie die Fliege mit Ihren vielen Flyern.
Ich bleib hier wohnen, bin schon satt und gehe auch nicht feiern!

Das hätte zweifellos Wirkung gezeigt, war mir aber in der Umsetzung etwas zu aufwendig. Was ich brauchte, war ein Stoppschild. Ein analoger Spamfilter. Eine Flyerwall! Oder gleich ein Türsteher. Unmissverständlich, höflich und mit klarer Ansage: »Du kommst hier nicht rein. Leider nur Gästeliste.« Extra eine Securityfirma mit der Bewachung meines Briefkastens zu beauftragen schien mir auf lange Sicht dann aber doch zu kostspielig.

Mein nächster Plan, einen lebensgroßen Pappaufsteller von Gandalf aus Herr der Ringe zu basteln, der jedes Mal »Du kooooommst hier nicht vorbei!!!« von einem Ghettoblaster abspielt, wenn jemand – außer dem Postboten – etwas in meinen Briefkasten werfen will, scheiterte knapp an allem, was man an Fähigkeiten und Material zur Umsetzung dieser Idee gebraucht hätte. Schade, aber da musste ich auch realistisch bleiben.

Vielleicht gab es eine Möglichkeit, eine kleine Kamera an der Innenseite des Briefkastenschlitzes zu montieren? Dieser würde sich dann nur noch öffnen, wenn der Postzusteller seine Iris von einem Infrarotstrahl der Kamera scannen lassen und als autorisiert eingestuft werden würde. Das stellte ich mir ziemlich cool vor. Vielleicht schaue ich aber auch zu viele Agentenfilme.

Meist sind die einfachsten Lösungen auch die effektivsten. Der handgeschriebene Zettel funktionierte. Seit zwei Wochen keine Werbung mehr im Briefkasten.

Bis heute.

Ungläubig halte ich ein beidseitig bedrucktes DIN-A5-großes Blatt aus billigem Glanzpapier in der Hand. Ein glücklich grinsender Buddha, der die rechte Hand zu einer Art »Mister-Spock-Gruß« in die Kamera erhoben hat, sitzt inmitten von Clipart-Lotusblüten auf einem schlecht freigestellten Yin-und-Yang-Zeichen und sieht übermenschlich erleuchtet aus. In fünf verschiedenen Goldtönen steht in ebenso vielen verschiedenen Schriftarten »Sofack – Traditionelle Thai-Massage. Seriös und zertifiziert. Absolut keine Erotik!« auf der Vorderseite des Flyers. »Sofack« und »keine Erotik«. Ich muss ein bisschen kichern, bin aber sofort wieder wütend, dass meine manuell installierte Flyerwall bereits nach läppischen zwei Wochen einfach dreist ignoriert und umgangen, ja fast könnte man sagen, gehackt worden ist. Auf der Rückseite des Flugblattes sind die Adresse und Telefonnummer des Massagestudios angegeben. Das Sofack befindet sich ein paar Tramstationen von meiner Wohnung entfernt, hier in Prenzlauer Berg, und es ist keine Frage, dass ich die Verantwortlichen umgehend telefonisch zur Rede stellen werde. Ich werde meinem Ärger Luft machen. Mich beschweren. Seriös und traditionell deutsch.

Es klingelt. Eine Frau mit asiatischem Akzent meldet sich viel zu laut.

»Soooo faaaaack Thai-Massage. Splechen mit Benji.«

»Guten Tag, ich würde gerne mit Ihrem Geschäftsführer sprechen.«

Schweigen am anderen Ende der Leitung. Das scheint gleich mal gesessen zu haben.

»Hören Sie?«, hake ich nach.

»Ja. Splechen mit Benji. Wollen Sie Telmin?«

»Ich müsste dringend Ihren Geschäftsführer sprechen. Es geht um eine Beschwerde aufgrund eines unrechtmäßig in meinen Briefkasten eingeworfenen Flyers.« Das klang gut. Imposanter Satzbau, Christian! Ich hatte damals, nach dem Abitur, überlegt, Jura zu studieren, und wäre sicher ein super Anwalt geworden. Knallhart und wortgewandt. Einspruch, Euer Ehren. Einspruch stattgegeben. Treffer versenkt. Das volle Programm.

»Was haben Sie denn Beschwelde? Haben Nackenbeschwelde? Lücken?«, versucht die viel zu laute Frauenstimme von der Konfrontation abzulenken.

»Nicht Beschwerden. Beschwerde!« Langsam kann ich nachvollziehen, wie mein früherer Lateinlehrer sich gefühlt haben muss, wenn er eine Übersetzung von mir korrigiert hat.

»Sie haben einen Flyer in meinen Briefkasten geworfen, ohne Einverständnis von meiner Seite. Das ist nicht rechtens.«

»Aaah!« Sie scheint langsam zu verstehen, worum es hier geht. Gut.

»Aaah! Okay. Ihle Seitah lechtens.«

»Genau.«

»Nul auf lechtah Seitah? Oder linkah Seitah auch Beschwelde?« Anscheinend hat mich Frau Benji doch noch nicht hundertprozentig verstanden.

»Nein. Also, noch mal von vorne«, und bevor sie fragen kann, ob ich vielleicht »volne« Beschwerden hätte, schiebe ich schnell hinterher: »Sollte ich Ihre Werbung nochmals in meinem Briefkasten finden, lasse ich Sie abmahnen!« Meine Stimme überschlägt sich leicht. Übertreibe ich eventuell gerade ein bisschen? So drastisch sollte das jetzt eigentlich gar nicht rüberkommen. Und ich habe auch keinen blassen Schimmer, ob es irgendeine juristische Grundlage dafür gibt, was ich hier gerade verzapfe. Aber das Ganze ist ja eh nur ein Bluff. Und überhaupt, wir leben hier immer noch in einem Rechtsstaat. Und im Recht bin ich definitiv.

»Sind Sie noch dran? Könnte ich jetzt bitte mit Ihrer Chefin oder Ihrem Chef sprechen?«

»Sie wollen Massagetelmin bei Chefin?«

»Nein.« Ich muss ein bisschen lachen, fange mich aber gleich wieder, räuspere mich und werde etwas entspannter: »Reden möchte ich mit Ihrer Chefin, bitte.«

Ich höre, wie sie den Hörer zuhält und sich mit jemandem in einer mir fremden Sprache – vermutlich Thai – unterhält. Warum hält sie denn extra den Hörer zu? Als ob ich sie verstehen oder simultan mit einem Wörterbuch übersetzen würde. Mein Thai beschränkt sich darauf, dass ich mein Lieblingsgericht bei meinem asiatischen Lieblingslieferservice richtig aussprechen kann. Oder war das Koreanisch? Chinesisch? Eigentlich auch völlig egal, denn nachdem schon ein paarmal das falsche Essen geliefert worden ist, lese ich da eh nur noch – sehr laut – die Menünummer von der Speisekarte ab.

»Chefin ist leidah nicht da. Hat leidah auch kein Telmin. Wollen Sie Telmin bei Benji?«

»Sie haben sich also nicht gerade mit ihrer Chefin unterhalten? Bitte seien Sie ehrlich, und schwindeln Sie mich nicht an.«

»Sie haben Schwindel? Nacken- und Lücken-Thai-Massage sehl, sehl gut bei Schwindel.«

Mein Termin ist nächsten Donnerstag um 18 Uhr. Und ich solle doch »bittah pünktlich« sein.

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Kurz dachte ich, man habe mir beim Joggen hinterhergepfiffen. War aber doch nur meine Lunge.

Dass ich es überhaupt einmal um den See geschafft habe, grenzt an ein Wunder. Spaß hat das keinen gemacht. Und dass Joggen wirklich gesund sein soll und wie Dr. Haberkorn überhaupt auch nur auf die Idee kommen kann, mir zu sportlicher Ertüchtigung dieser Art zu raten, sehe ich im Moment auch nicht. Gerade sehe ich eh recht wenig, außer ineinanderfließende und immer und immer wieder explodierende bunte Sterne. Ein Unterzucker-Kaleidoskop. Meine persönliche Supernova. Silvester auf LSD, mitten im Sommer und ausschließlich mit körpereigenen Drogen oder wie man das nennt, wenn das Hirn keinen Sauerstoff mehr bekommt, die Lunge wie Feuer brennt und der Herzschlag SOS morst. Dabei hatte ich geglaubt, ich sei fit. Ein Kraftpaket und Ausdauerathlet. Austrainiert und voll im Saft. Einmal Fitnessstudio in der Woche scheint aber rein gar nichts zu bringen, wenn man einfach mal locker um einen See laufen will. Lächerliche vier Kilometer.

Laufen hatte man das nach den ersten dreihundert Metern ohnehin schon nicht mehr nennen können. Mehr ein Sichschleppen, Humpeln und Hoffen, dass einen niemand sieht, den man kennt. Jeder einzelne Schritt war entsetzlich. Jeder Meter eine Überwindung. Jeder Atemzug ein Messerstich. Eine Tortur. Reine Selbstgeißelung. Daran hat auch mein neu gekauftes Joggingoutfit nichts ändern können. Mein aerodynamisches Shirt klebte mir schon nach den ersten zwei Schritten klatschnass am Körper und scheuerte an den Nähten. Die Schuhe, die im Sportshop noch so bequem gepasst hatten, drückten ab dem ersten gelaufenen Meter an der Ferse, und meine Fußballen fühlten sich direkt an, als verwandelten sie sich immer und immer weiter in pochende, eitrige Blasen.

Jetzt stehe ich – schwer atmend vornübergebeugt, die Hände in die Flanken gestützt – wieder da, wo ich vor knapp einer Stunde voller Elan losgelaufen bin, und fühle mich elend. Ruhig ist es im Park, der See glänzt wie ein Mosaik aus Glas in der warmen Nachmittagssonne. Vom Ufer her hört man aufgeregt ein paar Enten in meine Richtung quaken. Lachen die mich aus? Oder wollen sie mich warnen? Vielleicht kreisen am Himmel bereits die Geier und sehen in mir ein saftiges Stück Aas in spe. Doch ich bin zu schwach, um den Kopf zu heben und nachzuschauen. Ich schnaufe, schnaube, schwitze und kann mich vor Wadenkrämpfen kaum mehr auf den Beinen halten. Bestimmt habe ich Schaum vorm Mund. Als Pferd würde man mich vermutlich erschießen. Mich erlösen und den Aasfressern überlassen. Oder zu Lasagne verarbeiten. Wenn ich mich jetzt hinlege, stehe ich sicherlich nie wieder auf.

Würde mein Verschwinden irgendjemandem auffallen? Würde irgendwer nach mir suchen?

Hätte ich mir nicht diese unsägliche App, mit der alle meine Facebook-Freunde in Echtzeit verfolgen können, wie weit, wohin, wie schnell und vor allem wie langsam ich laufe, heruntergeladen, wäre ich beim ersten Anzeichen von Seitenstechen wohl einfach auf einer Bank in der Sonne sitzen geblieben. Vielleicht sogar noch vor dem ersten Seitenstechen. Natürlich ist auch nichts falsch daran, den Nachmittag sitzend auf einer Bank zu verbringen. Ganz im Gegenteil. Forrest Gump hat das auch so gemacht, und der war ein toller Läufer.

Leider laufe ich in etwa so, wie Forrest Gump spricht.

Wenigstens wird die App exakt anzeigen, wo ich erschöpft zusammengebrochen bin und wo der Rettungstrupp und der Notarzt mich finden können. Das beruhigt mich etwas. Hoffentlich bringen die Retter ein Sauerstoffzelt mit, denn inzwischen ringe ich gefühlt genauso lange wieder nach Luft, wie ich für den ganzen Lauf gebraucht habe. Ein Desaster. Ich bin von etlichen jungen, sportlichen Vätern überholt worden, die auch mit Kinderwagen wesentlich schneller waren als ich. Vielleicht war es aber auch nur ein Vater, der mich einige Male überrundet hatte. Wahrscheinlich sogar. Nächstes Mal, wenn ich einen Vater sehe, der mit Kinderwagen joggt, rufe ich laut: »Mein Baby! Hilfe, haltet den Kidnapper!« Falls ich dann überhaupt die Kraft und die Puste habe, laut zu rufen. Also, falls ich jemals wieder joggen werde. Also konkret: Falls ich die nächsten Minuten nicht den Erschöpfungstod sterbe. Mir geht es immer schlechter. Den Geiern dürfte das gefallen. Die wetzen sicher schon die Schnäbel.

Meine App informiert mich mit einem traurigen Smiley, dass ich für die Strecke um den See auf die Sekunde genau 49 Minuten gebraucht habe, und schlägt vor, mir einen individualisierten Trainingsplan auszuarbeiten, da meine Fitnesswerte als »mangelhaft« einzustufen seien. Ganz schön vorlaut für jemanden, der mich gerade so gequält hat und theoretisch mit nur einem Knopfdruck wieder deinstalliert ist. Individualisierter Trainingsplan? Es schüttelt mich bei dem Gedanken, mich zu Fuß jemals wieder schneller als in gemächlicher Schrittgeschwindigkeit fortbewegen zu müssen. Mir ist richtig schlecht. Mittlerweile stehe ich in einer Pfütze aus Schweiß. Vermutlich sind auch einige Tränen dabei. So viel zum Thema »voll im Saft«. »Voll im Arsch« trifft es eher. Aus eigener Kraft schaffe ich es mit Sicherheit nicht mehr nach Hause.

»Noch mal. Von wo soll der Fahrer Sie abholen?«

»Aus dem Park. Direkt am Weißen See. Schnell, bitte. Es ist ernst.«

»Und wohin wollen Sie gleich noch mal? Ich habe Sie eben nicht richtig verstanden, glaube ich.«

»Bitte einfach bis zur nächsten Bushaltestelle. Das sind nur fünfhundert Meter, aber ich schaffe das nicht mehr. Wissen Sie, ich war jogg… Hallo? Sind Sie noch dran?« Aufgelegt. Frechheit. Unfassbar. Die Taxigesellschaft verklage ich wegen unterlassener Hilfeleistung. Hilfe, für die ich ja sogar bezahlt hätte. Leistungsgerecht, also Kurzstrecke.

Das Telefonat hat mich angestrengt. Mein Kreislauf ist immer noch im Keller. Ich habe viel Flüssigkeit verloren. Soll ich direkt einen Krankenwagen rufen? Der müsste schließlich kommen. Da könnte man mich nicht so einfach abwimmeln. Allerdings bin ich nicht sicher, ob man mich so ohne Weiteres zu der Bushaltestelle oder vielleicht sogar bis zu meiner Wohnung fahren würde. Und ins Krankenhaus will ich nicht. Aber bei meiner kritischen körperlichen Verfassung bestünden die Sanitäter bestimmt zwangsläufig darauf, mich über Nacht zur Beobachtung stationär dazubehalten. Notaufnahme und auf Intensiv. Zur Regeneration direkt an den Tropf! Kochsalzlösung und Vitamine.

Meine Hoffnung schwindet. Doch ich habe nicht Hunderte Survival- und Ausgesetzt-in-der-Wildnis-Sendungen geschaut, um jetzt einfach so aufzugeben. In einer Notlage kommt es darauf an, einen kühlen Kopf zu bewahren, das Ziel im Auge zu behalten, sich selbst zu motivieren und zu überleben. Das alleine zählt.

Mit letzter Kraft öffne ich das Adressbuch auf meinem Smartphone. Favoriten. Speicherplatz zwei. Es klingelt. Eine Ewigkeit vergeht. Endlich nimmt jemand ab.

»Paolo der Pizza Pimp Lieferservice – und dein Hunger ist geliefert. Hier spricht Sören. Hallo Christian, das Gleiche wie immer?«

Toll, dass Sören gleich weiß, welcher Kunde ihn da gerade anruft. Spitze, diese totale Datenerfassung. Jetzt noch einmal alle Energie bündeln, noch einmal zusammenraffen, gleich ist es geschafft. »Sören, hör zu, das klingt jetzt etwas ungewöhnlich, aber ich hätte bitte gerne eine Pizza Fresh Flavored Freestyle in XXL und eine Fritz-Kola light zur Bushaltestelle Ostseestraße, Pankow. Bitte so schnell es geht.«

»Alles klar, kein Problem.« Sören scheint schon wesentlich ausgefallenere Bestellungen angenommen zu haben. »Christian, sonst noch ein Wunsch?«

»Ja. Könntet ihr mir einen Gefallen tun, und könnte der Fahrer vielleicht einen kleinen Umweg, unten über den Parkeingang zum Weißen See, fahren? Sind nur fünfhundert Meter. Ich stehe da und würde einfach kurz mit zusteigen. Ich bezahle euch auch den Sprit.«

»Für Stammkunden können wir das schon mal machen, Christian. Dein Essen ist etwa in dreißig Minuten bei dir.«

Gerettet. Oh Mann, ich hatte lange nicht mehr so viel Lust auf Pizza.

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Selbst wenn man mit komplett durchgeschwitzten Sportklamotten und – wegen massiver Muskelschmerzen – wie in Slow Motion aus dem Auto eines Pizzaboten steigt, während man gleichzeitig gierig eine dampfende Jumbo-Pizza mit den bloßen Händen in sich hineinschaufelt, ist man häufig nicht die seltsamste Gestalt an einer Berliner Bushaltestelle.

Wie zum Beweis steht an meinem Bushäuschen ein Mann in Nachthemd und Reiterstiefeln und wiederholt in heiserem Singsang, dass er nie wieder Packungsbeilagen lesen wird. Ich glaube ihm. Müde sieht er aus. Erschöpft. Ausgemergelt. Als wäre er in seinem Leben schon sehr viel gejoggt. Sein lichtes Haar klebt ihm in silbernen Fetzen am Kopf. Seine spindeldürren Arme hängen kraftlos nach unten und schlackern bei jeder Bewegung wie knorriges Gummi. Wir nicken uns aufmunternd zu. Schwer zu sagen, wer von uns beiden gerade den schlechteren Eindruck macht.

Gerade neu in die Stadt gezogen, hatte ich mal einen älteren Herren dabei beobachtet, wie er, nur mit einem Kimono bekleidet, Passanten Aktienkurse aus der Wirtschaftswoche vorlas. Man hatte sogar den Eindruck, dass er genau wusste, wovon er sprach. Zwischendurch nahm er immer wieder einen tiefen Schluck aus einer großen gelben Gießkanne, die – wie ein geladenes Maschinengewehr – über seine rechte Schulter hing. Das Seltsamste aber war, dass sich absolut niemand über diesen Typen zu wundern, ja, ihn nicht einmal jemand wirklich weiter zu beachten schien.

Ein anderes Mal, im Winter vor vier Jahren – ich hatte mich gerade noch vor den peitschenden Schneeböen unter das Dach des zugigen Wartehäuschens geflüchtet –, stand plötzlich ein über zwei Meter großer Astronaut neben mir. Im kompletten Anzug. Mit Helm. Ein baumlanger Neil Armstrong. Ich traute meinen Augen nicht. Halloween war lange vorbei, und dass ein Raketenstart von Prenzlauer Berg aus durchgeführt werden sollte, zu dem die Beteiligten noch mit den öffentlichen Verkehrsmitteln anfahren mussten, wäre mir auch neu gewesen. Der Bus kam, der Astronaut streckte dem Fahrer wie selbstverständlich seine Jahreskarte entgegen und setzte sich auf einen freien Platz nahe der hinteren Tür. Fünf Stationen später musste ich aussteigen. Weder einer der anderen Fahrgäste noch der Busfahrer hatten sich in der Zwischenzeit verwundert die Augen gerieben, den Astronauten angesprochen oder heimlich versucht, ein Foto zu machen. Aufblicken, gucken, Schulterzucken. Eine fließende Bewegung der Gleichgültigkeit.

Ich erinnere mich, dass ich mal einem Piraten mit Säbel, Augenklappe und in kompletter Seeräubermontur begegnet bin, der mir im Vorübergehen zuraunte: »Was ist? Ich bin ein ganz normaler Mann aus dem 14. Jahrhundert.« Er wunderte sich über mich, dass ich mich über ihn wunderte. Zu Recht.

Ein Sheriff mit Bierdosen im Pistolenhalfter und einem Einkaufswagen voller Stofftiere. Ein Bergsteiger ohne Hose, dafür mit Sporen an den Kletterstiefeln. Eine Frau mit Poncho und Indianerschmuck, die laut rief: »Alles ist vorbei, Gott hat Burnout!«

In den fünf Jahren, die ich jetzt in Berlin lebe, habe ich etliche komische Vögel gesehen. Manchmal kommt man sich hier tatsächlich vor, als wäre man mitten in das Casting für einen Film von Helge Schneider geraten. Eine Geisterbahn, in der die Besucher so tun, als wären die Geister unsichtbar. Im Grunde sind die Freaks auch nicht viel verrückter als diejenigen, die sie ignorieren. Alle spielen ihre Rolle, mit der sie über die Zeit mehr und mehr verschmelzen. Der Typ im Kimono, der Astronaut, der Pirat, der Sheriff, der Bergsteiger und die Indianerin sind einfach schon ein paar Level weiter.

Die Pizza schmeckt großartig. Knuspriger Boden, direkt aus dem Steinofen. Delikater, saftiger Belag. Hauchdünner Prosciutto cotto, Büffelmozzarella und frisches Basilikum. Richtig italienisch und richtig pikant – obwohl mir die Kraft fehlt, ein Foto für Instagram zu machen. Mein Bus kommt in zwei Minuten. Eigentlich perfektes Timing, aber mit dem Essen wird es etwas knapp.

»Möchten Sie ein Stück?« Ich halte dem Reiterstiefelmann den offenen Pizzakarton hin. Er zuckt zusammen. Gegenseitiges Zunicken scheint okay zu sein, meine Frage und die drohende Konversation aber überfordern ihn. Seine Augen verengen sich zuerst zu misstrauischen Schlitzen, weiten sich dann jedoch vor Gier. Noch zögert er und beäugt mich argwöhnisch.

»Nehmen Sie ruhig«, ermutige ich ihn auf ein Neues. »Ich schaffe das in den zwei Minuten eh nicht mehr. Und ich will mir auch nicht direkt wieder alles drauffuttern, was ich eben mühsam an Kalorien verjoggt habe. Im Bus lässt der Fahrer mich ohnehin niemals essen.« Der Reiterstiefelmann traut mir nicht. Keinen Meter.

»Die ist wirklich gut. Und ich will von Ihnen auch kein Geld, falls das das Problem sein sollte. Sie können sich gerne bedienen und mitessen.« Keine Reaktion. Er sieht jetzt wie durch mich hindurch. Sicher hält er mich für verrückt.

Mein Bus kommt, und Nachthemd-Ludger-Beerbaum macht keinerlei Anstalten, mitfahren zu wollen. Gut möglich, dass er in der Bushaltestelle wohnt. Es muss einen auch wahnsinnig machen, wenn einem ständig ein Bus durch das Wohnzimmer fährt.

»Passen Sie auf: Ich lege Ihnen den Karton hier auf die Bank. Sollten Sie Hunger haben, greifen Sie einfach zu. Die ist sogar noch heiß.«

Ich steige ein. Der Busfahrer sieht mich abschätzig an. Sicher hat er Angst, dass ich ihm die Sitze vollschwitze. Als ob das in irgendeinem Fahrzeug der BVG noch einen Unterschied machen würde. In den meisten Bussen und Bahnen hier kann man froh sein, wenn man sich nicht einen Pilz, Ausschlag oder Schlimmeres einfängt. Auch irgendwie logisch, wenn sich alle immer und überall mit dreckigen Händen, verschwitzt und ungeduscht hinlungern. Ein Putzteufelskreis.

»Einmal einfach«, sage ich und strecke dem Fahrer – einem breitschultrigen Berliner Original mit Ziegenbart und verspiegelter Magnum-Sonnenbrille – einen Fünfeuroschein entgegen, was bei diesem auf wenig Begeisterung zu stoßen scheint.

»Hamse dit nicht passend? Immer diese Kacke!«, raunzt er mich an.

»Nächstes Mal fahr ich schwarz, Sie Vollpfosten!« Zwischen dem Busfahrer und mir menschelt es. Der ganz normale Umgangston. Berliner, Schnauze! Missmutig zählt er mir mein Wechselgeld ab: »Eeeensfuffzich, zweeeefuffzich, vier, fünf …«

»Dreihundertsiebenundzwanzig, vierhundertachtundsiebzig, achthundertsechsundzwanzigtausenddreihundertvierundvierzig …« Egal, wie erwachsen man ist, wenn jemand versucht, etwas zusammenzuzählen, ruft man laut andere Zahlen dazwischen. Der Busfahrer grunzt wütend, lässt sich aber nicht beirren und gibt mir mein Restgeld auf den Cent passend. Alles Routine.

»Du hältst dir wohl für superwitzig, wa? Gleech kannste looofen!« Er sitzt am längeren Hebel. Das weiß er. Deshalb duzt er mich. Weil er kann.

»Kann ich leider nicht mehr«, gebe ich kleinlaut zurück, stecke die Münzen ein und setze mich auf den nächsten freien Sitz neben eine Frau, etwa in meinem Alter, die genervt von ihrem Sitz am Gang auf den Platz am Fenster rückt. Angespannt streicht sie sich eine Strähne ihrer einen Tick zu schwarz gefärbten Haare aus der vom Selbstbräuner fleckigen Stirn. Es scheint für sie nichts Rücksichtsloseres zu geben, als dass jemand nicht bemerkt, dass sie den Platz außen für sich und den Fensterplatz für ihre Handtasche benötigt. Aus ihren pinken Skullcandy-Kopfhörern schallt blechern irgendein Sommerhit von Fritz oder Paul Kalkbrenner, der sich klanglich kaum vom ständig quäkenden WhatsApp-Ton ihres Smartphones mit Playboy-Schutzhülle unterscheidet. Ich schaue an ihr vorbei aus dem Fenster und sehe, wie der Reiterstiefelmann gerade glücklich das letzte Stück Pizza in sich hineinstopft. Auch er sieht mich, winkt und lächelt dabei breit über das hohlwangige Gesicht. Sein papierdünnes Nachthemd flattert in der lauen Sommerbrise. Es scheint hinten offen zu sein. Ich winke zurück. Meine Sitznachbarin legt den Kopf schief und funkelt mich so böse an, dass ich einen Moment Angst habe, ihr Permanent Make-up könnte zerspringen. Die kahlen Stellen, an denen früher einmal ihre Augenbrauen gewesen sein müssen, runzeln sich wie bedrohlich gereizte Nacktraupen. Ihre Nasenflügel beben ablehnend, was ihren silbernen Kristallnasenstecker wie ein undichtes Ventil wirken lässt. Erst jetzt fällt mir auf, dass sie meinen neuen Bekannten beobachtet hat. Ihren Mund umspielt eine Mischung aus Verachtung und Ekel. Sie mustert mich und meinen Aufzug und hackt dann wütend auf das Display ihres Smartphones ein, das der Wucht ihrer aufgeklebten French Nails gerade noch so standhalten kann. Tastenton-Maschinengewehr. Endlich fährt der Bus an.

Nach meinem Lauf immer noch nicht ganz bei Kräften, stolpere ich leicht, als ich von meinem Platz aufstehe und in den hinteren Teil des Busses hinke. Ich stoße dabei ein verächtliches »Pffffffff« aus, genau so laut, dass Smartphone-Susi es zwischen zwei Kalkbrenner-Hits gehört haben muss.

Ich hoffe, sie überlegt jetzt, warum in aller Welt ich mich von ihr weggesetzt habe und was denn wohl bitte mit ihr nicht stimmen könnte.

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Keine Enttäuschung ist größer, als sich eine Fahrkarte zu kaufen und nicht kontrolliert zu werden. Deshalb versuche ich möglichst häufig schwarzzufahren. Reiner Selbstschutz. Ich kann mit Enttäuschungen nicht so gut umgehen, und ich will mich nicht jedes Mal über mich selbst ärgern müssen, wenn ich der BVG und der Deutschen Bahn wieder gutes Geld in den weit aufgerissenen Rachen geworfen habe, ohne dass es sich für mich dann wenigstens gelohnt hätte. Außerdem fallen hier die U-Bahnen, Straßenbahnen und Trams so häufig aus oder verspäten sich, da würde ich mich nur doppelt aufregen, würde ich dafür auch noch mein hart verdientes Geld ausgeben. Das ist mir zu riskant. So kann die Bahn kommen, wann sie will. Ich bezahle nicht und beschwere mich ebenso wenig. Eine Win-win-Situation.

Sich beim Schwarzfahren erwischen zu lassen kostet in Berlin neuerdings 60 Euro. Eine einfache Fahrt liegt aktuell bei schlanken 2,70 Euro. Man muss jetzt nicht unbedingt Rechnungswesen studiert haben, um abschätzen zu können, dass sich das Ganze lohnt, wenn man davon ausgeht, dass man nicht einmal jede zwanzigste Fahrt kontrolliert wird.

Bei Bussen sieht das leider etwas anders aus. Wer mitfahren will, steigt vorne ein. Das ist ungeschriebenes Gesetz. Das gilt ausnahmslos für jeden. Selbst der Kaiser von China müsste sich brav in die Schlange stellen und vorne – direkt unter den wachsamen Augen des Fahrers – einsteigen. Und wehe ihm, er könnte das Ticket nicht passend zahlen, würde zu lange nach den Münzen kramen oder käme auf die wahnwitzige Idee, zu fragen, ob der Bus denn auch über eine bestimmte Haltestelle fahre. Diplomatenstatus hin oder her. Auch er würde angemotzt und angemault werden. Im wahrsten Sinne des Wortes würde ihm über den Mund gefahren – oder Schlimmeres. Eine internationale Krise wäre vorprogrammiert, und am Ende würden alle Staatsmänner des Reiches der Mitte und der Kaiser selbst zu Kreuze kriechen und sich demütig bei dem Busfahrer entschuldigen. Aber nur, wenn dieser kurz an der Haltestelle stehen bleibt. Auf keinen Fall während der Fahrt mit dem Fahrer sprechen, wenn man nicht gerade lebensmüde ist!

Will man sich für die Busfahrt das Beförderungsgeld sparen, gibt es nur die Möglichkeit, mit einer gefälschten Jahreskarte am Bus-Zerberus vorbeizuhuschen und zu hoffen, dass dieser nicht stutzig wird und genauer nachsieht. Doch das ist reines Glücksspiel. Bussisches Roulette. All in, alles auf Schwarz! Und meistens traue ich mich das nicht. Man hat schon von Busfahrern gehört, die in solchen Fällen, ohne zu zögern, von einer scharfen, unter dem Sitz platzierten Schusswaffe Gebrauch gemacht haben und nach Feierabend eine üppige Bonusprämie erhielten. Voll ins Schwarze getroffen. Dreizehntes Monatsgehalt, Weihnachtsgeld, Kopfgeld! Nur ein toter Schwarzfahrer ist ein guter Schwarzfahrer.

Vom Weißen See bis zu mir nach Hause sind es gerade mal sieben Stationen. Etwa 15 Minuten Fahrt. Unwahrscheinlich, dass ich auf diesem kurzen Stück jetzt noch kontrolliert werde. Schade. Aber ich versuche, die Situation positiv zu betrachten. Generell fährt es sich mit Fahrkarte ja auch wesentlich entspannter. Kontrolleure undercover erkennt man zwar sehr einfach an ihrer verkrampften Art und dem Bemühen, wie normale Fahrgäste und auf keinen Fall wie Kontrolleure zu wirken, was einem bei der Flucht vor der Kontrolle einen gewissen Vorteil verschafft, manchmal entkommt man den Schergen der Öffentlichen aber dennoch nicht. Natürlich kann man Vorsichtsmaßnahmen treffen: Man kann sich mit einem menschlichen Wall aus anderen potenziellen Schwarzfahrern umgeben – ich habe da viel aus Zombiefilmen gelernt. Man kann sich zusätzlich sprungbereit in der Nähe der mittleren Bus- oder Waggontür aufhalten, und man kann sich schon mal einige ausgeklügelte Ausreden zurechtlegen. Aber Vorbereitungen dieser Art bedeuten eben auch Stress. Man ist ständig angespannt, immer auf der Hut und in Alarmbereitschaft. Mit gültigem Ticket reist es sich entschieden relaxter. Man hat Zeit, sich die Menschen und die Gegend anzuschauen, Musik zu hören oder Gesprächen zu lauschen. Der Weg ist das Ziel, und seien es nur sieben Haltestellen.

Ich habe mal gelesen, dass die Menschen, die einen Großteil ihres Geldes in Reisen investieren, im Vergleich glücklicher sind. Reisen befreit den Kopf, regeneriert den Körper, erweitert den Horizont, und das Erlebte schafft die fantastischsten Erinnerungen. Insofern habe ich gerade das Gefühl, mit meinen 2,70 Euro alles richtig gemacht zu haben. Ich glaube, mein Körper fängt bereits mit der Regeneration an. Ich spüre förmlich, wie mein Horizont sich weitet. Ich werde diese Fahrt in guter Erinnerung behalten – solange ich in Ruhe gelassen werde.

Ein Bus, zwanzig Fahrgäste, vierzig Sprachen. Und in keiner möchte ich mich mit irgendjemandem unterhalten. Neben meiner Muttersprache Deutsch spreche ich ganz gut Englisch und ein kleines bisschen schlecht Französisch. Den Satz »Entschuldigen Sie, Sie sind sicher nett, aber ich möchte mich jetzt gerade nicht mit Ihnen unterhalten« beherrsche ich inzwischen in über einem Dutzend Fremdsprachen und unzähligen Dialekten.

Auch setze ich mich nach Möglichkeit immer in die Nähe eines Notfallhammers, um die Scheibe einschlagen zu können, falls jemand ein Gespräch mit mir anfängt. Um in solch einem Notfall bei voller Fahrt durch das eingeschlagene Fenster springen zu können, ohne schlimmere Verletzungen zu riskieren, übe ich zu Hause täglich Judorollen. Sicher ist sicher. Zumal ich regelmäßig meine Kopfhörer vergesse, was einige Menschen als klare Aufforderung verstehen, mich in ein Gespräch zu verwickeln.

Heute allerdings scheine ich Glück zu haben. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass ich beim Joggen meine Boxershorts, meine Trainingshose, mein Unterhemd und mein T-Shirt komplett durchgeschwitzt habe. Und Handtuch habe ich leider keines dabei. Oder Deo. In der Dusche war ich heute auch noch nicht. Ist ja auch Quatsch, vor dem Sport. Wasserverschwendung. Und für die Haut ist das auch nicht gut.

Jedenfalls genieße ich es gerade, einen kompletten Vierersitz für mich zu haben. Wenn ich jetzt noch die Schuhe ausziehe, habe ich den ganzen Bus für mich alleine. Allerdings müsste ich ihn dann wohl auch fahren. Und eventuell einige Menschen wiederbeleben. Das will ich niemandem antun.

Noch drei Haltestellen. Eine Gruppe Teenager steigt ein und setzt sich auf die Sitze direkt hinter mir. Zwei Jungs, zwei Mädels, alle ungefähr gleich alt und wohl in derselben Klasse – zumindest schließe ich das daraus, dass einhellig laut die Meinung in der Clique kundgetan wird, dass die Mathelehrerin Henfler »eine dumme Bitch« sei, weil sie »Kevin-Neven« im Unterricht das iPhone abgenommen habe, obwohl der doch lediglich – und »sogar mit Headphones« – Musik gehört habe. Sicher Klassik.

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Dafür scheinen die Mädchen genau in dem Alter zu sein, in dem es nichts Wichtigeres gibt als Schmink-Tutorials und Gratis-Parfümproben von Douglas. Ein bisschen habe ich Angst, dass die Schmächtigere von ihnen mit dem Kopf vornüberkippt, weil ihr Nacken die vier Kilo Schminke im Gesicht nicht mehr halten kann. Mit den abrasierten und wieder aufgemalten Augenbrauen und dem verzogenen Lippenstift erinnert sie mich ein bisschen an die Maske der politischen Netz-Bewegung »Anonymous«. Smartphone-Susi in Miniversion. Irgendetwas hat sie falsch verstanden. Oder sie hat sich im Dunkeln geschminkt. Im Handstand, mit einem Arm auf den Rücken gebunden. Und warum Mädels in dem Alter in Parfüm regelrecht baden, werde ich sicher auch nie kapieren. Vielleicht ist der Geruchssinn bei Teenagern einfach noch nicht so weit ausgebildet. So etwas kann ja auch von Vorteil sein.

Im Bus sind wir inzwischen kurz vor Gasalarm.

Noch eine Haltestelle. Gleich zu Hause. Ich kann es nicht erwarten, an die frische Luft zu kommen. Mir tut der Busfahrer leid. Aber der musste wenigstens nicht für eine Fahrkarte bezahlen. Die anderen Fahrgäste haben sicher längst beschlossen, das nächste Mal schwarzzufahren.

Ich sehe, wie einige von ihnen nach dem Notfallhammer schielen.