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Melanie Jungk

Schnapsleichenfund

Ein Fürstenauer Kriminalroman





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Begrüßung

 

 

 

 

Melanie Jungk

 

Schnapsleichenfund

 

Lieber Leser, liebe Leserin,

 

der folgende Kriminalroman spielt in dem schönen Städtchen Fürstenau im Osnabrücker Nordland. Die Örtlichkeiten der Stadt, das Schützenfest und auch die erwähnten Traditionen wurden so beschrieben, wie es sie auch wirklich gibt.

Hier und da wurden zum Wohle der Handlung kleine Veränderungen vorgenommen, die der Wirklichkeit nicht entsprechen.

Die Personen, sowie die Handlung wurden von mir frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind reiner Zufall und nicht gewollt.

Dies ist ein Fürstenauer Kriminalroman, und der beginnt so …

 

Prolog

An diesem Morgen schien die Julisonne        besonders hell, so empfand er es zumindest. Vielleicht lag es auch daran, dass er bis in die frühen Morgenstunden auf dem örtlichen Schützenfest getanzt und getrunken hatte. Der Anruf vor einer halben Stunde hatte ihn aus dem kurzen Schlaf gerissen:

„Du musst einspringen, Thorsten ist nicht gekommen! Jetzt habe ich hier eine Gruppe von elf Leuten stehen, die eine Stadtführung gebucht haben“, sagte eine ihm vertraute Stimme am anderen Ende der Leitung.

„Dir auch einen schönen guten Morgen!“, brummte er verschlafen. „Was heißt, ich soll einspringen? Thorsten liegt bestimmt besoffen im Salz, schmeiß ihn aus dem Bett und nicht mich. Ich bin heute nicht dran.“

„Würde ich ja gerne, aber der Kerl ist heute Nacht nicht nach Hause gekommen und seine Frau weiß nicht, wo er ist. Ich habe keine Zeit mehr, ihm hinterherzutelefonieren.“

Er seufzte. „Oh man, es ist kurz nach neun und ich bin gefühlt erst seit einer viertel Stunde im Bett. Kann nicht Margret...?“

„Nein, kann sie nicht, sie hat um zehn Uhr   selber eine Führung. Jetzt steh auf und beeil dich, die Leute warten schon!“

Danach hörte er nur noch das Geräusch, das ein Telefon macht, wenn am anderen Ende aufgelegt wurde.

Inzwischen war er geduscht und angezogen. Sein Kopf tat weh und er hatte schrecklichen Durst. Er spülte eine Kopfschmerztablette mit dem Rest Kaffee in seiner Tasse hinunter, nahm sich eine Flasche Wasser und verließ seine Wohnung. Zum Glück musste er nicht weit laufen. Die Stadtführungen begannen immer beim alten Rathaus auf dem Marktplatz. Zu Fuß brauchte er nur fünf   Minuten, Auto fahren hätte er wegen der vielen Gläser Bier gestern eh noch nicht dürfen. Hoffentlich würde er sich an die Texte erinnern. Als er um die Ecke bog, sah er die Gruppe schon vor dem Rathaus stehen.

Na toll, dachte er, genau das, was ich jetzt brauche! Wie gerne wäre er jetzt noch im Bett. Die Tablette wirkte noch nicht. Er blieb kurz stehen, trank einen großen Schluck Wasser, atmete tief durch und ging auf die Wartenden zu.

„Guten Morgen, meine Damen und Herren, mein Name ist Hubert Kamp. Ich bin für die  nächsten anderthalb Stunden Ihr Stadtführer. Ich muss mich für die Verspätung entschuldigen, mein Kollege kann aus gesundheitlichen Gründen leider nicht kommen. Aber jetzt bin ich ja da und wir fangen auch sofort an.“

Eine halbe Stunde später stand Hubert mit  seinen Führungsteilnehmern vor den Schloss-gebäuden der Stadt. Zur Schlossanlage gehört eine große katholische Kirche, mehrere von der Stadtverwaltung und dem Kulturring genutzte Gebäude, ein großes Nebengebäude, in dem ein Restaurant untergebracht ist, sowie ein renoviertes ehemaliges Gefängnis. Nun stand die Kirche auf dem Plan. Hubert führte die Gruppe in den Altarraum, in die Sakristei und auf den Orgelboden, während er  erzählte. Anschließend gab er den Leuten noch etwas Zeit, sich die Kirche auf eigene Faust anzuschauen. Hubert brauchte etwas frische Luft und dringend eine kleine Pause. Nach und nach trat die Gruppe aus der Kirche in die Sonne.

„Meine Damen und Herren“, begann Hubert, als sich alle auf dem Kirchenvorplatz wieder eingefunden hatten, „jetzt kommen wir zu einem der vielen Höhepunkte der Stadtführung. Gleich hier um die Ecke steht ein Gebäude, das erst vor     Kurzem fertig gestellt wurde. Über Jahre hinweg wurde es zuerst komplett freigelegt und dann   originalgetreu wieder aufgebaut. Sie werden    staunen. Bitte folgen Sie mir!“ Er ging voran und die Gruppe folgte ihm. Als sie das Gebäude sahen, ging ein Raunen durch ihre Reihen. Vor dem Eingang blieb Hubert stehen und drehte sich zu den Lauschenden um.

„Wie Sie sehen können, handelt es sich um ein Gefängnisgebäude. Es besteht aus drei so-genannten Arrestzellen, einem Raum, in dem die Gefangenen gefoltert wurden, und einem großen Vorraum. Die Räume wurden möglichst originalgetreu wieder hergerichtet. Die Arrestzellen hat man nach unterschiedlichen Aufzeichnungen aus verschiedenen Epochen wieder aufgebaut. Das obere Stockwerk ist leider noch baufällig und nicht begehbar. Ich hoffe, Sie sind alle lieb und artig gewesen, denn wir gehen jetzt mal rein und   schauen uns alles an. Sollte natürlich Ihr Name auf der Fahndungsliste stehen oder Ihr Steckbrief an der Wand hängen, darf ich Sie leider nicht wieder rauslassen!“ Die Gruppe lachte.

„Ich darf bitten“, sagte Hubert und ging voran zur Tür. Die Eingangstür war nicht verschlossen.

Nanu, dachte er, warum ist hier denn nicht abgeschlossen? „Hallo?“, rief er. Antwort kam keine. Komisch, dachte er, er hatte genau gesehen, wie Thorsten nach der letzten Führung am Vortag abgeschlossen hatte. Wer könnte denn hier gewesen sein?

Thorsten! Hoffentlich liegt er jetzt nicht voll wie ein Eimer in einer Zelle. Da die Gruppe ihm murmelnd folgte, konnte er nichts dagegen       machen, wenn sie ihn jetzt entdecken würden. Die Kopfschmerzen meldeten sich zurück. Eigentlich wäre es die gerechte Strafe für Thorsten, wenn sie ihn jetzt schlafend finden würden. Hubert ver-suchte, sich wieder zu konzentrieren. Im Vorraum des Gefängnisses trug er seinen Text vor und führte die Gruppe zur ersten Arrestzelle. Mit          klopfendem Herzen öffnete er die Tür. Sie     schauten in die Zelle – sie war leer. Wie es die Führung verlangte, führte er die Gruppe in das Verlies und schloss die Tür von außen ab. Dann öffnete er die kleine Klappe in der Tür. Nun     erzählte er die an dieser Stelle vorgesehenen Schaueranekdoten. Er machte die üblichen Scherze über ein rostiges Schloss, das angeblich nicht mehr aufging, und entschuldigte sich dafür, dass nun alle die Nacht in der Zelle verbringen müssten. Die Leute lachten und einige machten ihrerseits  Scherze. Dann ließ er die Menschen wieder heraus und alle waren erleichtert.

Die zweite Arrestzelle war nur mit Gittern versehen, so dass Hubert schon gesehen hatte, dass Thorsten hier auch nicht lag. Auch zu dieser Zelle gab es eine Geschichte.

In der letzten Zelle gab es nicht einmal ein Bett. Auf dem Boden lag nur etwas Stroh. Hubert lachte vor sich hin. Er konnte seine Schadenfreude nicht unterdrücken. Das wäre die gerechte Strafe, wenn Thorsten da jetzt im Stroh schlafend ge-funden werden würde.

„Und nun“, sagte er mit einem breiten Grinsen „kommen wir in unser schönstes Zimmer.“ Er  öffnete die Tür und sah – nur das Stroh. Enttäuscht sah er sich noch einmal um, aber das Verlies war leer. Nachdem er seinen Text für diesen Kerker aufgesagt hatte, führte er die Leute wieder in den Vorraum.

„So, nun kommen wir an einen Ort mit       düsterer Vergangenheit. Hier sind wirklich schlimme Dinge geschehen, deshalb lassen wir die Scherze lieber draußen und gehen mit viel Respekt hinein – in die Folterkammer.“ Alle wurden still. Hubert ging voran und öffnete langsam die Tür. Die Gruppe folgte ihm betreten. Es sagte immer noch keiner etwas. Der Stadtführer trat in den Raum, schaltete das Licht an und ließ die        Menschen hinein. Plötzlich war die Stille verschwunden. Die Frauen schrien, die Männer    teilweise auch. Hubert schreckte zusammen und schaute um die Tür herum zum anderen Ende des Raumes, dahin, wohin alle starrten. Er traute    seinen Augen nicht. Sein Mund öffnete sich langsam, aber er brachte keinen Ton raus. Die ersten Teilnehmer der Führung verließen bereits den Raum, manche blieben wie angewurzelt stehen, andere fingen an, zu weinen. Hubert war immer noch unfähig zu reagieren. Erst als einer der   Männer näher trat und die Flasche anfasste, kam seine Stimme zurück.

„Nein, nichts anfassen!“, schrie er lauter, als er wollte, doch es war schon zu spät. Der Mann hatte den Flaschenhals bereits angefasst, schreckte aber beim Klang von Huberts Stimme zurück. „Bitte verlassen Sie jetzt alle vorsichtig den Raum“,  redete Hubert jetzt erstaunlich ruhig und leiser weiter, „und warten Sie auf dem Platz vor dem Gebäude, wir müssen hier schnellstmöglich raus!“ Als hätten sie nur auf diese Worte gewartet, gingen alle hinaus. Der Mann, der die Flasche angefasst hatte, folgte ihnen mit rotem Kopf. Es wurde ihm erst jetzt bewusst, was er gemacht hatte. Als alle draußen waren, fasste Hubert sich ans Kinn.

„Das kann doch nicht wahr sein!“, sagte er zu sich selber. Er hatte es noch nicht wirklich          begriffen. Er schüttelte den Kopf. Nervös ging er hin und her. Jetzt musste er handeln, er hatte hier die Verantwortung. Er nahm sein Handy und  wählte die Notrufnummer der Polizei, das fiel ihm als Erstes ein.

„Hallo?“, sagte er, als er eine Stimme am     anderen Ende hörte. „Sie müssen unbedingt ein paar Polizisten in das alte Gefängnisgebäude in Fürstenau schicken. Hier liegt ein toter Mann in der Folterkammer.“ Er hörte der Stimme zu.

„Ja. Ich bin Hubert Kamp, einer der Stadt-führer. Ich bin mit einer Gruppe hier.“ Wieder hörte er zu.

„Ich habe alle rausgeschickt.“

Die Stimme am anderen Ende der Leitung stellte weitere Fragen.

„Ja, ich bin sicher, dass er tot ist. Er hat einen Flaschenhals in der Brust und hier ist Blut. Angefasst habe ich ihn nicht, aber ich bin sicher, dass er tot ist. Ich möchte ihn auch nicht anfassen, ich kenne ihn nämlich!“

Die Stimme am anderen Ende unterbrach ihn.

„Genau, ein Flaschenhals“, antwortete Hubert. „Ja, ich kenne ihn. Es ist Thorsten Holzmann, er wird bereits vermisst, ich bin heute für ihn eingesprungen, dachte, er schläft sich hier seinen Rausch aus, die Tür war nämlich auf und nicht abgeschlossen, aber ich habe gestern selber      gesehen, wie Thorsten abgeschlossen hat, das weiß ich ganz genau und jetzt habe ich ihn doch noch gefunden, aber anders, als ich dachte,“ sprudelte es aus ihm heraus.

Er unterbrach sich kurz und meinte dann: „Scheiße, ich kann`s nicht glauben, Thorsten   wurde ermordet! So was passiert doch nur im Fernsehen!“

Wieder erklang die andere Stimme.

„Woher ich das weiß?“, erwiderte der Stadtführer. „Nun, Thorsten liegt hier vor mir in der Folterkammer des Gefängnisses mit einem abgeschlagenen Flaschenhals in der Brust und mit   beiden Händen an zwei Ringen in der Wand    gefesselt! Schicken Sie jetzt Ihre Kollegen her?“

Eins

 

In der Hauptstadt von Niedersachsen half Kommissar Arne Mayer seiner Frau gerade, die Kartoffeln für das übliche Sonntagsessen zu    schälen, als das Telefon klingelte.

„Ich gehe schon“, rief seine Tochter und rannte sofort los. „Hallo Jasmin“, hörte er sie sagen. Er rollte die Augen. Oh nein, nicht heute, dachte er. „Gut! Wir haben gestern gewonnen, drei zu null gegen eine Mannschaft, in der nur Jungs waren!“ Es entstand eine kurze Pause. Arne stand auf und wusch sich die Hände.

„Ich war im Tor und habe alle Bälle gehalten. Jetzt sind wir auf Platz zwei in der Tabelle! Cool, oder?“

Er trat in den Flur und stellte sich neben sie. Seine Tochter drehte sich zu ihm um und sah ihn an.

„Du willst sicher Papa sprechen, der steht jetzt neben mir“, sagte sie und reichte ihm den Telefonhörer. Er nahm ihn entgegen und begann mit einem bestimmenden Tonfall: „Hallo, liebe Jasmin! Bitte sag mir, dass du nur anrufst, weil du fragen willst, ob wir heute Abend das Fußballspiel zusammen schauen wollen. Alles andere will ich nicht hören.“

Nun hörte er ihre Stimme sagen: „Eh, hallo Arne! Wollen wir heute Abend zusammen das Fußballspiel schauen?“

Er war für einen kleinen Moment erleichtert, dann kamen ihm Zweifel. Er fragte: „Meinst du das jetzt ernst? Du rufst wirklich wegen des Spiels an?“

„Nein“, antwortete seine Kollegin, „aber du wolltest das andere doch nicht hören!“

„Sehr witzig“, sagte er. „Was gibt’s?“

„Du wirst es mir nicht glauben: Wir haben  Arbeit.“

„Ist nicht wahr! Was ist passiert?“

„Eine Leiche wurde gefunden.“

„Tatsächlich? Na, da wir von der Mordkommission sind, nehme ich an, es hat jemand nachgeholfen?“

„Ganz genau.“

„Wo?“

„In Fürstenau.“

„Wo??“

„In Fürstenau!“, wiederholte sie jetzt lauter. „Fürstenau ist ein kleiner Ort in der Nähe von  Osnabrück.“

„Hast du getrunken? Wir sind hier in         Hannover. Wir sind da gar nicht zuständig.“

„Jetzt schon.“

„Könntest du bitte in ganzen Sätzen sprechen und mir erklären, was passiert ist?“, fragte Arne ungeduldig. Am heiligen Sonntag hatte er für   derartige Späße keinen Sinn.

„Also“, begann Jasmin und Arne hörte an ihrer Stimme, dass sie sehr verärgert war.

„In Osnabrück herrscht mal wieder Personalmangel. Alle verfügbaren Kräfte, die weder krank noch in ihrem Sommerurlaub sind, sind wegen des Mordes in irgendeinem Kirchinnenhof in           Osnabrück nicht abkömmlich. Ein Fußballspiel findet heute, glaube ich, auch noch statt.“

„Stimmt, VfL gegen …“

„Ist mir so was von egal! Auf jeden Fall    müssen Kollegen von uns aushelfen und rate mal, wer ausgewählt wurde.“

„Wir beide?“

„Der Kandidat hat 100 Punkte! Sieht so aus, als könnten wir uns diesmal nicht davor drücken. So hat es der Chef zumindest gesagt. Wir wären auch mal dran. Er hat sich meine Argumente nicht einmal angehört.“

Arne überlegte kurz. „Und wir müssen        wohin?“

„Nach Fürstenau, sag` ich doch! Denn nicht, dass es schon schlimm genug wäre, dass wir nach Osnabrück in die Provinz müssen, nein, es muss noch einer daraufgesetzt werden und wir müssen in die Pampa. Du kannst schon mal packen, unsere Zimmer sind bereits gebucht. Im besten Hotel im Ort, was immer das auch heißt, in so einem Kaff.“

„Was ist denn jetzt genau passiert?“

„Ein Mann wurde in dem örtlichen                historischen Gefängnisgebäude tot aufgefunden. Mehr weiß ich auch nicht. Also, ich hole dich in einer halben Stunde ab. Was zieht man denn an auf dem Land? Ich habe gar keine Gummistiefel. Was muss ich denn wohl alles mitnehmen? Du kennst dich doch aus, kommst doch selber vom Land.“

Arne schmunzelte und Jasmin überlegte: „Ich glaube, mein neues Kostüm nehme ich nicht mit. Ich will ja nicht auffallen, aber ich ziehe auf gar keinen Fall diese komischen Sandalen an. Oder etwa diese schrecklichen Plastikschuhe. Grauenhaft! Hoffentlich gibt es da etwas Vernünftiges zu essen.“ Wenn er seine Kollegin nicht schon so lange kennen würde, hätte er sich jetzt gewundert. Er aber nahm es mit Humor. Er wusste, dass sie es nicht so meinte. Sie wurde in Berlin geboren und war nur das Stadtleben gewohnt. Ihre finanzielle Situation ermöglichte es ihr bereits als Kind, nur in den luxuriösesten Hotels der Metropolen dieser Welt Urlaub zu machen. Das Landleben war für sie ein unvorstellbarer Horror, denn eigentlich war ihr Hannover schon zu klein. Sie träumte davon, ihren Lebensabend in New York zu verbringen. Er überlegte kurz und sagte dann: „Also, ich würde flache Schuhe mitnehmen, wegen des Kopfsteinpflasters und der nicht ausgebauten Straßen. Aber aus gut informierten Kreisen habe ich erfahren, dass auch auf dem Lande jetzt Strom aus der Wand kommt. Deinen Föhn kannst du also ruhig einpacken.“ Er musste lachen.

„Ha, ha“, antwortete sie etwas verärgert, „ich hole dich also gleich ab. Tschüss!“ Damit legte sie auf. Die Arme, dachte er, das ist eine richtige  Strafe für sie. Er legte den Hörer auf und ging ins Schlafzimmer. Arne nahm seine Reisetasche vom Kleiderschrank und fing an, ein paar Sachen achtlos hineinzupacken. Seine Frau trat ins Schlafzimmer und fragte: „Du verreist?“

„Ja“, antwortete er, ohne sie anzusehen,   „Jasmin hat mich gerade angerufen. Sie will mit mir durchbrennen und auf einem Bauernhof leben. Sie holt mich gleich ab.“ Seine Frau sah ihn an.

„Ja, genau“, sagte sie lächelnd. Als er nicht  reagierte, fuhr sie fort: „Okay, sie holt dich ab. Super, dann behalte ich ja das Auto. Das ist gut, brauche ich nämlich morgen. Oh, dann kann ich Roy ja Bescheid geben, dass wir uns nicht mehr in dem schäbigen Hotel treffen müssen. Soll ich dir beim Packen helfen?“

Arne drehte sich zu ihr um: „Roy? Ich dachte, dein Hausfreund heißt Paul?“ „Nein, Paul war mal, jetzt ist Roy dran!“

Sie sahen sich an, fingen an zu lachen und   gaben sich einen Kuss. Sie ging zu seinem Koffer und nahm die Kleidungsstücke wieder heraus, legte sie ordentlich zusammen und wieder hinein. Arne sah seine Frau liebevoll an. Sie waren nun schon fast 20 Jahre verheiratet und er liebte sie immer noch wie am ersten Tag. Schon alleine für die Tatsache, dass er sie hier in Hannover kennengelernt hatte, hatte sich sein Umzug in die Großstadt gelohnt. Er war froh, jemanden gefunden zu haben, der seinen Humor und auch noch seine Macken teilte. Er seufzte zufrieden, verließ das Schlafzimmer und betrat sein Büro. Er überlegte kurz, was er einpacken musste. Fürstenau, wo lag das denn überhaupt? Er schaltete seinen Laptop ein und suchte sich einen Routenplaner. Während er den Namen der Stadt noch eingab, klingelte es an der Tür. War das etwa schon Jasmin? War sie schon fertig mit Packen? Dann war sie wirklich schnell. Ganz untypisch für eine Frau, die so viel Wert auf ihr Äußeres legte.

Der Kommissar ging zur Wohnungstür und sprach in die Freisprechanlage. Als Jasmin sich meldete, drückte er den Türöffner. Nachdem er die Wohnungstür ein kleines Stück geöffnet hatte, ging er zurück in sein Büro.

„Hi“, hörte er Jasmins Stimme und gleichzeitig die Wohnungstür ins Schloss fallen. Dann vernahm er die Schritte seiner Frau auf dem Flur. „So, du willst also mit meinem Mann durchbrennen und auf einem Bauernhof leben? Wie lange geht das schon mit euch?“ Ups, dachte er und stand sofort auf, um zu den Frauen zu gehen.

„Was?“, fragte Jasmin und sah Arnes Frau mit großen Augen verständnislos an.

„Ist schon okay“, redete diese weiter, „aber die Kinder müsst ihr auch mal nehmen.“

„Hör nicht auf sie“, sagte Arne, als er die Frauen erreicht hatte, „ist nur ein kleiner Scherz zwischen uns beiden. Sie will dich nur veräppeln.“

„Aha“, sagte Jasmin und sah etwas verwirrt von einem zum anderen.

„Komm“, sagte Arne, „ich wollte gerade schauen, wo genau Fürstenau liegt, oder weißt du das schon?“ Mit diesen Worten packte er Jasmin am Arm und zog sie in sein Büro. Sie folgte ihm und seine Frau ging grinsend zurück ins Schlafzimmer.

Kurze Zeit später saßen sie zusammen im Auto und fuhren auf der Autobahn in westlicher      Richtung. Nun wusste Arne auch, warum Jasmin so schnell bei ihm war. Der Anzahl der Koffer nach hatte sie ihre gesamte Garderobe mit-genommen. Er hatte sich beim Einsteigen in das Auto einen Kommentar nicht verkneifen können. Nun saßen sie schweigend nebeneinander. Nicht einmal das Radio lief. Arne sah zu seiner Kollegin      hinüber. Sie trug einen kurzen Jeansrock und eine rosafarbene, modische Bluse. Arne schaute an sich herunter. Seine blaue Jeans, seine braunen Halbschuhe und sein beiges Polohemd wirkten eher langweilig neben ihr. Das änderte auch der dunkelblaue Blaser nicht, den er trug. Sie hatte ihre    langen, blonden Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und ihr Gesicht war dezent geschminkt. Jasmin hatte ihren 40. Geburtstag vor ein paar Jahren ganz groß gefeiert und kein     Problem mit dieser Zahl. Sie hatte sich bewusst gegen Kinder entschieden und war sich in dieser Frage mit ihrem Mann einig. Arne schüttelte bei dem Gedanken den Kopf: Ein Leben ohne seine zwei Kinder konnte er sich nicht vorstellen. Da Jasmin stets Sport trieb, hatte sie einen perfekten und durchtrainierten Körper. Arne sah sie von der Seite an und überlegte, ob er sie schon vorher einmal mit einem Pferdeschwanz gesehen hatte. Er konnte sich nicht daran erinnern. Gedanken-verloren strich er sich durch sein kurzes, braunes Haar. Das Lied der Schlümpfe unterbrach die   Stille. Beide sahen sich fragend an.

„Es kommt aus deiner Jacke“, sagte Jasmin. Arne griff nach seinem Handy. Als er es aus seiner Jackentasche nahm, wurde das Lied lauter.

„Sebastian!“, sagte er nur.

Jasmin sah ihn stirnrunzelnd an und fragte: „Hast du das Handy deines Sohnes mitgenommen?“

„Nein, das ist ein neues Spiel zwischen uns. Wir ändern heimlich den Klingelton des anderen. Neulich an der Fleischtheke hörten alle um mich herum das Lied vom Pumuckel. Dafür hatte er von mir das Lied `Mama´ von Heintje bekommen.  Natürlich habe ich ihn angerufen, als er mit seinen Kumpels zum Fußballtraining gefahren ist! Seine Freunde fanden es witzig. Sie rufen ihn bei jedem Treffen erst einmal an, um zu hören, welchen Klingelton er gerade hat. Jetzt passt jeder von uns immer gut auf sein Handy auf. Hat bei mir wohl nicht so gut geklappt. - Ja, Mayer?“

Jasmin musste lachen. Sie wäre gerne dabei gewesen, als Arne an der Fleischtheke nach seinem Handy gesucht und laut die Stimme von Pumuckel gesungen hatte.

„Ok, dann schieß mal los, ich hab` gerade Zeit“, hörte sie ihn sagen. Nun folgte eine lange Zeit des Zuhörens, jedenfalls kam es ihr so vor. Sie hörte Arne zwischendurch `ja´ und `hm´ sagen, bekam aber nicht mit, was am anderen Ende gesprochen wurde.

„Gut, das ist ja immerhin schon mal was. Wir sind auch bald da. Wenn ihr noch was Wichtiges habt, können wir ja noch mal telefonieren. Bis gleich. Danke.“ Dann legte er auf.

„Und?“, fragte sie ungeduldig.

„Ach ja, du fährst gut, machst du toll, suuper“, antwortete er grinsend.

Sie rollte die Augen. „Weißt du jetzt mehr?“

„Also, der Amtsarzt war schon am Tatort,    bevor die Spurensicherung da war. Der Tote ist irgendwann in der Nacht von Samstag auf Sonntag verstorben. Genauer Todeszeitpunkt später. Frank ist mit seinem Team vor Ort und hat schon mächtig mit allen geschimpft, weil so viele den Tatort   betreten haben. Wir sollen uns beeilen. Wann sind wir da?“

„So in einer Stunde. Wer ist der Tote?“

„Er heißt Thorsten Holzmann und war 37 Jahre alt. Er wurde in der Folterkammer des               restaurierten, alten Gefängnisgebäudes gefunden. Seine Hände waren an zwei Ringe gefesselt, die an der Wand hängen und in seinem Körper steckte der Flaschenhals einer Schnapsflasche.“

„Einer Schnapsflasche?“, wiederholte sie    ungläubig.

„Ja, einer Kräuterschnapsflasche, um genau zu sein. Es handelt sich also um einen             Schnapsleichenfund!“, antwortete Arne. Beide lachten laut.

„Das ist aber makaber“, sagte Jasmin und schaltete das Radio ein.

Zwei

 

Ein Auto mit dem Kennzeichen `H´ für     Hannover fuhr vorbei. Zwei Personen saßen drin, ein Mann und eine Frau, die den Wagen lenkte. Leichte Panik stieg auf. Das waren bestimmt die ermittelnden Kommissare. Wie im Fernsehen  fuhren sie die luxuriöse Ausführung einer        deutschen Automarke, deren Neupreis das eigene Jahreseinkommen überstieg. Was war zu tun? Als Erstes war Ruhe zu bewahren. Bisher hatte alles gut geklappt. Es gab keine Augenzeugen, das war ziemlich sicher. Vielleicht ein paar, die das      Aufeinandertreffen gesehen hatten, aber das war ja nichts Ungewöhnliches. Was später geschehen war, hatte kein Dritter mitbekommen. In dieser Nacht waren viele Menschen unterwegs. Viele Menschen, aber keine aufmerksamen Beobachter. Wenn man nicht entdeckt werden will, dann wird man auch nicht entdeckt. Auch in einer Nacht nicht, in der die halbe Stadt unterwegs ist. Was war mit den Spuren? Die Spuren an der Flasche waren das Einzige, um das man sich Sorgen machen musste. So ein Ärger, dass das Abwischen des Flaschenhalses vergessen wurde. Die Spuren an den Türen, der Vitrine im Folterraum usw. waren alle erklärbar, nur an dieser blöden Flasche nicht! Aber schließlich hat doch jeder mal Glück im  Leben. Im eigenen war das Glück bisher eher   zurückhaltend gewesen, deshalb war es jetzt wohl an der Zeit, Glück zu haben. Und sonstige Spuren? Fußabdrücke? Waren wahrscheinlich vorhanden, aber auch zu erklären. Zum Glück war nur auf der Schuhspitze etwas Blut und nicht an der Sohle. Auch darauf wurde geachtet. Nicht ins Blut treten. Der Fleck auf dem Schuh ließ sich abwischen. Klar, mit einem entsprechenden Gerät wie im Fernsehen konnte die Polizei das Blut wieder sichtbar machen. Aber mit so einem Gerät liefen sie ja nicht ständig herum. Wir sind hier schließlich nicht in Miami und die Polizei ist nicht die CSI! Und die Kleidung? Die war auch ein       Problem, aber nur ein kleines. Die durfte nur nicht entdeckt werden. Sie zu entsorgen war jetzt gerade nicht sehr schlau. Also, das Wichtigste war im Moment, Ruhe zu bewahren. Die Kleidung, die gerade getragen wurde, war sauber. Die Schuhe geputzt, man selber geduscht. Nichts konnte auf die Geschehnisse der letzten Nacht hindeuten. Einfach nur Ruhe bewahren und abwarten. Ruhe bewahren.

Das war das Schwierigste. Schließlich war er der erste Tote, den man selber zum Toten gemacht hatte. Der Kopf tat weh. Kam das vom Alkohol oder von dem, was geschehen war? Meldete sich das schlechte Gewissen? Nun war keine Zeit für das schlechte Gewissen. Nun galt es, sich        möglichst unauffällig zu verhalten, denn die beiden Personen aus Hannover stiegen gerade aus dem Auto.