Inhalt

Titel

Widmung

Kapitel eins – Zurück

Kapitel zwei – Pläne

Kapitel drei – Blut

Kapitel vier – Rätsel

Kapitel fünf – Neue Gefahren

Kapitel sechs – Antworten

Kapitel sieben – Ertappt

Kapitel acht – Eingesperrt

Kapitel neun – Flüchtling

Kapitel zehn – Aufbruch

Kapitel elf – Maulwurf

Kapitel zwölf – Halbwahrheiten

Kapitel dreizehn – Allein

Kapitel vierzehn – Psycho

Kapitel fünfzehn – Insider

Kapitel sechzehn – Das Institut

Kapitel siebzehn – Infiltration

Kapitel achtzehn – Festgesetzt

Kapitel neunzehn – Vergebliche Flucht

Kapitel zwanzig – Ausgeliefert

Kapitel einundzwanzig – Ende gut?

Epilog

Danksagungen

Über die Autorin

Impressum

Cover

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Für Conny, meine tatkräftige Muse

Kapitel eins

Zurück

Robins Mutter hatte verboten gute Laune, als sie das Auto die Auffahrt der Daniel-Nathans-Akademie hinauf lenkte. Als könnte sie es nicht erwarten, uns endlich los zu werden. Rica saß auf dem Rücksitz und starrte aus dem Fenster. Sie fühlte sich fatal an den Tag im letzten September erinnert, an dem sie zum ersten Mal an diese Schule gekommen war. Auch wenn sie dieses Mal wusste, was sie erwartete, fühlte sie sich nicht besser.

»Ihr seid sicher erleichtert, wenn ihr wieder unter euch seid«, zwitscherte Frau Wittich in dem übertrieben hohen Tonfall, den sie die ganze Woche über angeschlagen hatte. Rica wusste immer noch nicht, wie sie darauf reagieren sollte, aber er ging ihr dermaßen auf die Nerven, dass sie tatsächlich froh war, wieder zur Schule zurückzukehren. Sie wünschte, sie könnte ein paar Worte mit Robin wechseln, doch der saß vorne neben seiner Mutter und starrte ebenfalls aus dem Fenster.

Die Woche bei den Wittichs hatte Entspannung sein sollen. Rica hatte sich darauf gefreut, ein paar Tage nur mit Robin verbringen zu können. Über all das nachdenken, was passiert war. Neue Energie tanken. Und nicht zuletzt wollte sie Robin mal ganz für sich allein haben. Ohne andere Schüler, ohne nervtötende Lehrer, ja sogar ohne ihre beste Freundin um sich.

Aber der Plan war gründlich fehlgeschlagen. Nicht nur, dass Simon am ersten Tag am laufenden Band rumgenervt hatte, nein, die ganze Zeit war Frau Wittich um Rica und Robin herumgewuselt und hatte sie behandelt, als wären sie das nächste königliche Ehepaar. Kaum eine Minute hatten sie miteinander allein sein können. Und dabei hatte Rica nicht mal das Gefühl, dass Robins Mutter sie besonders mochte. Wenn sie glaubte, dass Rica nicht aufpasste, warf sie ihr immer wieder höchst skeptische Blicke zu.

Ich bin nicht gut genug für ihren Sohn, das ist klar. Und dass ich ihr liebes Schätzchen Simon in Schwierigkeiten gebracht habe, macht es nicht besser.

Robins kleiner Bruder Simon war am zweiten Tag gemeinsam mit ihrem Vater zu einem »Spezialisten« gefahren, und danach nicht wieder aufgetaucht. Rica hatte das Gefühl, dass Frau Wittich ihr die Schuld daran gab.

Alles in allem war es nicht gerade der Urlaub gewesen, den Rica sich gewünscht hatte, und so war es ihr auch nicht gelungen, ihre Gedanken zu ordnen.

»Ah, da sind wir schon«, sagte Frau Wittich. Sie lenkte den Wagen um die letzte Kurve und hielt nur kurz an, um darauf zu warten, dass das Tor zurückgerollt wurde. Rica hatte das starke Bedürfnis, einfach aus dem Wagen zu springen und davonzulaufen.

Wenn ich erst einmal wieder hier drin bin, lassen sie mich vielleicht nicht mehr fort.

Robin auf dem Vordersitz drehte sich um und schüttelte beinah unmerklich den Kopf. Rica konnte seine Stimme fast hören: »Alles wird gut. Mach dir keine Gedanken.« Das war die ganze Woche über sein Mantra gewesen. Rica wusste, dass er es gut meinte, aber allmählich konnte sie es nicht mehr hören. Dennoch schenkte sie Robin ein schwaches Lächeln. Sofort runzelte er die Stirn. Er kannte sie zu gut und wusste, wenn sie ihm etwas vorspielte. Rica verdrehte die Augen und winkte ab. Sie konnten später darüber reden.

Kies knirschte unter den Reifen des Autos, als Frau Wittich es schwungvoll in Richtung der Schülerunterkünfte lenkte und auf dem Parkplatz anhielt. Im nächsten Augenblick war sie auch schon draußen und begann, Gepäck auszuladen.

Vermutlich hat sie nicht vor, mich bis vor die Haustür zu bringen. Mit steifen Beinen kletterte Rica aus dem Auto, und streckte sich. Die Fahrt war lang gewesen. Sie hätte es vorgezogen, mit der Bahn zu fahren, doch Robins Mutter hatte darauf bestanden, sie den ganzen Weg im Auto zu bringen. Rica hatte das Gefühl, ihre Gelenke müssten quietschen und knacken. Sie dehnte sich und blinzelte ins Sonnenlicht, das nach der langen Fahrt mit getönten Scheiben schrecklich grell wirkte.

Das Schulgelände lag friedlich da. Sonntagnachmittag war die Zeit, die die meisten Schüler dazu nutzten, ihre eigenen Wege zu gehen, und selbst der Park war verwaist. Die Stille ließ die Umgebung nur noch unheimlicher wirken, und obwohl die Sonne schien, schauderte Rica.

»Alles klar?«

Rica zuckte zusammen, als sich eine Hand auf ihre Schulter legte, aber natürlich war es nur Robin.

Sie zuckte mit den Schultern und warf einen bedeutsamen Blick zu seiner Mutter hinüber, die begonnen hatte, Reisetaschen in Richtung Eingang zu schleppen.

»Ich hätte nur gedacht, dass hier vielleicht eine Art Empfangskomitee auf uns warten würde«, murmelte sie halblaut. »Ich meine, nach der Geschichte in der Skihütte. Aber das scheint hier niemanden zu interessieren.«

»Sei doch froh!«, flüsterte er zurück.

»Bin ich ja. Seltsam ist es trotzdem.«

Robin legte ihr den Arm um die Schultern und zog sie ein Stück zu sich heran. »Du bist nur so nervös, weil du dir den ganzen Urlaub über Gedanken gemacht hast. Vermutlich hast du geglaubt, die denken auch an nichts anderes. Aber vielleicht ist das gar nicht so. Vielleicht sind sie gar nicht so scharf darauf, dich zum Schweigen zu bringen.«

Vielleicht bin ich auch einfach nicht wichtig genug, um ernstgenommen zu werden, dachte Rica mit einem lächerlichen Anflug von Bitterkeit. Robin hatte recht: Sie sollte froh sein, dass sich keiner um sie kümmerte.

»Dafür finde ich es aber schon ziemlich merkwürdig, dass sie zweimal versucht haben, mich auszuschalten«, grummelte sie. »Erst Andrea und dann dieser Patrick.«

Robin zuckte mit den Schultern. »Andrea war ein bisschen durchgeknallt«, gab er zurück. »Und der andere Kerl war ein Psychopath.«

Nein, er hat nur so getan. Rica hütete sich davor, den Gedanken laut auszusprechen. Manchmal kam es ihr so vor, als würde Robin am liebsten den ganzen Skiurlaub, und was dabei passiert war, vergessen. Kein Wunder, immerhin war sein kleiner Bruder für einen Großteil der unheimlichen Vorfälle verantwortlich gewesen. Und so wütend Robin auch auf ihn war, offensichtlich wog die Tatsache, dass Simon sein Bruder war, immer noch schwerer.

Rica wusste allerdings auch, dass es sinnlos war, ihn darauf anzusprechen. Am besten ging man dem Thema weitläufig aus dem Weg, bis er bereit war, darüber zu reden. Rica wollte ihn nicht hetzen. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie sehr er unter der Vorstellung leiden musste, dass sein kleiner Bruder beinah für ihren Tod verantwortlich gewesen wäre. Sie musste ihm Zeit geben, das alles zu verarbeiten. Und überhaupt: Vielleicht war es ja auch besser, sich eine Scheibe von seiner Gelassenheit abzuschneiden. So drückte sie nur kurz ihr Gesicht an seine Schulter und atmete seinen warmen Geruch ein.

»Ich mache mich dann mal auf den Weg!«, zwitscherte Robins Mutter direkt neben Ricas Ohr, und Rica zuckte zusammen. Robin löste seine Umarmung und schenkte seiner Mutter einen ärgerlichen Blick.

»Verschwinde schon«, murmelte er, allerdings so leise, dass nur Rica es hören konnte. Sie musste grinsen. Mit voller Absicht schlang sie noch einmal die Arme um Robins Hals und küsste ihn direkt auf den Mund, noch bevor sich seine Mutter ganz abgewendet hatte. Den ärgerlichen Blick hätte sie gern für die Ewigkeit festgehalten.

»Ich mache mich mal auf zu meiner Ma«, sagte sie und löste sich widerstrebend von Robin.

Auf einmal schien der Urlaub, der ihr eben noch so verpatzt vorgekommen war, die letzte Zeit des Friedens gewesen zu sein, eine Atempause vor dem großen Sturm. Und ich habe ihn damit verbracht, mich über Frau Wittich aufzuregen, dachte Rica ärgerlich und drückte Robin zum dritten Mal so fest, dass ihm fast die Luft wegblieb. Dann wandte sie sich ab, schnappte sich ihren Rucksack und rannte zu dem Weg, der nach Hause führte. »Ich hole den restlichen Kram nachher ab«, rief sie über ihre Schulter zurück. »Lass ihn einfach in der Einganghalle stehen. Wird schon nichts wegkommen.«

An der Mündung des Fußpfades drehte sie sich noch mal um. Robin stand immer noch da und sah ihr hinterher. Für einen Augenblick hatte sie das starke Bedürfnis, wieder zu ihm zu laufen und sich in seine Arme zu werfen. Wieder war da das Gefühl, dass ihre ruhigen Stunden gezählt waren. Stattdessen winkte sie nur noch einmal, und wandte sich endgültig ab.

Der Pfad verlief im Schatten einer Hecke. Da die Sonne bereits unterging, warfen die Zweige unruhige Schatten auf den Kies vor Ricas Füßen. An den Ästen begann sich gerade das erste Grün des Jahres zu zeigen, und ein frischer, süßer Duft hing in der Luft. Ein Stück entfernt zwitscherten ein paar Meisen in den Zweigen, aber sonst war alles ruhig. Menschenleer. Als seien die Schüler der Daniel-Nathans-Akademie von einem Tag auf den anderen alle verschwunden. Ricas Herz schlug unwillkürlich schneller, und sie warf immer wieder einen Blick über ihre Schulter. Dieser dämliche Skiurlaub hatte sie mit einer gründlichen Paranoia zurückgelassen. Jeden Moment rechnete sie damit, überfallen zu werden.

Reiß dich zusammen, Rica! Sie zwang sich, nur noch nach vorn zu sehen. Nicht rennen! Mach dich doch nicht lächerlich!

Hastige Schritte knirschten hinter ihr auf dem Kies, und sofort begann Ricas Herz zu rasen. Sie wirbelte herum, schon halb in Abwehrstellung, als sie im nächsten Moment fast von den Beinen gerissen wurde. Eine Wolke aus rotem Haar und Shampooduft hüllte sie ein.

»Eliza!« Rica wusste nicht recht, ob sie lachen oder einen Herzkasper bekommen sollte. »Spinnst du? Du hast mich zu Tode erschreckt!«

»Sorry.« Eliza löste sich von Rica, und trat einen Schritt zurück. Ihre Wangen waren gerötet vom Laufen, und in ihren grünen Augen glitzerte etwas, das verdächtig nach Schalk aussah. Rica glaubte nicht, dass sie ihre Freundin jemals so überschwänglich gesehen hatte. »Ich hab gerade erst Robin entdeckt und messerscharf geschlussfolgert, dass du noch nicht weit weg sein kannst.« Sie legte den Kopf schief und schenkte Rica ein breites Lächeln. »Ich hätte gedacht, dass ihr beiden ein wenig länger braucht, um euch voneinander zu verabschieden. Was ist los? Hast du nach einer Woche schon genug von ihm?« Sie zwinkerte, aber Rica konnte auch die Sorge in ihren Augen sehen.

Rica schüttelte den Kopf. »Nein. Seine Ma ist nur ständig um uns rumgeschwänzelt, das habe ich nicht länger ausgehalten. Ich glaube, ich hätte mehr von Robin, wenn ich mit ihm im Unterricht säße. Die Lehrer können gar nicht so gut aufpassen wie Frau Wittich.«

Eliza lachte, doch es klang eher ein wenig abwesend. Offensichtlich war sie mit ihren Gedanken schon wieder ganz woanders. Rica grinste und boxte sie freundschaftlich in die Seite. »Komm schon, nun sag mir endlich, was du auf dem Herzen hast! Du bist mir doch nicht nachgelaufen, weil du nicht bis morgen warten kannst, mich zu begrüßen.« Sie machte eine kurze Pause, bevor sie weiter fragte: »Geht’s dir besser?« Als sie Eliza das letzte Mal gesehen hatte, hatte sie immer noch recht hohes Fieber gehabt.

Eliza winkte ab. »Alles gut.« Es war offensichtlich nicht das Thema, über das sie sprechen wollte. Verlegen kaute sie auf ihrer Unterlippe herum.

»Wir haben einen Plan!«, platzte sie schließlich heraus. »Also, eigentlich mehrere Pläne. Wir wollten noch warten, was du dazu sagst, bevor wir etwas machen.«

Rica runzelte die Stirn. »Wer wir?«

Wieder kaute Eliza auf ihrer Unterlippe herum. »Nathan«, gab sie dann vorsichtig zu. »Nathan und ich. Wir haben ziemlich viel gechattet, während du und Robin bei seinen Eltern wart. Bei mir zu Hause gab’s eh nicht viel anderes zu tun, und um ehrlich zu sein, hatte ich auf meine Eltern keinen großen Bock.«

Nathan und ich. Rica verspürte einen leichten Stich der Eifersucht bei dieser so selbstverständlich freundschaftlichen Formulierung. Ich war zuerst mit Nathan befreundet. Doch dann rief sie sich zurecht. Eliza und Nathan passten zusammen, und sie selbst hatte Robin. Wer war sie denn, zwei ihrer besten Freunde ihr Glück nicht zu gönnen.

Pläne. Sie runzelte die Stirn und sah sich um. Die Sonne stand inzwischen tief über dem Horizont, und der Schatten der Hecke war lang und kühl. Die Vögel hatten zu singen aufgehört, und die Stille schien komplett. Dennoch fühlte Rica sich nicht wohl dabei, diese Angelegenheit hier zu besprechen. Sie hatte immer noch das Gefühl, beobachtet zu werden. Doch Eliza platzte offensichtlich geradezu vor Aufregung, endlich ihre Neuigkeiten mitteilen zu dürfen.

»Okay«, meinte Rica. »Lass uns reden, aber nicht hier.« Sie griff den Arm ihrer Freundin und zog sie die Hecke entlang hinter sich her, während sie fieberhaft überlegte, wohin sie gehen konnten. Ihre Wohnung? Da würde Ricas Mutter mithören. Die Schule fiel erst recht aus. Der Park war ihr zu unübersichtlich – man konnte nie wissen, ob nicht irgendjemand hinter einem Busch stand. Und hinter die Musikhalle hatte Rica sich seit der Sache mit Jo nicht mehr getraut. Also wohin?

Als ihr die Lösung einfiel, war diese so einfach und gleichzeitig so unheimlich, dass Rica schauderte. Aber es war die einzige Möglichkeit, die ihr in den Sinn kam.

Eliza lief ruhig hinter ihr her, bis sie merkte, wie Rica den Pfad hügelab einschlug, der zum Ponyhof führte. Dann blieb sie abrupt stehen. »Das ist nicht dein Ernst, oder?«

Rica zuckte mit den Schultern. »Ich bin mir sehr sicher, dass dort niemand ist, der uns zuhört. Und dass sich niemand die Mühe gemacht hat, da irgendwelche Überwachungsgeräte anzubringen.«

»Du bist paranoid«, murmelte Eliza und rührte sich weiterhin nicht vom Fleck.

»Ich habe allen Grund dazu«, erwiderte Rica. »Komm schon. Ist ja nicht so, als ob es ein Spukschloss wäre.«

Widerstrebend setzte sich Eliza wieder in Bewegung. »Ich hoffe wirklich, du weißt, was du tust«, sagte sie.

Kapitel zwei

Pläne

Rica musste zugeben, dass sie selbst ein mulmiges Gefühl in der Magengegend hatte, als sie den Hof des verlassenen Gebäudes betraten. Sie blickte sich um, und erwartete halb, dass im nächsten Moment Odi um die Mauer schlawenzelt kam. Aber alles blieb still. Kein Schäferhund und auch sonst niemand hielt sich hier auf. Das Haus lag still und dunkel da, der Hof davor war von der tiefstehenden Sonne in rötliches Licht getaucht. Rica musste an Blut denken und schüttelte sich unwillkürlich.

»Lass uns das schnell hinter uns bringen«, murmelte sie. »Hier gibt es Gespenster.«

Eliza lachte, es klang ein wenig künstlich. »Okay. Hier auf dem Hof?«

Rica schüttelte den Kopf und deutete auf die Eingangstür. »Hier draußen kann uns jeder sehen.«

»Spinnst du? Es ist überhaupt niemand hier!« Eliza verschränkte die Arme vor der Brust und schenkte Rica einen finsteren Blick. »Ich setz da nie wieder einen Fuß rein.«

Rica seufzte. Sie hatte auch keine besondere Lust, in Lars’ und Andreas Haus zurückzukehren, aber hier draußen fühlte sie sich nicht sicher. Konnte sein, dass das paranoid war, doch nach ihren letzten Erfahrungen wollte sie lieber auf Nummer sicher gehen. Sie legte Eliza sanft eine Hand auf den Arm. »Es dauert ja nicht lange«, versprach sie. »Und ich bin mir sicher, dass uns da drin nichts passieren wird. Wer soll denn da sein? Andrea?«

»Man weiß nie. Gefasst hat man sie jedenfalls noch nicht«, gab Eliza zurück. Dann zuckte sie mit den Schultern. »Na gut.«

Rica ging zum Eingangstor und drückte die Klinke hinunter. Sie hatte eigentlich damit gerechnet, dass das Tor abgeschlossen sein würde, doch zu ihrer Überraschung schwang es leicht und lautlos auf. Die Halle dahinter war dunkel und erschien endlos.

»Warum ist nicht abgeschlossen?«, fragte Eliza nervös.

»Wahrscheinlich gibt es einfach nichts in der Halle, was sich zu stehlen lohnt«, meinte Rica. »Ich wette mit dir, dass die Tür zur eigentlichen Wohnung verschlossen ist.«

»Das müssen wir aber nicht auch noch ausprobieren, oder? Hier drin sind wir doch nun wirklich sicher genug.«

»Klar.« Rica wagte es nicht, zuzugeben, dass auch sie ein schlechtes Gefühl bei der Sache hatte. Ihre Erklärung, warum nicht abgeschlossen war, war mehr als dürftig.

Ich bin schon einmal entkommen, sagte sie sich. Und im Moment gibt es keinen Grund, zu vermuten, dass ich das noch mal muss.

Entschlossen tat sie den ersten Schritt in die dämmrige Halle.

Nichts.

Natürlich passierte nichts. Rica schüttelte den Kopf über ihre eigene Angst und tastete sich in die Mitte der Halle vor, wo sie tatsächlich immer noch die kleine Sitzgruppe neben dem Grill vorfand, die Lars und Andrea hier aufgestellt hatten. Mit einem Aufseufzen ließ Rica den Rucksack von den Schultern gleiten und setzte sich in einen der hölzernen Gartenstühle. Das Holz quietschte leicht unter ihrem Gewicht, und als sie sich zurücklehnte und die Augen schloss, redete sie sich beruhigend ein, gemütlich bei einer Gartenparty zu sitzen. Die Vorstellung half. Ein Großteil ihrer Angst schwand. Gleich darauf quietschte der Stuhl neben ihr. Rica konnte Elizas Shampoo riechen. Auch das vermittelte ihr ein beruhigendes Gefühl, und langsam gelang es ihr, sich zu entspannen.

»Was sind das nun für Pläne, die Nathan und du ausgeheckt habt?«, fragte sie, ohne die Augen zu öffnen. So lange sie nichts sah, hielten sich die schlimmen Erinnerungen in Grenzen.

Sie konnte hören, wie sich Eliza in ihrem Stuhl zurechtsetzte. Das leise Rascheln von Stoff erklang doppelt so laut in der Stille des Hauses, und wieder musste Rica an Geister denken.

»Also, Nathan möchte ein für alle Mal herausfinden, was es mit dem Institut und seinen Experimenten auf sich hat«, begann Eliza.

Damit ist er nicht allein, dachte Rica. »Nur Nathan?«, fragte sie laut. »Und du?«

Eliza zögerte nur eine Sekunde, bevor sie antwortete, aber das reichte Rica, um sich darüber klar zu werden, dass ihre Freundin immer noch nicht so begeistert von der Vorstellung war, die Wahrheit herauszufinden. Kein Wunder. Sie war es schließlich, die sich dem Ganzen stellen musste.

»Ich auch«, sagte Eliza schließlich leise. »Es hilft ja nicht, wenn ich meinen Kopf in den Sand stecke. Das hat Nathan auch gesagt.«

Rica musste lachen.

»Hör auf zu lachen!«, schnappte Eliza sofort. »Da ist nichts zwischen uns.«

Rica zuckte mit den Schultern, ohne die Augen zu öffnen.

»Okay, weiter!«, forderte sie Eliza auf.

»Wir haben uns Gedanken gemacht, wie man das Ganze angehen könnte. Wir wissen ja nicht besonders viel. Nur dass sie uns Schüler beobachten und offensichtlich irgendwie auf die Probe stellen wollten mit dem Skiurlaub. Außerdem wissen wir, dass sie manche Schüler abholen und andere wiederum nicht.«

»Ganz zu schweigen davon, dass manche ausrasten oder den Druck nicht mehr ertragen können, wie … wie Jonas«, ergänzte Rica. Sie hatte eigentlich einen anderen Namen nennen wollen, aber sie konnte jetzt nicht über Jo nachdenken. »Und dann ist da die Sache mit den Pheromonen, von denen … mein Vater gesprochen hat.« Auch diese Worte kamen ihr nur schwer über die Lippen. Sie war es nicht gewohnt, über ihren Vater zu sprechen. »Und das, was du auch immer in diesem Ordner gefunden hast.« Nun blinzelte sie doch und warf Eliza einen Blick zu. »Möchtest du jetzt darüber sprechen?«

Eliza war blass geworden. »Irgendwann vielleicht«, murmelte sie. »Wenn du es unbedingt mit einbeziehen willst, vielleicht reicht es dann, wenn ich dir sage, dass auch ich so ein Wunschkind war wie Jo. Und dass das Institut da seine Finger mit im Spiel hatte. Bei der … bei meiner …« Sie brach ab, und zuckte mit den Schultern. »Bei meiner Erzeugung, könnte man sagen.«

Rica schwieg. Was konnte man auch darauf schon antworten? Schließlich beugte sie sich zu Elizas Stuhl hinüber und legte ihre Hand ganz sanft auf Elizas. Die Finger ihrer Freundin fühlten sich unnatürlich kalt an, aber nach einem kurzen Moment entspannte sie sich ein bisschen und schenkte Rica ein trauriges Lächeln.

»Also, wir wissen nicht viel«, griff sie ihren Faden wieder auf, als wäre nichts gewesen. »Wir müssen mehr herausfinden. Und wir haben uns überlegt, wie.« Sie atmete tief durch. »Folgendes: Torben war schon mal in diesem Institut. Er hat offensichtlich mit deinem Vater gesprochen, als er noch für diese Leute gearbeitet hat. Er weiß zumindest ein bisschen mehr als wir. Also werden wir ihn uns schnappen und ausquetschen. Und dieses Mal lassen wir ihn sich nicht einfach so herauswinden.«

»Klingt gut«, stimmte Rica zu, auch wenn sie nicht sicher war, wie sie Torben zum Reden bringen sollten. Das hatte schon beim letzten Mal nicht besonders gut geklappt.

»Gibt es einen Plan B?«, fragte sie.

Eliza sah ein wenig verlegen aus. »Schon. Aber der wird dir, glaube ich, nicht gefallen.« Sie sah betreten aus.

»Komm schon, raus damit! Kann nicht schlimmer sein, als hier zu sitzen«, witzelte Rica, doch das schien Eliza nur noch verlegener zu machen.

»Tatsächlich«, begann sie gedehnt, »ist es gar nicht so weit davon entfernt. Andrea hat Nathan eine E-Mail geschrieben.«

»Was?« Rica fuhr senkrecht in ihrem Sitz auf. »Warum das denn? Was sagt sie? Habt ihr der Polizei Bescheid gegeben?« Sie schüttelte den Kopf. »Woher hat sie überhaupt Nathans E-Mail-Adresse?«

Eliza machte eine beschwichtigende Geste, als müsse sie ein nervöses Pferd beruhigen. »Nathan hat sich mal umgehört. Relativ unverbindlich, hat mit ein paar Leuten in seiner Einrichtung gesprochen, ein paar Schülern und Betreuern, denen er vertraut. Er hat auch einen anonymen Aufruf ans Schwarze Brett gehängt, natürlich nicht unter seinem eigenen Namen und mit einer neuen E-Mail-Adresse. Wir vermuten, dass Andrea irgendwie noch Kontakt zum Institut hat und das mitbekommen hat.« Sie zuckte mit den Schultern. »Jedenfalls hat ihm Andrea kurz darauf eine Mail geschrieben. Sie will mit ihm sprechen, ihm verraten, was sie weiß und so, aber sie möchte auch etwas als Gegenleistung.«

Rica schüttelte den Kopf. »Und was?«

»Hat sie nicht gesagt. So weit sind wir noch nicht. Nathan meinte, bevor wir irgendetwas ausmachen, sollten wir mit dir sprechen.« Wieder lächelte Eliza unsicher. »Schließlich hat sie dir mehr angetan als uns beiden. Wenn du also lieber zur Polizei gehen willst …« Sie ließ das Ende des Satzes in der Luft hängen.

Rica kaute auf ihrer Unterlippe herum. Die Polizei zu informieren wäre nur gut und richtig gewesen. Andrea war eine gesuchte Mörderin, und beinah hätte sie auch Rica und Eliza umgebracht. Rica schauderte noch immer, wenn sie an die Nacht dachte, in der sie vor Andrea geflohen war. Noch nie zuvor in ihrem Leben hatte sie solche Angst gehabt. Wenn sie jetzt sogar einen Verdacht hatten, wo sie sich aufhielt, dann war es eigentlich ihre Pflicht, das zu melden.

Doch Andrea hatte auch für das Institut gearbeitet. Andrea kannte Frau Jansen und wusste vielleicht, was diese mit der Sache zu tun hatte. Andrea konnte ihnen sagen, was wirklich vorging.

Rica atmete tief durch. Sie war sich nicht sicher, ob sie nicht gerade einen schrecklichen Fehler beging.

»Okay. Wir können mit ihr reden. Aber Nathan soll auf gar keinen Fall unsere Namen nennen, verstehst du?«

»Würde er nie«, gab Eliza zurück. Sie wirkte erleichtert. »Du hast also nichts dagegen?«

»Ich habe eine ganze Menge dagegen«, meinte Rica. »Ich sehe allerdings auch, dass es sinnvoll sein könnte. Und schließlich wollte ich mehr wissen, nicht wahr?« Sie seufzte. »Noch irgendwas?«

Eliza schüttelte den Kopf. »Das ist erst einmal alles«, antwortete sie. »Bisschen wenig, ich weiß. Aber uns ist nichts mehr eingefallen.« Sie lächelte verlegen. »Außerdem haben wir noch über so viel anderes gequatscht, da ist ein bisschen was untergegangen, schätze ich.«

»Das kann ich mir vorstellen«, erwiderte Rica, und Eliza wurde sofort feuerrot im Gesicht. »Ganz so ist es auch nicht. Nathan hat ständig versucht, dich zu erreichen, aber dein Handy war aus, und auf die E-Mails hast du auch nicht geantwortet.«

Rica nickte schuldbewusst. »Ich wollte meine Ruhe haben. Ein bisschen mit Robin allein sein. Sorry. Ich hätte mich melden sollen, aber …«

»Schon gut.« Eliza legte Rica die Hand auf den Arm. »Ich verstehe dich ja. Nur dann darfst du uns auch keine Vorwürfe machen, dass wir alles allein besprochen haben, okay?«

Wieder spürte Rica einen Anflug von schlechtem Gewissen. »Sorry«, wiederholte sie. »Ich bin einfach etwas angespannt.«

»Du bist immer angespannt«, murmelte Eliza und stand ruckartig auf. »Lass uns von hier verschwinden. Dieser Ort macht mich ganz kribbelig. Ich werde das Gefühl einfach nicht los, dass uns jemand beobachtet.«

»Du träumst«, wehrte Rica ab, obwohl das gleiche Gefühl sie selbst auch plagte. Betont langsam erhob sie sich, wie um sich zu beweisen, dass sie keine Angst hatte. Aber als sie gemeinsam mit Eliza in Richtung Tür ging, glaubte sie immer noch, Blicke in ihrem Rücken zu spüren.

Als sie die Tür erreichten, drehte Rica sich noch einmal um. Die Halle lag vollkommen im Dämmerlicht, und es war unmöglich, etwas zu erkennen, aber dennoch war sie einen Augenblick lang der Meinung, eine Bewegung am anderen Ende der Halle wahrgenommen zu haben. Ein Huschen, ein leichtes Flackern der Schatten, als ob sich die Eingangstür zu Andreas und Lars’ Wohnung bewegt hätte. Rica kniff die Augen zusammen und starrte so intensiv in die Dunkelheit, dass ihr Tränen in die Augen stiegen. Da war nichts. Die Tür war zu.

Mit einem Schaudern wandte sich Rica ab und folgte Eliza.

Ricas Mutter saß am Küchentisch, trank Kaffee und schien in ein Buch vertieft, als Rica die Tür zur Wohnung aufstieß. Sie sah von ihrer Lektüre auf und lächelte Rica an. »Ich dachte, du kommst gar nicht mehr. Wie war der Urlaub?« Sie gab sich große Mühe, einen unbeschwerten Tonfall anzuschlagen, aber in ihren Augen lag ein Ausdruck, den Rica nur zu gut kannte.

Mit einem Seufzen ließ sie ihren Rucksack von der Schulter gleiten, ging zur Küchenzeile hinüber und goss sich ebenfalls eine Tasse Kaffee ein. Zusammen mit einer Packung Milch trug sie sie zum Küchentisch und ließ sich gegenüber ihrer Mutter nieder.

»Was ist los, Ma?«

Ihre Mutter tat so, als ob Ricas Frage sie vollkommen überraschte. Doch als sie Ricas Gesichtsausdruck sah, lächelte sie schuldbewusst, schlug ihr Buch zu und richtete sich auf.

»Dir kann man auch nichts mehr vormachen, oder?« Sie nahm einen Schluck Kaffee. Von dem Becher stieg kein Dampf mehr auf. Rica fragte sich, wie lange ihre Mutter schon hier saß und so tat, als ob sie lese.

»Du nicht«, erwiderte Rica. Sie schüttete großzügig Milch in ihre Tasse und nahm selbst einen Schluck. Der weiche, milchig-nussige Geschmack breitete sich in ihrem Mund aus, und bereitete ihr ein vertrautes, wohliges Gefühl.

Ihre Mutter seufzte und malte mit dem Zeigefinger unsichtbare Kringel auf den Küchentisch. Sie sah verloren aus und seltsam jung. Sie gab keine Antwort.

»Ist es wegen Robin und mir?«, vermutete Rica. »Wenn es das ist, kann ich dich beruhigen, ich habe nicht vor …« Doch sie brachte ihren Satz nicht zu Ende. Im Grunde wusste sie genau, dass es das nicht sein konnte. Ihre Mutter vertraute ihr, was ihre Entscheidungen in Bezug auf Jungs anging. Rica hatte sie deswegen noch nie besorgt gesehen.

Wieder seufzte ihre Mutter. Dann gab sie sich einen Ruck. Sie hob den Blick und sah Rica direkt ins Gesicht. »Ich denke darüber nach, den Job hier an den Nagel zu hängen«, platzte sie heraus.

Rica zuckte mit den Schultern. »Ist doch kein Problem. Ich meine, du wolltest doch ohnehin nur ein Jahr bleiben«, erwiderte sie in ihrem besten Plauderton.

»Das meine ich nicht«, antwortete ihre Mutter. »Ich spreche davon, den Job jetzt aufzugeben. Wir könnten zurück in unsere alte Wohnung ziehen. Sie ist noch frei. Ich habe mit Frau Lehmann telefoniert.«

Wieder lief etwas wie Eiswasser durch Ricas Adern. »Jetzt? Mitten im Schuljahr?«

Ihre Mutter nickte nur.

»Das geht doch gar nicht!« Rica bekam es jetzt mit der Angst zu tun. Von hier weg? Gerne. Aber Eliza und ihre anderen Freunde dafür im Stich lassen? Das konnte sie nicht. Sie musste doch herausfinden, was hier gespielt wurde. »Warum?«

Ihre Mutter antwortete zunächst nicht, sondern malte nur weiter Kringel auf die Tischplatte. »Dieser Ort ist nicht gut für uns«, sagte sie schließlich. »Besonders für dich nicht. Ich habe gehört, was du für Fragen stellst.« Sie blickte Rica direkt in die Augen. »Du musst damit aufhören, Rica!«

Rica umschloss mit ihren Händen die Kaffeetasse, doch das warme Porzellan konnte die Kälte nicht aus ihren Fingern vertreiben. Einen Moment lang zog sie in Betracht, alles abzustreiten. So genau konnte ihre Mutter überhaupt nicht Bescheid wissen. Aber sie war noch nie besonders gut darin gewesen, sie anzulügen.

»Dann sag mir, warum wir hergekommen sind! Das war kein Zufall, oder? Du bist doch auf der gleichen Spur wie ich, nicht wahr? Diese seltsamen Kinder. Das Institut. Die Experimente.« Rica fiel es auf einmal wie Schuppen von den Augen. Wie hatte sie das vorher nicht sehen können? Sie hatte nie mit ihrer Mutter über diese Dinge gesprochen, hatte immer ihre eigenen Nachforschungen sorgfältig geheim gehalten, weil sie wusste, dass ihre Mutter sie nicht gutheißen würde. Bis heute war ihr nie bewusst geworden, dass diese auf der gleichen Spur sein könnte. Zumindest hatte sie diesen Gedanken nie zu Ende gedacht. Es war einfach zu seltsam, daran zu glauben, obwohl es – wenn sie darüber nachdachte – die einzige sinnvolle Erklärung war. »Deswegen bist du hierher gekommen«, beantwortete sie sich ihre Frage selbst.

Ihre Mutter schüttelte den Kopf, nahm einen Schluck Kaffee und verzog das Gesicht, als hätte sie eben erst bemerkt, wie widerlich der mittlerweile schmeckte. Kurz entschlossen stand sie auf, ging zur Spüle hinüber und schüttete die Kaffeereste weg.

»Selbst wenn«, sagte sie, den Rücken Rica zugewandt. »Selbst wenn du recht hast, ist das immer noch kein Grund, dass du dich in Gefahr begibst. Ich hätte wissen müssen, dass du viel zu neugierig bist. Und viel zu schlau.« Sie seufzte wieder. »Ich hätte dich bei Frau Lehmann lassen sollen.«

Rica schwieg. Frau Lehmann, ihre Nachbarin und die Mutter ihrer früheren besten Freundin Lena. Noch im letzten Jahr hätte Rica sich vor Begeisterung bei dem Gedanken, ein Jahr bei Lena wohnen zu dürfen, überschlagen. Aber natürlich hatte ihre Mutter diese Möglichkeit nie zur Sprache gebracht.

»Was passiert hier?«, fragte Rica. »Wie bist du den Leuten hier auf die Spur gekommen? Was willst du von ihnen? Was weißt du schon?« Noch während sie die Worte aussprach, fiel ihr die Antwort ein. »Das hat mit Pa zu tun, oder nicht? Weil er in die Sache verwickelt ist.«

Ihre Mutter schwieg, aber ihr Schweigen war Antwort genug. Auf einmal stieg Zorn in Rica auf. »Du hast die ganze Zeit darauf hingearbeitet. Du spionierst ihm hinterher. Und mir hast du gar nichts davon gesagt?« Sie biss sich so fest auf die Unterlippe, dass es dieses Mal richtig wehtat. »Er ist doch mein Vater. Wenn etwas mit ihm nicht stimmt, dann habe ich ein Recht darauf, das zu erfahren!«

Mit einem Ruck drehte sich ihre Mutter zu Rica um, und funkelte sie an. Alle Unsicherheit war aus ihrer Miene verschwunden. »Du sollst dich da nicht einmischen! Verstanden?«

Rica presste die Lippen aufeinander und starrte zurück. »Er ist mein Vater«, wiederholte sie. »Ich will das jetzt wissen.«

Ihre Mutter schnaubte verächtlich. »Es hat dich doch früher nie interessiert«, sagte sie. »Warum jetzt?«

Weil ich ihn jetzt kennengelernt habe. Weil er mir das Leben gerettet hat. Weil er nicht so ein Arsch ist, wie ich mir das immer vorgestellt habe. Aber in dem langen Telefonat, dass sie nach dem Skiurlaub mit ihrer Mutter geführt hatte, hatte sie das Auftauchen ihres Vaters bisher verschwiegen, wie sie überhaupt ziemlich vage geblieben war, was ihre Erlebnisse auf der Skihütte anging. »Du suchst nach ihm«, antwortete sie stattdessen. »Du musst doch auch einen Grund dafür haben. Und der ist nicht, dass ihr beide euch vollkommen zerstritten habt, stimmt’s?«

Ihre Mutter schwieg einen Augenblick lang. Dann seufzte sie. »Ich erkläre dir alles. Aber nicht jetzt, nicht heute. Das ist zu gefährlich.«

»Ich glaube ja, es ist gefährlicher, wenn ich überhaupt nicht Bescheid weiß«, gab Rica zurück.

»Genug jetzt!« Ihre Mutter drehte sich wieder zur Spüle um und begann, Wasser in die Tasse laufen zu lassen. »Ich bin dafür, du gehst jetzt in dein Zimmer und bereitest dich auf die Schule vor. Du hast einiges verpasst, während du in Skiferien warst.«

»Ich denke, wir gehen sowieso hier weg. Warum soll ich mich da noch anstrengen?« Rica war sich bewusst, dass sie sich anhörte wie ein trotziges Kind, aber sie konnte nicht anders. In ihr brodelte die Wut. Warum wollte ihre Mutter sie nicht einweihen? Immerhin hatte sie einiges durchgemacht, nur um immer und immer wieder vor verschlossenen Türen zu stehen. Sie vertraut mir nicht, schoss es Rica durch den Kopf.

»Wir diskutieren darüber jetzt nicht weiter.« Die Stimme ihrer Mutter war verdächtig ruhig. So ruhig, dass Rica wusste, wie ernst es ihr war. »Geh in dein Zimmer! Und morgen gehst du wieder in die Schule. Wenn wir hier weggehen, wirst du das noch früh genug erfahren.« Ricas Mutter ließ einen Spüllappen so heftig ins Wasser fallen, dass es spritzte. »Ich will nicht, dass du dich einmischst. Du bist zu jung. Du bringst dich in Gefahr. Und ich könnte es nicht verkraften, wenn dir etwas zustieße, bloß weil …« Sie brachte den Satz nicht zu Ende. Stattdessen fing sie an, ihre Kaffeetasse zu schrubben. »Wir bleiben hier«, sagte sie schließlich.

Rica starrte den Rücken ihrer Mutter an. Gerade noch hatte sie so entschlossen geklungen. Rica war fast schon überzeugt gewesen, dass sie in den nächsten Tagen ihre Koffer packen würden. Jetzt schien ihr Kampfgeist wieder zurückgekehrt zu sein.

War es das, warum sie sich mit mir besprechen wollte? Um ihren eigenen Entschluss zu stärken?

Sie blieb noch einen Moment lang stehen, wartete auf etwas, eine Erklärung oder eine Zurechtweisung, aber ihre Mutter blieb nur ruhig an der Spüle stehen und plätscherte gedankenverloren im Wasser herum. Ihre Schultern zuckten leicht.

Sie weint.

Das Bedürfnis, zu ihr zu gehen und ihr eine Hand auf die Schulter zu legen, war beinah übermächtig. Aber Ricas Zorn war noch nicht ganz verraucht, und außerdem verstand sie immer noch nicht ganz, was hier eigentlich lief. Ich habe meine eigenen Probleme, dachte sie.

Dennoch hatte sie das Gefühl, ihre Mutter im Stich zu lassen, als sie sich umdrehte und in ihrem Zimmer verschwand.