Cover

Karen Rose

Schsch!

Ein Winterthriller

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Karen Rose

Karen Rose studierte an der Universität von Maryland, Washington, D. C. Ihre hochspannenden Thriller sind preisgekrönte internationale Topseller, die in viele verschiedene Sprachen übersetzt worden sind. Auch in Deutschland feierte die Bestsellerautorin große Erfolge. »Todesstoß« stand auf Platz 1 der SPIEGEL-Bestsellerliste. Wenn Karen Rose nicht gerade Thriller schreibt oder auf Weltreise ist, lebt sie mit ihrem Mann und ihren zwei Töchtern in Florida. Mehr Infos über die Autorin unter: www.karenrosebooks.com

Impressum

eBook-Ausgabe 2013

Knaur eBook

© 2013 Droemer Verlag

Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Redaktion: Johannes Engelke

Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Umschlagabbildung: FinePic®, München

ISBN 978-3-426-43139-9

Hinweise des Verlags

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Baltimore, Montag, 23. Dezember, 11.00 Uhr

Reden, immer reden. Lasst mich doch in Ruhe. Alle Leute, die in ihr Zimmer kamen, redeten auf sie ein, aber Lana sprach nicht. Denn sie wusste, was geschehen würde, falls sie den Mund aufmachte.

Sie war nicht sicher, wie lange sie schon hier war. Ihr Kopf tat weh. Das Denken fiel ihr schwer.

Und das hauptsächlich, weil alle Leute ständig redeten. Diesmal waren es der Arzt und die Frau, die keine Krankenschwester war. Sie hieß Heidi. Sie strich Lana über das Haar, legte die Hand an ihre Wange und lächelte. Wie Lanas Mama es immer getan hatte. Bevor sie krank wurde.

Dass der Mann ein Arzt war, wusste sie, weil er einen weißen Kittel trug und immer das Ding dabeihatte, mit dem er nach ihrem Herzen hörte. Das Stethoskop. Er hatte es ihr hingehalten und ganz langsam »Ste-thos-kop« gesagt, als sei sie zu doof, um zu kapieren. Aber ich bin nicht doof. Gar nicht. Ich weiß schon eine Menge.

Ihren Namen zum Beispiel. Ihren Geburtstag. Bald wurde sie sieben. Sie wusste, dass sie in den Vereinigten Staaten war. Und in einem Krankenhaus. Und dass ihre Hände gefroren gewesen waren. Lana blickte auf die dicken Verbände. Ihre Hände taten immer noch weh, aber nicht mehr so schlimm wie vorher.

Lana wusste, dass sie eine Schwester hatte. Und keine Mutter. Nicht mehr jedenfalls. Auch keinen Papa. Papa, Mama. Bitte kommt wieder. Lasst mich nicht hier allein!

Aber sie wusste ebenso, dass sie nie wiederkommen würden. Weil sie tot waren.

Am liebsten hätte sie geweint, aber sie traute sich nicht. Die Pflegerin war hier. Die Pflegerin war immer hier. Sie zog sich nicht mehr an wie eine Pflegerin, aber sie war hier. Schschsch. Die Pflegerin ging immer ganz, ganz langsam am Fenster vorbei und legte den Finger auf ihre Lippen. Sei schön still, Lana. Sag nichts. Du weißt ja, was ich sonst tue.

Lana wusste genau, was sie sonst täte. Sie wusste ja auch, was sie schon getan hatte.

Der Arzt und die Frau redeten weiter und weiter, doch Lana versuchte, sie nicht wahrzunehmen. Bitte geht doch. Sie glaubten, dass sie nicht sprechen konnte, aber das stimmte nicht. Lana konnte sprechen. Sie hätte sie so gerne angefleht, ihr zu helfen, aber das ging nicht. Wegen der Pflegerin.

Oh, nein. Nein. Lanas Herz begann zu rasen. Sie ist wieder da. Die Pflegerin stand vor dem großen Fenster draußen im Flur und hielt das Baby auf dem Arm. Lanas Schwester. Das Baby wusste noch nicht, dass die Pflegerin böse war. Es wusste nichts von Mama und Papa. Es war doch noch so klein.

Die Pflegerin blieb im Türrahmen stehen und strich dem Baby leicht mit den Fingern über das zarte blonde Haar. Dann legte sie einen Finger an die Lippen und sah Lana warnend an. Mama hatte geglaubt, dass die Pflegerin ein guter Mensch war, aber Mama hatte sich geirrt.

Und nun wusste Lana nicht, was sie tun sollte. Sie wusste nur, dass sie kein Wort sagen durfte, weil ihre kleine Schwester sonst sterben würde. Das hatte die Pflegerin ihr gesagt. Und Lana glaubte ihr.

»Schätzchen?« Heidi ging neben ihrem Bett in die Hocke und hielt ihr Kleider hin. Eine Hose und einen Pulli. Schuhe und einen neuen Mantel. In Kindergröße. Die Sachen sind für mich.

Wo ist mein Mantel? Dieser Mantel war hässlich braun. Lanas Mantel war schneeweiß und aus echtem Fuchspelz gewesen. Sie und Mama hatten ihn ausgesucht, bevor sie von zu Hause weggegangen waren. Ich möchte wieder nach Hause. Bitte, Mama, ich möchte nach Hause.

Heidi hielt ihr den Pulli mit einem aufmunternden Lächeln hin. Lana nickte, und Heidi zog ihr das Krankenhausoberteil aus und das neue an, und endlich verstand Lana. Sie würden gehen.

Wieder begann ihr Herz, schneller zu schlagen. Vielleicht weiß die Pflegerin nicht, dass ich weggehe. Dann kann ich es sagen. Dann kommt jemand und hilft mir. Doch als sie aufblickte, sank ihr der Mut. Die Pflegerin stand noch immer am Fenster. Sie verengte die Augen und schüttelte ganz leicht den Kopf, während sie dem Baby über das Haar strich.

Lana nickte. Sie hatte verstanden. Sie würde nichts sagen.

Montag, 23. Dezember, 11.50 Uhr

Es tat gut, wieder hier zu sein. Schön, wieder hier zu sein.

Ungefähr zehnmal hatte Assistant States’s Attorney Daphne Montgomery diese Worte in der vergangenen Viertelstunde gesagt – die Zeitspanne, die sie gebraucht hatte, um die Eingangshalle der Polizeizentrale von Baltimore zu durchqueren, mit dem Aufzug hinaufzufahren und durch den Flur zur Mordabteilung zu gehen.

Normalerweise brauchte sie nur halb so lange. Aber schließlich hielt man sie normalerweise auch nicht alle paar Meter an, um ihr zu sagen, wie schön es war, sie wieder hier zu sehen. Was natürlich auch daran lag, dass sie nie zuvor weg gewesen war. Seit sie bei der Staatsanwaltschaft angefangen hatte, hatte sie sich nur selten freigenommen, und wenn, dann immer nur für wenige Tage. Zwei Wochen hatte sie noch nie gefehlt.

Wenigstens hatte niemand nach Einzelheiten gefragt. Oder ihr sein Beileid ausgesprochen. Sie war sich nicht sicher, ob sie solche Gespräche am heutigen Tag verkraften konnte.

Die Verbrechen, die vor drei Wochen aufgedeckt worden waren … Daphne wollte die Fotos, die sie gefunden hatten, nie wieder ansehen müssen. Nicht, dass es nötig gewesen wäre. Die verängstigten, gepeinigten Gesichter der Opfer hatten sich in ihr Bewusstsein gebrannt. Zwei Dutzend Tote in anonymen Gräbern. Ermordet und achtlos hinter einer Hütte in den Bergen West Virginias verscharrt. Es tut mir so leid.

Eine Leiche war darunter gewesen, die der Mörder nicht fotografiert hatte, aber auch von diesem Menschen brauchte sie kein Bild, um sich an sein Gesicht zu erinnern. Sie trauerte um ihn, um das gebrochene Herz ihrer Mutter. Sie trauerte um das Leben, das sie drei gemeinsam hätten führen sollen. Ach, Daddy, verzeih mir.

Aber sie war nicht schuld. Sie war noch ein Kind gewesen. Und selbst ein Opfer. Das wusste sie, zumindest wusste ihr Verstand es. Es war ihr dummes Herz, das sich damit schwertun wollte, es genau so zu sehen.

»Daphne? Alles okay?«

Sie blinzelte und bemerkte erst jetzt, dass sie vor der Doppeltür der Mordabteilung stand und krampfhaft den Türknauf umklammerte. Sie brachte ein heiteres Lächeln zustande, blickte auf und sah J. D. Fitzpatrick, der durch eine andere Tür getreten war und nun mit besorgtem Blick auf sie zukam.

»Ja, danke, alles klar.« J.D. war nicht nur ein Kollege, sondern auch ein Freund. Ein Freund, der sofort erkannte, dass sie ihn frech anlog, dem sie aber zu sehr am Herzen lag, als dass er sie darauf angesprochen hätte. »Wie geht’s Lucy und dem Baby?«, fragte sie, um das Thema zu wechseln, und ihr wurde warm ums Herz, als sein Gesicht vor Glück erstrahlte.

»Beiden ganz großartig. Wär schön, wenn der Kleine etwas mehr schliefe, aber sonst ist er toll.«

Jetzt war ihr Lächeln echt. »Glaub mir, ehe du dichs versiehst, ist er ein Teenager, der nicht vor Mittag aus den Federn steigt. Es kommt mir vor, als sei Ford gestern noch Kleinkind gewesen.« Jetzt war ihr Sohn zwanzig. Und am Leben. Sie durfte nicht daran denken, wie knapp es gewesen war. Fast hätte sie ihn verloren.

»Hör bloß auf. Ich finde, Jeremiah wächst schon jetzt viel zu schnell. Mach ihn bitte nicht schon zum Jugendlichen.« J.D. blickte auf die Uhr und zog eine Grimasse. »Ich muss los, tut mir leid. Stevie wird gleich aus dem Krankenhaus entlassen, und ich bringe sie nach Hause.«

Daphnes Herz wurde leichter. »Oh, Gott, bin ich froh.« Detective Stevie Mazzetti war eines der Opfer der Gewalttaten gewesen, die ihr Leben für immer verändert hatten, und ihre Genesung war ein Grund zum Feiern für alle, die ihr nahestanden. Aber für Daphne bedeutete es noch mehr. Stevie war angeschossen worden, als sie Daphne das Leben gerettet hatte, und das war eine Schuld, die Daphne niemals würde begleichen können. Und dass Stevie das auch niemals erwarten würde, machte die Tat umso bedeutungsvoller. »Sag ihr, dass ich ihr Muffins vorbeibringe, wenn sie ein bisschen zur Ruhe gekommen ist.«

»Das wird sie freuen.« J.D.s Blick wurde berechnend. »Lucy mag auch Muffins, wusstest du das? Ich meine, du könntest ja mal vorbeikommen, dir das Baby ansehen und ihr welche mitbringen. Und dann machst du einfach gleich ein paar mehr für mich mit.«

Sie lachte und klapste ihm auf den Arm. »Hau ab und sag deiner Frau, dass ich euch bald besuchen komme.«

»Mach ich. Und da du jetzt wieder da bist, muss ich ein, zwei Fälle mit dir abstimmen. Bis später.« Und schon ging er davon und auf den Fahrstuhl zu, bevor sie ihm noch sagen konnte, dass sie nicht wirklich wieder da war. Noch nicht.

Sie holte tief Luft, um sich Mut zu machen, und stieß die Türen zur Abteilung Gewaltverbrechen auf. Wie immer herrschte höchste Betriebsamkeit. Nachdem sie ein paar weitere Male »Schön, wieder hier zu sein« gesagt hatte, erreichte sie die Ecke des Großraumbüros, die für das VCET reserviert war – das Violent Crimes Enforcement Team.

Das VCETFBI