Die Drei Fragezeichen
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Die sieben Tore

erzählt von André Marx

Kosmos

Umschlagillustration von Silvia Christoph, Berlin

Umschlaggestaltung von eStudio Calamar, Girona, auf der Grundlage

der Gestaltung von Aiga Rasch (9. Juli 1941 – 24. Dezember 2009)

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© 2013, Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Mit freundlicher Genehmigung der Universität Michigan

Based on characters by Robert Arthur.

ISBN 978-3-440-14195-3

eBook-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Das erste Tor

Das schmiedeeiserne Tor war rostig und halb von Kletterpflanzen und anderem Gestrüpp überwuchert, das die Sicht durch die verschlungenen Gitterstäbe verwehrte. So weit das Auge reichte grenzte der Eisenzaun die lehmige Straße vom dahinter liegenden Grundstück ab. Regenschwere Wolken zogen über den Himmel und fraßen das Licht der untergehenden Sonne. Bald würde es ganz dunkel sein.

Justus schluckte schwer und stieg aus dem Taxi. Ratlos blieb er vor dem Tor stehen und spähte durch das zugewachsene Gitter.

»Ganz schön düster, was?«, fragte der Fahrer durchs heruntergekurbelte Fenster. »Wohnt da überhaupt jemand?«

»Ich nehme es an.«

»Soll ich vielleicht hier auf dich warten, Junge?«

»Nicht nötig, danke sehr«, beteuerte Justus, ohne sich zu ihm umzudrehen. Noch immer war sein Blick auf das Tor gerichtet. Dahinter lag unbekanntes Terrain.

Der Taxifahrer räusperte sich.

»Es ist wirklich nett von Ihnen, aber ich komme schon zurecht.«

»Mag ja sein. Hätte trotzdem gern mein Geld.«

Justus zuckte zusammen. »Natürlich. Entschuldigen Sie.« Er kramte ein paar Dollar hervor und reichte sie dem Mann. Der nickte, kurbelte das Fenster wieder hoch und wendete den Wagen auf dem schmalen Weg. Dann gab er Gas. Justus sah dem Taxi nach, bis die roten Rücklichter hinter einer Hügelkuppe verschwanden. Er wartete, bis auch das Brummen des Motors verklungen war. Jetzt gab es nur noch das Geräusch des Windes in den wenigen Bäumen, die auf dem Hügel standen, und das Meeresrauschen irgendwo vor ihm. Sonst war es still.

Justus atmete tief durch, griff nach seiner kleinen Tasche auf dem Boden und trat näher an das Eisentor heran. Er suchte nach einer Klingel. Es gab keine. Vielleicht war nicht abgeschlossen? Er wollte gerade nach dem Knauf greifen, als das Schloss mit einem elektronischen Summen aufschnappte.

Erschrocken zuckte Justus zurück. »Danke schön«, murmelte er verwundert und drückte den quietschenden Torflügel auf.

Kaum war er hindurchgetreten, krachte er hinter ihm zu. Justus zwang sich, sich nicht umzudrehen. Offenbar wurde er beobachtet, wie sonst hätte jemand im richtigen Moment den Türöffner betätigen können, und Justus wollte weder Angst noch Schwäche zeigen.

Hundert Meter entfernt, auf dem Gipfel des Berges und am Rande eines steil abfallenden Küstenstreifens, stand eine Burg. Zumindest sein Freund Peter hätte das Gebäude so bezeichnet. Dunkel und trutzig wie eine Festung streckten die efeubewachsenen Mauern kleine Zinnen in den Himmel. Bedrohlich aussehende Wasserspeier hockten wie steinerne Wächter überall im Gemäuer. Die erstarrten Fratzen grinsten ihn aus Nischen und von kleinen Turmspitzen herab an. Hinter keinem der winzigen Fenster brannte Licht, doch Justus war sicher, dass hinter mindestens einer der Scheiben ein neugieriges Augenpaar aufmerksam jeden seiner Schritte verfolgte.

Ein schmaler Pfad schlängelte sich über die wild bewachsene Wiese, auf der sich ein paar armselige Bäumchen vor dem Wind duckten. Direkt hinter der Burg lag das Meer. Bestimmt war es hier oft stürmisch.

Justus ging auf das Gebäude zu. Die Frontseite wurde von einem Tor aus schwarzem, rissigem Holz dominiert. Im Vergleich zur gesamten Burg war das Tor geradezu lächerlich riesig. Ein Monstertruck hätte locker hindurchgepasst. Vielleicht sogar zwei nebeneinander. Der Bogen wölbte sich so hoch, dass er fast die unteren Zinnen berührte. Damit bestand die Vorderfront fast nur aus den zwei gigantischen eisenbeschlagenen Flügeln. Darüber breitete eine bizarre Gestalt aus Stein ihre Arme aus, als wollte sie jeden Besucher willkommen heißen – oder aber gefangen nehmen. Das Gesicht der Figur war von einem irre lachenden Mund verzerrt, die Augen waren weit aufgerissen, doch sie blickten über die eigene Schulter hinweg nach hinten, als hätte das Wesen etwas auf dem Dach entdeckt oder könnte durch das Dach hindurch in das Haus sehen. Es war irgendwie gespenstisch.

Schließlich war das Gebäude nur noch zehn Meter entfernt und Justus musste den Kopf in den Nacken legen, um einen Blick über die Zinnen und die ausgebreiteten Arme des verrückten Wasserspeiers hinweg in den dunklen Himmel zu werfen. Und auf die Fenster, die, wie er nun sah, allesamt verhängt waren. Keiner der Vorhänge bewegte sich. Beherzt trat er die letzten Schritte auf das riesige Tor zu. Da erst entdeckte er eine kleine, unscheinbare Tür im rechten Flügel. Dies war wohl der eigentliche Ein- und Ausgang.

Bis hierher hatte er alle finsteren Gedanken erfolgreich verdrängen können. Doch jetzt, so kurz vor dem Ziel, bekam er Angst. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, alleine herzukommen. Er hätte zu Hause in Rocky Beach bleiben oder wenigstens Bob und Peter mitnehmen sollen. Aber nun hatte er keine Wahl mehr. Man wusste bereits, dass er hier war. Und Hals über Kopf zu fliehen – das widersprach jeder Detektivehre und kam überhaupt nicht in Frage.

Es gab keine Klingel. Justus hob die Hand, um zu klopfen, doch in diesem Moment schwang die Tür völlig lautlos auf. Dahinter war es dunkel. Justus’ Herzschlag beschleunigte sich schmerzhaft. Für einen Augenblick sah es so aus, als hätte sich die Tür tatsächlich von selbst geöffnet, doch dann trat jemand aus dem Schatten hervor. Ein Mann im schwarzen Anzug, klein, aber kräftig und mit schütterem Haar. Er sah Justus ausdruckslos an und machte eine einladende Geste. Justus wollte gerade etwas sagen, doch da wich der Mann auch schon zurück in die Dunkelheit. Zögernd trat Justus durch die Tür.

Die Eingangshalle war kleiner, als Justus erwartet hatte. Viel konnte er im fahlen Licht nicht erkennen. Der Mann, der ihm geöffnet hatte, stand neben ihm und schloss die schwere Tür. Schlagartig wurde es noch finsterer. Das einzige Licht fiel nun durch die schmalen Fenster, fast eher Schießscharten, die links und rechts des Tores und irgendwo hoch über ihnen das Mauerwerk durchbrachen. Justus blickte nach oben und sog überrascht die Luft ein. Der Saal war nicht groß, doch seine Wände ragten so weit in die Höhe, dass die Decke im dämmrigen Licht kaum noch zu erkennen war. Über allen Türen und Fenstern wölbte sich das Mauerwerk zu weiteren bizarren Figuren: Teufelsfratzen, geflügelte Dämonen, irrsinnig grinsende Gestalten mit steinernen Fackeln oder Schwertern in den Händen. Doch von diesen Geschöpfen abgesehen waren die Wände, ja der gesamte Raum, völlig kahl. Kein einziges Bild hing hier, keine Lampe, nichts. Es gab auch keine Möbel, nur einen schweren roten Teppich auf dem Boden und der anschließenden Treppe. Die Halle wirkte, als sei sie eine Kulisse für einen Ritterfilm, in der noch die Requisiten fehlten.

»Das ist beeindruckend«, flüsterte Justus. Dann fiel ihm auf, dass er noch immer kein Wort mit dem Mann gesprochen hatte. Justus räusperte sich verlegen. »Verzeihung, mein Name ist Justus Jonas. Sind Sie –«

Sein Gegenüber wandte sich um und ging auf die Treppe zu.

Verdutzt blickte Justus ihm nach. Dieser Kerl hatte überhaupt nicht auf ihn reagiert! Was sollte er jetzt tun? Hier stehen bleiben und auf ein Wunder warten? »He!«, rief Justus empört.

Abrupt drehte sich der Mann um. Zum ersten Mal war eine Gefühlsregung in seinem Gesicht zu lesen: Wut. Er hob einen Zeigefinger an die Lippen und bedeutete Justus, ihm zu folgen.

Obwohl Justus das alles überhaupt nicht geheuer war, durchquerte er die Eingangshalle. Der schwere Teppich schluckte jeden Schritt. Sie betraten die lange, schmale Treppe, die an der Wand entlang auf eine Galerie führte. Sie war ebenfalls mit rotem Teppich ausgelegt und genauso kalt und schmucklos. Die einzige Lichtquelle war eine trostlose Funzel von einer Glühlampe, die nackt von der Decke baumelte. Sie bogen in einen Gang, von dem mehrere geschlossene Türen abzweigten. Nur die letzte stand offen. Zielstrebig gingen sie darauf zu. Justus fühlte sich unwohl. Am liebsten hätte er auf der Stelle kehrt gemacht und das Haus verlassen. Doch er ging weiter bis zu der offenen Tür, wo der Mann Justus an sich vorbeiließ – und beiseite trat.

Er sollte den Raum betreten. Offenbar hatte er es bis jetzt nicht mit dem Hausherrn selbst, sondern mit einem Bediensteten zu tun gehabt. Zögernd ging Justus hinein.

Der Raum hatte Fenster, immerhin, doch es drang nur wenig Licht durch die schweren Vorhänge. Es gab einen Schreibtisch und eine Sitzgruppe in der Ecke. Auf einem Tisch an der Wand stand ein großer, gläserner Kasten. Mehr konnte Justus nicht erkennen. Er ging auf den Kasten zu. Es war ein Terrarium. Aus dem Sand, der den Boden bedeckte, ragte ein trockener, knorriger Ast, in einer Ecke stand eine Schüssel mit Wasser. Daneben, zusammengerollt und wie zu Stein erstarrt, lag eine graubraune Schlange. Sie blickte ins Leere. Hätte sie nicht hin und wieder ihre gespaltene Zunge hervorschnellen lassen, hätte Justus nicht mit Sicherheit sagen können, ob sie lebendig war oder nicht. Neben dem Terrarium stand eine kleine Pappschachtel, aus der ein leises Fiepen drang.

Plötzlich hörte er ein weiteres Geräusch, das Rascheln von Kleidung, direkt hinter sich. Justus drehte sich um und kniff die Augen zusammen. Da saß jemand in einem der Sessel aus dickem, dunklem Leder. Justus konnte nur die vage Kontur des Mannes erkennen. Er musste schon die ganze Zeit hier gesessen und ihn beobachtet haben. Der Fremde starrte ihn an.

Justus schnürte es die Kehle zu. Es war keine gute Idee gewesen, hierher zu kommen. Ganz und gar nicht. Doch bevor er etwas sagen oder einfach verschwinden konnte, sprach der Mann im Sessel mit schnarrender, fast flüsternder Stimme:

»Willkommen, Justus Jonas!«

Der Vogelmann

Justus lief ein Schauer über den Rücken. Obwohl der Mann leise gesprochen hatte, ging Justus seine Stimme durch Mark und Bein. »Danke«, antwortete er tonlos. Er räusperte sich und wiederholte etwas lauter: »Danke sehr.«

Für einen Moment herrschte ein unangenehmes Schweigen. Justus versuchte, die Dunkelheit mit Blicken zu durchdringen und den Mann im Sessel zu erkennen, doch er blieb ein schwarzer Schatten.

»Du bist also der Anführer der drei Detektive aus Rocky Beach?« Zweifel und ein Hauch von Ärger lagen in der flüsternden Stimme.

Justus nickte und zückte schnell seine Brieftasche, in der er seine Visitenkarten aufbewahrte. Eine davon reichte er dem Mann im Sessel. Das gab ihm die Möglichkeit, näher heranzutreten. Das Gesicht des Fremden blieb im Dunkeln. Nur ein dünner, knochiger Arm löste sich aus dem Schatten. Die gekrümmten Finger griffen nach der Karte, auf der stand:

Visitenkarte.tif

Der Mann nickte und ließ die Karte in der Brusttasche seines Jacketts verschwinden.

»Und Sie sind Mr Carter, nehme ich an.«

Wieder ein Nicken. Dann stemmte sich sein Gegenüber leise stöhnend aus dem schweren Sessel, trat ins Licht und reichte Justus die Hand. »Casper Carter.«

Justus musste sich bemühen, seinen Schrecken zu verbergen. Er hatte Mr Carter, obwohl dieser leise gesprochen hatte, aufgrund seiner Stimme auf Mitte dreißig geschätzt. Doch das Gesicht, auf das der schmale Streifen Licht aus dem Flur fiel, war grau und eingefallen, die Haut dünn, fast durchscheinend und zerknittert wie bei einem Greis. Eine scharfe Nase stach aus dem Gesicht hervor, die Mr Carter einen vogelhaften Ausdruck verlieh. Justus musste unwillkürlich an einen alten, zerrupften Aasgeier denken. Einzig Carters Augen waren jung und wach. Justus ergriff seine Hand. Sie war eiskalt. »Sehr erfreut«, log er.

Mr Carter bedachte ihn mit einem langen, zweifelnden Blick, dann ließ er seine Hand los, wandte sich um und trat gebeugt und leicht hinkend auf das Terrarium zu. Sein schwarzer Anzug schlabberte an seinem viel zu dünnen Körper. Justus, der nicht wusste, was er tun sollte, blieb einfach stehen und hörte Carter zu.

»Ich hatte angenommen, du seiest älter«, sagte dieser schließlich kalt.

Aha. Daher wehte also der Wind. Justus kannte die Leier bereits. »Nun, das glauben viele. Ich kann Ihnen jedoch versichern, dass Intelligenz und Spürsinn kaum etwas mit dem Alter zu tun haben.«

Mr Carter schnaubte verächtlich. »Wenn man eine gewisse Reife erreicht hat, gewiss nicht. Aber du bist ja noch ein Kind!«

Justus räusperte sich. »Ich bevorzuge den Terminus Jugendlicher.«

»Und ein altkluges Kind noch dazu!«

»Sir, ich dachte, Sie hätten sich bei mir gemeldet, da Sie von dem guten Ruf unseres Detektivunternehmens gehört haben.«

»Das ist richtig. Man bekommt die unglaublichsten Geschichten über die drei Detektive aus Rocky Beach zu hören.« Carter beobachtete aufmerksam die immer noch bewegungslose Schlange. »Aber jetzt frage ich mich, wie viel von dem, was die Zeitungen über euch berichten, wahr sein kann.«

»Das meiste, denke ich, Sir.«

»Dann seid ihr tatsächlich schon dreimal mit dem berüchtigten und seit Jahren gesuchten Meisterdieb Victor Hugenay zusammengetroffen?«

»Nun, um genau zu sein, waren es vier Male.«

»Und ihr wart der Auslöser für den Atomskandal, in den die Regierung im letzten Sommer verstrickt war?«

»Ja.«

»Pah!« Carter drehte sich abrupt um und maß Justus mit abschätzigen Blicken. »Unmöglich! Da war der journalistische Hunger nach einer guten Story wohl größer als das, was die Realität hergab.«

Langsam wurde Justus wütend. »Sir! Wenn ich Sie daran erinnern darf, haben Sie mich angerufen und zu sich gebeten. Ich bin den weiten Weg von Rocky Beach nach Salem mit dem Bus gefahren und habe den Rest des Weges mit dem Taxi zurückgelegt, um mir anzuhören, wobei wir Ihnen helfen können. Aber nicht, um mich beleidigen zu lassen.«

Casper Carter schüttelte den Kopf und begann, durch den kahlen Raum zu wandern. »Du magst ein aufgeweckter Bursche sein, Justus Jonas, und bestimmt gehörst du zu den Besten in deiner Schule.«

»Ich bin der Beste«, gab Justus ungerührt zurück.

»Und der Selbstbewussteste. Ich weiß das durchaus zu schätzen. Doch ich bin mir ziemlich sicher, dass das hier nichts für dich ist.«

»Was ist nichts für mich?«

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass du in der Lage bist, das Rätsel, das mich beschäftigt, zu lösen.«

»Das käme auf einen Versuch an«, antwortete Justus. »Ich muss jedoch hinzufügen, dass ich es gewohnt bin, im Team zu arbeiten. Normalerweise sind meine beiden Kollegen bei den Ermittlungen immer dabei. Ich kann daher nicht für einen Erfolg garantieren.«

»Da wären also schon die ersten Einschränkungen«, sagte Carter und lächelte böse. »Es ist wohl wirklich besser, wenn du wieder nach Hause fährst, Justus Jonas. Es tut mir Leid, dass ich deine Zeit gestohlen habe. Es war mein Fehler. Ich hätte mich besser über euch informieren sollen. Für die Fahrt hierher und deine Mühen werde ich dich selbstverständlich entlohnen.«

Justus schüttelte den Kopf. »Verzeihen Sie, aber ich kann nicht mehr zurückfahren.«

»Wie bitte?«

»Nicht heute. Mit dem Taxi komme ich zwar nach Salem, aber von dort aus fährt kein Bus mehr. Ich muss bis morgen früh warten. Meine Freunde werden mich dann abholen. Doch am Telefon fragten Sie, ob ich über Nacht bleiben könne. Das heißt, Sie hatten ursprünglich sowieso vor, mich zu beherbergen, nicht wahr?«

»Ehrlich gesagt hatte das andere Gründe.«

»Nämlich welche?«

»Ich bin ein Nachtmensch. Tagsüber schlafe ich. Das Sonnenlicht bekommt mir nicht. Es macht alles so grell.«

Vor seinem inneren Auge korrigierte Justus das Bild von einem zerrupften Geier in einen mageren alten Uhu. »Wie dem auch sei, ich habe meine Schlafsachen dabei.«

Mr Carter blickte ihn zweifelnd an. Seine Gedanken waren nur zu deutlich in seinem Gesicht zu lesen: Er bereute es, Justus eingeladen zu haben, und wollte ihn so schnell wie möglich loswerden. Doch obwohl Mr Carter nicht gerade die Höflichkeit in Person war, brachte er es nicht fertig, den Ersten Detektiv zu so später Stunde in dieser gottverlassenen Gegend vor die Tür zu setzen. Er seufzte. »Also schön. Ich habe ein Gästezimmer. Albert wird es dir zeigen.« Der Hausherr trat auf die Wand zu, an der eine dunkelrote Samtschnur hing, die in verspielten Troddeln endete. Justus vermutete, dass sie zu einer Signalglocke für den Butler Albert führte. Er würde kommen, ihn in sein Zimmer bringen – und der Abend wäre gelaufen. Dafür war der Weg wirklich zu weit gewesen. Justus folgte einer plötzlichen Eingebung:

»Einen Moment noch!«, rief er, bevor Carter an der Schnur ziehen konnte.

Mr Carter fuhr zusammen und verzog das Gesicht wie unter Schmerzen. Sein rechter Arm zuckte in einer abwehrenden Geste hoch. »Still!«, befahl er zischend. »Sprich nicht so laut!«

»V…Verzeihung«, flüsterte Justus. »Ich wollte nicht –«

»Ich kann laute Geräusche nicht ertragen«, unterbrach ihn der Hausherr. »Laute Stimmen schon gar nicht. Sie bereiten mir Schmerzen.«

Justus erinnerte sich an die empörte Zurechtweisung des Bediensteten bei seinem frostigen Empfang und nickte. Wesentlich leiser, und damit leider auch viel unterwürfiger als geplant, fuhr er fort: »Mir kam gerade ein Gedanke.«

»Und der wäre?«, fragte Carter verärgert.

»Wenn ich ohnehin die Nacht in Ihrem Haus verbringe, wie Sie es von Anfang an geplant hatten – dann könnten Sie mir doch auch erzählen, um was für ein Rätsel es sich handelt, das Sie beschäftigt.«

Wieder schüttelte Carter den Kopf, diesmal lächelte er dabei, doch es lag keine Freundlichkeit darin. »Du gibst wohl nicht so schnell auf, was?«

»Das zeichnet einen guten Detektiv aus. Ebenso ein Sinn für effizientes Handeln. Und es ist vollkommen ineffizient, wenn Sie mich morgen unverrichteter Dinge abreisen lassen, denken Sie nicht?«

»Willst du mir etwas beweisen?«

»Um ehrlich zu sein, Sir, ja. Ich will Ihnen beweisen, dass es die richtige Entscheidung war, die drei Detektive zu engagieren, worum auch immer es sich bei Ihrem Problem handelt. Und dass es nicht klug ist, sich von Äußerlichkeiten wie beispielsweise meinem Alter beeinflussen zu lassen.«

Mr Carter antwortete nicht. Er ging wieder zurück zum Terrarium und betrachtete die Schlange. Dann griff er nach der kleinen Pappschachtel und hielt sie in beiden Händen wie einen wertvollen Schatz.

»Es kostet Sie keinen Cent, Sir«, versuchte Justus es noch einmal. »Sie müssen mir nur sagen, um was für ein Rätsel es geht, und wir werden sehen, was dabei herauskommt. Wenn ich Ihnen morgen früh keine Ergebnisse liefern kann, werde ich sofort abreisen. Ansonsten –«

»Ansonsten was? Das klingt ja fast wie eine Erpressung!«

»Aber nein, Sir! Ich wollte sagen, dass Sie sich ansonsten ja noch überlegen können, ob Sie jemand anderen engagieren wollen.«

Wieder schwieg Carter. Er öffnete den Deckel des Terrariums, griff hinein und streichelte die Schlange, die sich das reglos gefallen ließ. »Wusstest du, dass die Schlange ein Symbol für Weisheit ist?«

Justus nickte. »Das ist mir bekannt. Die Schlange hat jedoch in verschiedenen Kulturen noch andere symbolische Bedeutungen. Im alten Ägypten beispielsweise –«

»Die sieben Tore«, unterbrach Carter ihn schroff. »Ich möchte, dass du die sieben Tore findest.«

Justus wartete auf eine Erklärung. Doch es kam keine. »Die sieben Tore. Und worum handelt es sich dabei?«

»Das kann ich dir nicht sagen.«

»Sie können nicht oder Sie wollen nicht?«

»Die sieben Tore befinden sich hier auf meinem Grundstück«, ignorierte Mr Carter Justus’ Frage und fuhr fort, die Schlange zu streicheln. »Hinter den sieben Toren liegt ein Versteck. Und genau darum geht es.«

»Ich verstehe nicht ganz. Tore? Meinen Sie richtige Tore wie den Eingang zu Ihrem Haus? Und was für ein Versteck? Was befindet sich darin?«

»Wer sagt, dass sich darin etwas befindet?«

Justus runzelte die Stirn. »Ich verstehe. Sie suchen nach dem Versteck, weil Sie selbst dort etwas deponieren möchten?«

»Ich suche nach dem Versteck. Mehr musst du nicht wissen.«

»Das kommt darauf an. Im Laufe unserer Detektivkarriere habe ich immer wieder die Erfahrung gemacht, dass es oft die unbedeutend erscheinenden Details sind, die am Ende zu des Rätsels Lösung führen. Es wäre also durchaus ratsam, mich über alles in Kenntnis zu setzen: Was genau suchen Sie? Warum suchen Sie es? Woher wissen Sie, wo Sie es suchen müssen? Und warum suchen Sie es jetzt?«

Carter drehte sich wieder zu ihm um. Ein leises Lächeln umspielte seine schmalen, farblosen Lippen. Justus wusste nicht, ob es ein grimmiges oder ein amüsiertes Lächeln war. »Das sind ziemlich viele Fragen.«

»Es ist die Hauptaufgabe eines Detektivs, Fragen zu stellen. Die richtigen Fragen zur richtigen Zeit an die richtige Person. Darin liegt das ganze Geheimnis. Und da Sie mein Auftraggeber sind …«

»Ich bin nicht dein Auftraggeber, Justus Jonas. Betrachten wir es als Spiel. Du möchtest mir etwas beweisen und ich gebe dir die Chance dazu. Finde das Versteck hinter den sieben Toren! So lautet die Aufgabe. Wie du das anstellst – ist deine Sache.«