Ulrike Herwig

Oskar an Bord

Roman

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Über Ulrike Herwig

Ulrike Herwig war lange Jahre Deutschlehrerin in London. Heute lebt sie mit ihrer Familie in Seattle/USA, wo sie sich in jeder freien Minute dem Schreiben widmet.

Über das Buch

Tina und Markus sind seit fast 20 Jahren verheiratet und ihre Liebe hat schon mal bessere Zeiten gesehen. Alltagsroutine, Ärger im Job, der dauerpubertierende Sohn und die nicht enden wollenden Geldsorgen belasten sie. Eines Tages brennen bei Markus die Sicherungen durch. Er überfällt eine Tankstelle — und seine Frau wird zufällig Zeugin. In Panik flüchten die beiden mit dem nächstbesten Auto, nicht ahnend, dass in diesem der 87-jährige Oskar sitzt. Der sollte gerade von einer Pflegeeinrichtung in die nächste transportiert werden. Oskar ist hellauf begeistert, dass endlich mal wieder etwas los ist, und entpuppt sich als ein mit allen Wassern gewaschener Ex-Kleinkrimineller. Verfolgt von der Polizei und sensationsgierigen Medien beginnt für die drei das Abenteuer ihres Lebens.

Impressum

Unbekürzte Ausgabe 2018

© 2015 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Umschlaggestaltung: dtv unter Verwendung eines Bildes von Gerhard Glück

 

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eBook-Herstellung im Verlag (01)

 

eBook ISBN 978-3-423-42824-8 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-21710-1

 

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website www.dtv.de/ebooks

ISBN (epub) 9783423428248

1

Der Tag hatte als Griff ins Klo begonnen und steigerte sich allmählich zu einem Griff in die gesamte Kanalisation der Stadt.

Am Morgen hatte Tina feststellen müssen, dass das gemeinsame Konto wieder mal überzogen war und sie noch eine ganze Woche bis zum nächsten Lohn ausharren mussten. Der Streit darüber mit Markus war heillos außer Kontrolle geraten, und wenn Tina nur an die kommende öde Woche voller Nudeln und Ketchup und langer Gesichter dachte, wäre sie am liebsten sofort nach Australien ausgewandert. Alleine. Aber dafür fehlte selbstredend das Geld.

Der rettungslos stumpfsinnige Job beim Fashion World-Katalog trug kaum zur Verbesserung ihrer Laune bei, ganz im Gegenteil. Zumal Tina gerade kostbare Zeit ihrer Mittagspause verlor, weil die Hälfte der Kollegen krank war und irgendeine zögerliche Kundin am Telefon sich nicht entscheiden konnte, ob sie die Bermudashorts Größe 50 lieber in Rostrot oder Nugatbraun bestellen sollte. Irrelevant übrigens, wie Tina heimlich fand, weil sie beide scheußlich aussahen.

Sie schielte zu Marion, ihrer Kollegin am Nachbartisch, die gerade lustlos durch den Katalog blätterte. »Meinen Sie jetzt den Kordblazer in Grüngelb?«, hörte Tina sie ins Telefon fragen. Tina unterdrückte ein Lachen. Der Kordblazer in Grüngelb war von ihr und Marion zum absoluten Hassobjekt der Frühjahrskollektion gewählt worden. Wer den anzog, lief herum wie SpongeBob. Marion sah jetzt zu Tina und verdrehte die Augen. Tina deutete als Antwort ein pantomimisches Würgen an. Sie grinsten sich an. Wenigstens hatte Tina hier in diesem Saftladen eine Seelenverwandte.

»Ich weiß nicht«, seufzte Tinas Kundin jetzt am anderen Ende der Leitung. »Das Nugatbraun ist schon schick, aber das Rostrot ist auch nicht übel. Was meinen Sie denn?«

»Beide Shorts sind sehr hübsch und hochwertig.« Fingertrommeln.

»Na, ja … Hm.«

»Vielleicht möchten Sie erst in Ruhe zu Hause auswählen und später noch mal zurückrufen?«, schlug Tina mit einschmeichelnder Stimme vor. »Machen Sie doch erst mal Mittagspause.« Kleiner Wink mit dem Zaunpfahl. »Und melden Sie sich in einer Stunde oder so wieder, Frau …« Tina schielte auf den Bildschirm mit der Kundennummer. Wie hieß die gleich?

Am anderen Ende herrschte konsterniertes Schweigen. Dann erklang die Stimme wieder, sichtlich beleidigt. »Scheller. Herr Scheller.«

Ach du Schande! Die Kundin war ein Mann!

»Oh, ich …« Tina schluckte, tausend Entschuldigungen rasten durch ihren Kopf, aber keine passte, und deshalb versetzte sie Herrn Scheller den Todesstoß aller Kundenbetreuer: Sie unterbrach einfach die Verbindung.

Zum Glück merkte ihre Chefin nichts, denn die hackte gerade auf der armen Marion herum, und Tina schnappte ihre Handtasche und floh hinaus in die Freiheit, an die frische Luft, auch wenn es draußen bereits 28 Grad im Schatten waren. Sie wollte zu ihrem Stammbäcker, um sich das einzig Gute zu gönnen, was dieser Tag ihr zu bieten hatte: ein knuspriges belegtes Ciabatta-Brötchen mit Rucola, Tomaten und Mozzarella. Für zehn Minuten Kauvergnügen würde das Brötchen Tina in ein paralleles Universum entführen. Nach Italien in ein laues, sorgloses Leben voller Olivenhaine und Basilikum, in ein weißes Häuschen bei einer kühlen Meeresbrise und …

Der Bäcker hatte zu.

Das durfte doch nicht wahr sein, verdammt noch mal! Weit und breit gab es kein anderes Geschäft mit Lebensmitteln, außer der Tankstelle unten an der Straße.

»Haste mal ’n Euro?«, bettelte nun auch noch eine Stimme von links. »Für die Morli?« Neben Tina war die verrückte alte Frau mit dem Strohhut aufgetaucht, die in einer der betreuten Wohnanlagen in der Nähe wohnte und den ganzen Tag lang durch die Straßen schlich und ihre Katze in einer Strandtasche herumtrug. Nein, hab ich nicht, lag es Tina auf der Zunge. Genau genommen habe ich noch ganze fünf Euro, und die sind für mein Brötchen und ein Getränk. Für heute und morgen. Wenn das überhaupt reicht, so teuer, wie das Zeug an der Tanke da unten ist.

»Die Morli hat Hunger.« Die alte Frau war unglaublich dick angezogen, roch streng, hatte rote Bäckchen wie ein Kind und streichelte ihre Katze.

Tina zögerte kurz, dann reichte sie der Frau einen Euro. »Na klar, hier.« An diesem schrecklichen Tag heute war eh alles egal. Wenigstens bin ich noch nicht völlig übergeschnappt und laufe im Hochsommer mit Strohhut, Fellweste und Katze durch die Gegend, dachte Tina. Sie war ja schon für Kleinigkeiten dankbar.

»Danke, Mensch, das kriegste irgendwann tausendfach wieder!«, sagte die alte Frau und lächelte ein zahnloses Lächeln.

Tina lächelte nachsichtig zurück. Ein Euro, der mit tausend Geschwistern zurückkehrte, war immer willkommen, gar keine Frage. Wie war das noch mal mit dem guten Karma? Alles Gute kehrt zu dir zurück?

Prompt rauschte ein Audi R8 vorbei und spritzte Tina voller Pfützenwasser, ein letzter Gruß des lächerlich kleinen Gewitters vom Vorabend. Am Steuer des Wagens saß ein junger Mann, kaum älter als Tinas Sohn Paul. Fassungslos blickte sie ihm hinterher. Wie konnte das sein? Wie konnte es sein, dass ein junger Mensch so schlechte Manieren und so viel Geld hatte, während Tina und Markus trotz ihrer nervigen Vollzeitjobs nie auf einen grünen Zweig kamen? Die jungen Leute handelten wohl alle mit Drogen. Was sonst brachte denn so viel Geld ein? Erst neulich hatte man in Pauls Schule einen Drogendealer aus der neunten Klasse geschnappt, der seine Asperger-Pillen pulverisiert und für teures Geld als Crack an seine Klassenkameraden verkauft hatte. So viel Dreistigkeit und Entrepreneurgeist waren schon fast wieder bewundernswert, fand Tina. Manchmal konnte man von der Jugend direkt noch was lernen. Sie hielt die restlichen vier Euro fest in der Hand, seufzte und marschierte in Richtung Tankstelle.

 

Fahles Neonlicht verlieh der Tankstelle das gemütliche Ambiente einer Leichenhalle, ein Eindruck, der durch die hinter der Kasse mit offenem Mund vor sich hin dämmernde Verkäuferin in gelber Kittelschürze noch verstärkt wurde. Tina sah sich um. Ganz offensichtlich war das von Autofahrern am meisten benötigte Produkt Bier – dicht gefolgt von Sonnenbrillen und Diddl-Glückwunschkarten.

Außer Tina befand sich noch ein Mann im Laden, der die hässlichste Brille trug, die sie je gesehen hatte, eine Art orthopädischer Schuh fürs Gesicht. Er las ungeniert in einer Zeitung und runzelte dabei die Stirn, zwei junge Männer in Trainingshosen und Unterhemden beäugten neben ihm fachmännisch eine Pyramide aus Bierdosen, und eine Frau in Tinas Alter mit dunklen Augenringen schlürfte in der vollmundig betitelten Bistro-Ecke einen Kaffee aus dem Pappbecher.

»Genießen Sie mal wieder«, verhöhnte ein Plakat mit Schokoladenwerbung alle Anwesenden. Tina begab sich in die Bistro-Ecke und betrachtete die kraftlosen Brötchen in der Auslage, die wahrscheinlich trotz ihrer verschämt hervorlugenden Salatblätter den Nährwert eines Topflappens hatten. Extrem teuer waren die welken Teile obendrein. Aber was blieb sonst noch übrig? Coffee to go und ein labbriges Croissant? Oder gleich eine Tüte Studentenfutter? Tina stolperte ziellos in dem dämmrigen Laden herum. Egal. Wenigstens war es hier drin schön kühl. Sie würde sich einfach neben die Frau mit den Augenringen setzen und die restlichen vierzig Minuten ihrer Mittagspause ebenso an die Wand starren wie sie. Wenn jemand sie beide dann in Schwarzweiß fotografieren würde, war das Kunst. Wenn nicht, war es einfach ein Scheißleben.

Die Typen im Unterhemd bezahlten jetzt, draußen fuhr ein Krankenwagen vor und tankte, die Tür klingelte und noch jemand kam herein. Tina wandte sich ab. Wenn sie nur eine kleine Tüte Erdnüsse nahm, konnte sie noch eine Klatschzeitung dazukaufen und für eine Weile in das Leben der Stars und Promis eintauchen und ihr eigenes dabei vergessen. Sie streckte verlangend ihre Hand nach einem der grellen Blätter aus. »Schon morgen 5 Kilo weniger wiegen! Brad und Angelina adoptieren noch 15 weitere Kinder! Madonna in Wahrheit schon 78 Jahre alt! Wie Sie endlich Ihr Leben in den Griff bekommen!«

Von der Kasse her erklang jetzt ein kleiner Aufschrei. »Oh, nein!«

Nanu, was war denn da los? War etwas umgekippt? Tina hatte nur die Augenring-Frau im Blick, die jetzt entsetzt die Hand vor den Mund hielt. Der Mann mit der orthopädischen Brille hatte seine Zeitung fallen lassen und die Hände hochgehoben.

»Alles. Und da rein, aber zack, zack!«, befahl eine Männerstimme.

Ein Überfall! Tina fing unvermittelt an zu zittern. Sie konnte den Täter nicht sehen, weil die Regale ihr die Sicht versperrten, aber das musste nicht bedeuten, dass er sie nicht entdeckt hatte.

»Nehmen Sie doch bitte die Pistole weg, ich mach ja schon!«, tönte die panische Stimme der Verkäuferin. Sie schluchzte.

Der Typ war bewaffnet, oh Gott. Tina duckte sich unwillkürlich und versteckte sich hinter dem Süßwaren-Display, am liebsten wäre sie in die Kiste mit den Gummibärchen hineingekrochen.

»Na los, los«, befahl die Stimme wieder. Sie kam Tina ausgesprochen bekannt vor, war das etwa jemand, den sie …? Tina sah vorsichtig hoch zu dem großen Spiegel an der Decke, der so angebracht war, dass man den ganzen Laden im Blick haben konnte. Was sie sah, ließ sie nach Luft schnappen. Das konnte doch nicht wahr sein! Der Mann, der da vorn an der Kasse stand – eine Pistole in der rechten Hand und auf die kreidebleiche Verkäuferin gerichtet –, der Mann in dem gestreiften Freizeithemd, das sich immer so schlecht bügeln ließ, der Mann mit dem hektischen Blick, der bewaffnete, der eiskalte Täter – war niemand anderes als Tinas eigener Mann Markus. Eigentlich hätte er allen Regeln der Vernunft nach in diesem Moment die Regale des Supermarktes, in dem er arbeitete, mit Getränken, Cornflakes und Shampoo auffüllen sollen.

»Markus?«, flüsterte Tina perplex. »Was machst du denn da?«

Natürlich hörte er sie nicht, er schien überhaupt nichts wahrzunehmen außer dem Bündel Geldscheine, das die Verkäuferin in die bereitgehaltene Aldi-Tüte warf. In ebendieser Tüte hatte Tina vor ein paar Tagen erst Butter, Waschmittel und Kräuterquark nach Hause transportiert, und jetzt benutzte Markus sie zu einem bewaffneten Überfall. Ja, hatte er denn sein letztes bisschen Verstand in seinem blöden Supermarkt zwischen Tiefkühlerbsen und WC-Reiniger verloren? Wie ferngesteuert stand Tina auf.

»Runter!«, signalisierte ihr entsetzt die Frau mit den Augenringen, aber Tina ignorierte sie.

»Mehr ist nicht«, jammerte die Verkäuferin gerade und deutete auf die leere Kasse. »Ehrlich, ich schwör’s!« Vor Aufregung hatte die Frau Schluckauf bekommen.

Markus drehte sich abrupt um und ging in Richtung Ausgang. »Keine Polizei, verstanden!«, rief er noch über die Schulter zurück.

»Ja, ja, ich … also … mein Gott …« Die Verkäuferin hielt sich schockiert an der leeren Kasse fest, die Tür klappte hinter Markus zu. Tina lief ihm hinterher.

»Bleiben Sie hier, um Himmels willen!«, rief die Verkäuferin. »Der ist bewaffnet!«

»Das ist mein Mann!«, rief Tina zurück.

»Nun alarmier doch endlich mal jemand die Polizei«, quäkte der Mann mit der Brille aus seiner Ecke. Tina stieß die Tür nach draußen auf, die Packung Erdnüsse immer noch in der Hand. Egal. Aber wo war Markus? Wo war sein Auto? Es war nirgends zu sehen. Das einzige Auto hier draußen war der Krankenwagen, an dem der schnurrbärtige Fahrer gerade die Tankklappe zumachte. Jemand stieß ihn fort. Markus.

»Weg da. Na los!« Markus fuchtelte mit der Pistole vor dem Gesicht des erschrockenen Fahrers herum, der sich willenlos zur Seite schubsen ließ und Platz machte. Mit einer einzigen fließenden Bewegung schwang Markus sich auf den Fahrersitz und startete den Motor. Und mit einer einzigen fließenden Bewegung riss Tina die Beifahrertür auf. »Markus! Sag mal, spinnst du?«

»Tina.« Markus starrte sie an, als wäre sie der Geist von Hamlets Vater, der sich urplötzlich zwischen den Zapfsäulen materialisiert hatte. »Was … warum bist du …?«

»Polizei!«, rief jetzt jemand von irgendwo. »Hilfe! Überfall!«

»Komm.« Markus beugte sich rasch vor und zog Tina auf den Beifahrersitz. »Na, komm schon. Wir müssen hier weg, verdammt noch mal. Los, steig ein!«

Tina hätte später beim besten Willen nicht mehr sagen können, warum sie so handelte, wie sie handelte. Vielleicht war es der Anblick der Frau mit den Augenringen und dem lauwarmen Kaffee, die Tinas eigenes trostloses Dasein so perfekt widerzuspiegeln schien, vielleicht war es die Wut über das ausgefallene Ciabatta-Brötchen, vielleicht die Angst vor einer Beschwerde von Herrn Scheller am Nachmittag. Vielleicht war es einfach nur ein Reflex. Was immer es war – sie stieg ein.

Markus ließ den Motor aufheulen, legte den ersten Gang ein und raste wie ein Verrückter los. Aus der Ferne erklangen jetzt Polizeisirenen.

2

Einige Sekunden lang sagte keiner von ihnen ein Wort. Dann redeten sie beide gleichzeitig los.

»Markus, du bist verrückt geworden. Du bist eindeutig komplett verrückt geworden, ich …«

»Ich kann dir alles erklären, Tina. Ich schwöre, ich wollte niemandem was tun, ich schwöre es!«

Tina holte tief Luft. »Woher hast du die Pistole? Wer hat sie dir verkauft?«

Markus sah sie nicht an. »Kugelkasper.«

»Was?«

»Die ist vom Kugelkasper.«

»Willst du mich veralbern? Markus, das ist nicht lustig, was soll das?«

»Kugelkasper. Der Spielzeugladen am Markt, verdammt noch mal.« Markus wich gerade noch rechtzeitig einem entgegenkommenden Laster auf der engen Straße aus. »Mann!«

»Eine Spielzeugpistole?«

»Ja, natürlich, was glaubst du denn? Denkst du, ich ballere mit einer richtigen herum? Ich bin doch nicht wahnsinnig.«

»Das sehe ich anders. Im Moment benimmst du dich nämlich komplett wahnsinnig. Hörst du das?« Tina öffnete das Fenster, in der Ferne jaulte immer noch die Polizeisirene. »Hörst du das? Die kommen, um dich zu holen.«

»Um uns zu holen. Du hängst ja jetzt auch mit drin.«

Tina riss empört den Mund auf, aber dann dämmerte ihr, dass Markus recht hatte. Sie hing mit drin. Die Verkäuferin würde in ihrer Zeugenaussage angeben, dass sich eine weitere Verdächtige, eine Frau, im Laden herumgedrückt hatte, wahrscheinlich, um die Leute dort in Schach zu halten, und dass diese nach geglücktem Überfall sofort zu dem Täter ins Auto gestiegen war, von dem sie behauptet hatte, es handele sich um ihren Ehemann. Und dass sie Erdnüsse geklaut hatte! Tina schmiss die Nüsse wütend auf den Boden. Wie hieß es so schön? Mitgehangen, mitgefangen. Herrgott noch mal, wie konnte Markus ihr das antun? Er hatte in letzter Zeit ja schon einige seltsame Macken entwickelt, zum Beispiel die fixe Idee, Koi-Fische zu züchten und damit Geld zu verdienen (Ausbeute: fünf tote Riesenkarpfen in der Badewanne), oder sonntags mit dem Metalldetektor über die Felder zu ziehen, um alte Münzen zu finden (Ausbeute: zahllose Kronkorken und Coladosenverschlüsse sowie zwei Zahnplomben), aber das hier überstieg alles bisher Dagewesene.

Das Auto bremste urplötzlich und schlingerte, Tina hielt sich fest.

»Scheiße!«, fluchte Markus. »Seit wann ist hier eine Umleitung?«

»Wo willst du eigentlich hin? Darf ich das vielleicht mal erfahren? Etwa nach Hause?« Tina zwang sich zu einer ruhigen Stimme, trotzdem brachte sie nur ein gestresstes Kieksen hervor. Zu Hause. Da hockte um diese Zeit die halbe Mieterschaft auf den Balkons und beobachtete gierig alles, was auf der Straße passierte. Ein Krankenwagen, der in einem Affenzahn angebraust kam und das Ehepaar Michel mit einer Aldi-Tüte voller Bargeld ausspuckte, wäre eine willkommene Abwechslung zu den ewigen Geranien und Mülltonnen und Briefträgern.

»Raus aus der Stadt erst mal«, antwortete Markus und blickte nervös nach links und rechts, bevor er über die Kreuzung bretterte. »Der Tank ist ja Gott sei Dank voll.«

Der Tank war voll, na wunderbar. Dann war ja alles bestens. Tina gab ein kurzes hysterisches Wiehern von sich. »Ich glaub es ja nicht. Und dann?«

»Ja, was weiß denn ich! Ich hab das nicht so geplant, ich hab überhaupt nichts geplant, das war einfach spontan, okay? Ich hatte so die Schnauze voll von allem und du heute Morgen noch mit deiner ewigen Rumreiterei auf dem überzogenen Konto und dann vorhin noch die Sache mit dem Auto …« Er brach ab und wischte sich zu Tinas Bestürzung hastig über die Augen.

»Was ist mit dem Auto? … Markus?« Tina legte ihre Hand auf seinen Arm.

»Schrott. Das ist mit dem Auto. Es ist kaputt. Ich hab es gegen eine Straßenlaterne gefahren, weil ich auf mein Handy gestarrt habe. Jetzt weißt du es. Weil ich gehört habe, dass eine Mail reingekommen ist, und gedacht habe, dass die vielleicht von der Firma ist, bei der ich mich letzte Woche beworben habe. Weil doch der Markt wahrscheinlich übernommen wird. Ausgerechnet von Aldi!« Er versetzte der unschuldigen Plastiktüte, die auf Tinas Schoß lag, einen wütenden Knuff.

»Aber … Moment mal, also, ich verstehe das alles nicht.« Tina presste sich die Fingerspitzen an die Schläfen. Die Hitze, das Sirenengejaule draußen, Markus’ unglaubliches Geständnis, das war alles zu viel. »Okay. Gut. Du hast einen Unfall gebaut. Nicht schön, aber soll vorkommen. Dafür hat man eine Versicherung. Da raubt man doch keine Tankstelle aus.«

»Wir haben keine Versicherung. Ich habe seit Monaten die Raten nicht bezahlt.« Markus blickte stur geradeaus, er bog jetzt auf die Landstraße ein, die aus der Stadt hinausführte. »Verstehst du es endlich, Tina? Wir können die Reparatur nicht bezahlen und auch nicht die Straßenlaterne. Wir haben kein Auto mehr und wir haben keine Versicherung. Kapito?«

»Wir haben keine Versicherung«, wiederholte Tina folgsam. Das hier musste ein Witz sein. Irgendein blödsinniger, alberner Witz. Gleich würde Markus anhalten, sich eine Narrenkappe mit Glöckchen überstreifen und »April, April!« rufen, obwohl es Mitte Juli war.

»Und … war die E-Mail von Aldi?«, fragte Tina. Es war das Einzige, was ihr in diesem Moment einfiel.

»Nein.« Markus presste die Lippen zusammen. »Die E-Mail war von Mr Umgabe Arando aus Nigeria, meinem guten Freund, ob du es glaubst oder nicht, der mir in gebrochenem Deutsch mitteilte, dass er eine Million Dollar auf meinem Konto zwischenlagern möchte und deshalb meine Kontonummer haben will.«

»Umgabe Arando.« Tina drückte ihre Finger noch fester an die Schläfen. Am liebsten hätte sie ihren ganzen Kopf zwischen ihren Händen versteckt und wäre eingetaucht in das angenehm leere Dunkel, in dem es keine verrückten Ehemänner, Tankstellen, Schrottautos und Raubüberfälle gab. Apropos. »Wie viel hast du eigentlich von der armen Kassiererin erbeutet?«

»Keine Ahnung. Guck doch mal nach. Ich … Shit. Die holen auf.« In der Tat klangen die Polizeisirenen näher als zuvor. »Ich kürze hier ab.« Markus riss das Steuer herum und bog kurz entschlossen in eine staubige Seitenstraße voller Schlaglöcher ein. »Die geht am Auwaldsee vorbei, glaube ich. Da kommen wir hinten bei der A9 raus. Das passt sogar prima.«

»Und dann?«, fragte Tina wieder. »Hast du vergessen, dass Paul in zwei Stunden nach Hause kommt? Und sich irgendwann fragt, wo seine Eltern bleiben?«

»Der fragt sich das nicht. Der ist froh, wenn er uns nicht sieht.«

»Wie kannst du so was behaupten?«

»Okay – froh, wenn er mich nicht sieht. Ich weiß doch genau, was er von mir denkt. Wie viel ist es?«

Tina schnappte sich wütend die Plastiktüte, in der die Geldscheine und Münzen von der Fahrt über die Buckelpiste wild durcheinandergeschüttelt wurden. »Warte. Fahr nicht so schnell, das fliegt mir doch alles aus der Hand, das sind fast alles nur Zehner und Fünfer. Fünfzig, hundert, zweihundert, fünfhundert …«

»Vorsicht.« Markus wich in letzter Sekunde einem Loch auf der Straße aus, das so groß war, als hätte ein Komet hier eingeschlagen. »Da vorn ist ein Wald, da kann ich anhalten. Da sind wir vor Blicken geschützt.«

Tina antwortete nicht. Sie konzentrierte sich auf die Geldscheine, weil Geldscheine zählen Aufmerksamkeit verlangte und keine anderen wild durcheinanderflatternden Panik-Gedanken zuließ.

»Achthundertvierunddreißig Euro«, sagte sie in dem Moment, in dem Markus scharf bremste und am Waldrand anhielt. »Sie hat noch jede Menge Münzen dazugesteckt.« Wie das klang. Sie hat noch jede Menge Münzen dazugesteckt. Als wäre die zu Tode verängstigte Kassiererin ihre liebe alte Tante Dora, die ihnen ein paar Münzen für das Sparschweinchen hatte zukommen lassen. Jetzt, wo das Auto endlich nicht mehr raste, wurde Tina plötzlich kotzübel. Was hatten sie nur getan?

»Scheiße«, flüsterte Markus. »Nur so wenig.«

»Wie bitte? Nur so wenig? Du weißt schon, dass der Polizei völlig egal ist, wie viel auf einem Überfall erbeutet wurde, oder? Bewaffneter Überfall ist bewaffneter Überfall, und …«

»Hallo?« Eine leise Stimme ertönte auf einmal von irgendwo hinter ihnen.

Tina zuckte zusammen. »Was war denn das?«

Markus sah sie entgeistert an.

»Hallo?«, rief die Stimme wieder, diesmal etwas lauter. »Ich müsste dann bitte kurz mal austreten.«

»Das kommt von hinten aus dem Krankenwagen«, flüsterte Markus.

»Du meinst, da ist jemand drin

»Hört sich so an.«

»Hallo?«, meldete sich die Stimme erneut. »Es ist jetzt wirklich ein bisschen dringend.«

»Oh Gott. Ich fasse es nicht. Ich fasse es einfach nicht.« Tina widerstand der Versuchung, laut in den Wald hineinzubrüllen, und drehte sich zeitgleich mit Markus um. Hinter ihnen befand sich die Trennscheibe zum Innenraum, die Tina vor lauter Stress bislang nicht wahrgenommen hatte. Sie entdeckte rechts eine verstellbare rote Krankenliege, an der mehrere Gurte befestigt waren. Die Liege war leer. Aber auf der anderen Seite stand ein Rollstuhl, ebenfalls mit einem Gurt gesichert. Und darin saß jemand. Ein kleiner alter Mann mit Glatze, wenn man mal von dem weißen Haarstreifchen absah, das sich wie ein Lorbeerkranz rund um seinen Kopf schmiegte. Er trug eine blaue Kordhose, ein rot kariertes Hemd und hellbraune, plüschige Hausschuhe.

»Das geht nämlich gleich in die Hose.« Der alte Mann kicherte.

3

»Mach was!«, zischte Tina.

»Was denn?«, zischte Markus zurück.

Tina verdrehte die Augen, stieg aus, knallte die Beifahrertür zu und ging um den Krankenwagen herum. Sie konnte hören, dass Markus nun ebenfalls ausstieg. Mit einem Ruck öffnete sie die hintere Tür.

»Na, das war aber höchste Eisenbahn«, sagte der alte Mann.

»Wir …«, setzte Tina an, aber dann fiel ihr beim besten Willen nichts ein, was sie sonst noch hätte sagen können.

»Ihr habt mich gekidnappt, ich weiß schon.« Der alte Mann winkte lächelnd ab. »Aber pinkeln gehen müsst ihr mich trotzdem lassen. Das gehört zu den Menschenrechten. Am Ende freunden wir uns noch an und dann gibt’s ein echtes Stockholm-Syndrom.«

»Was?« Tina starrte den Alten an. Was redete der da?

»Mach mal die Schräge runter, Junge«, wandte sich der alte Mann jetzt an Markus, der wie paralysiert hinter Tina verharrte. »Dann könnt ihr den Rollstuhl runterfahren und mich dahinten auf die Lichtung schieben. Raus komm ich selber, ein bisschen laufen kann ich noch. Und mein bestes Stück kann ich zum Glück noch alleine betätigen.« Er grinste.

Schweigend machten sich Tina und Markus daran, den Wunsch des alten Mannes zu erfüllen. Markus kippte die Schräge herunter und schob den Rollstuhl vom Transporter, Tina rollte den Alten an den gewünschten Platz, sah ihm zu, wie er langsam durch die Lichtung schlurfte, wandte sich diskret ab und kehrte rasch zu Markus zurück.

»Wollen wir einfach schnell wegfahren?«, fragte Markus leise.

»Natürlich nicht. Willst du neben dem Bankraub auch noch einen Mord auf dein Gewissen laden? Der überlebt hier im Wald keinen Tag.«

»Ja, aber was willst du denn mit ihm machen? Der ist doch fast hundert oder so.«

»Siebenundachtzig«, verbesserte der alte Mann vom Waldrand her. »Und das Gehör ist noch tipptopp, nur die Beine machen es nicht mehr so gut. Aber danke, dass ihr mich nicht ermorden wollt.«

Markus biss sich auf die Lippe.

»Der hat alles mitgekriegt«, flüsterte Tina entsetzt. »Den ganzen Überfall.«

»Fertig!«, rief der alte Mann fröhlich.

Diesmal holte Markus den Mann im Rollstuhl zurück, schob ihn wieder in den Krankenwagen hinein und gurtete ihn an.

»Was genau habt ihr eigentlich vor?«, erkundigte sich der Alte. »Habt ihr meinen Fahrer k. o. geschlagen? Das hab ich nicht ganz mitgekriegt. Leider.«

»Nein.« Markus wechselte einen erschütterten Blick mit Tina.

»Ach, nicht? Das hätte dem mal gutgetan. Der hat immer so laut gebrüllt und ganz langsam mit mir geredet, als ob ich nicht mehr alle sieben Zwetschgen beieinanderhätte und nichts hören könnte. Aber nix da – weder noch.« Der alte Mann klopfte sich stolz an den Kopf.

»Wer sind Sie eigentlich?«, fragte Tina. Die frische Luft brachte ihr Gehirn offenbar allmählich wieder in Gang.

»Oskar Krauß, Krauß mit Eszett. Aber ihr könnt ruhig einfach Oskar sagen. Wir werden ja sicher ein Weilchen miteinander verbringen. Mein mieser Schwiegersohn zahlt garantiert kein Lösegeld für mich. Das kann ich euch gleich sagen. Der ist froh, wenn er mich los ist. Der übernimmt ja nicht mal mehr die Kosten für das Pflegeheim am Sonnenberg und will mich lieber ins Luisenhaus verfrachten.« Der Mann namens Oskar grunzte verächtlich. »Dabei müffelt das Luisenhaus schon drei Meilen gegen den Wind nach Windeln. Im Sonnenberg hatten sie wenigstens Kabelfernsehen und die Schwestern hatten knackige Hintern, auch wenn sie meistens schlecht gelaunt waren und …«

»Wir wollen Sie nicht kidnappen«, ging Tina dazwischen. Ihr schwirrte der Kopf. Warum unternahm Markus nichts? Vorhin hatte er doch noch den taffen Gangster gespielt, und jetzt stand er da in seinem albernen Freizeithemd und guckte so ausdrucksstark wie einer seiner idiotischen Koi-Fische.

»Alles klar.« Oskar zwinkerte ihr komplizenhaft zu. »Die konkreten Pläne nie dem Gefangenen anvertrauen! Er soll sich in Sicherheit wähnen, damit er nicht durchdreht, ich weiß schon. Und wie soll ich euch nennen? Bonnie und Clyde?«

»Moment, bitte«, murmelte Tina und klappte die Tür des Krankenwagens zu. »Komm mit«, bedeutete sie Markus und zeigte zu einem Hochsitz in fünfzig Meter Entfernung. Dort vorn würde der seltsame Alte sie nicht hören können.

Sie schlichen sich auf Zehenspitzen fort und scannten dabei vorsichtig die Umgebung. Niemand war zu sehen.

»Wenn ihr was zu trinken hättet, wäre das auch nicht übel«, ertönte die Stimme des Mannes aus dem Transporter. »Es ist ziemlich heiß und mein Kreislauf spielt manchmal verrückt. Tot und vertrocknet nütze ich euch ja nicht viel, nicht wahr?« Ein keckerndes Lachen erklang.

Tina lehnte sich an die Leiter des Hochsitzes, wischte sich kurz über die Stirn und band ihre langen dunklen Haare zu einem hastigen Pferdeschwanz zusammen. Eine Hitze war das! Ausgerechnet heute hatte sie auch noch diese langärmlige schwarze Bluse angezogen, weil die Klimaanlage bei ihnen im Büro immer arktische Kälte verströmte. Apropos Büro. Sie musste unbedingt Marion anrufen und ihr sagen, dass sie heute Nachmittag wahrscheinlich nicht zurückkam. Die Chefin würde schäumen, aber darauf konnte Tina jetzt keine Rücksicht nehmen. Es galt hier gewisse Dinge zu … klären.

Markus stand vor ihr und zog gestresst an seinen Fingergelenken herum, bis sie knackten. Schweißflecken breiteten sich unter seinen Achseln aus, seine Brille war verrutscht und seine braunen Haare hingen ihm wirr ins Gesicht, was ihm einen Hauch von verrücktem Professor verlieh.

»Na los. Sag was«, forderte Tina ihn auf. »Was nun? Und hör mit der Knackerei auf, du weißt, dass mich das Geräusch wahnsinnig macht.«

»Okay. Okay. Der Alte denkt, wir wollen ihn kidnappen. Und aus irgendeinem Grund freut er sich darüber. Er ist eindeutig völlig senil. Das ist für uns von Vorteil.«

»Wieso?«

»Weil ihn keiner ernst nimmt. Wenn er der Polizei von uns erzählt, zum Beispiel. Er hat ja unsere Gesichter gesehen, das darfst du nicht vergessen.«

Tina runzelte die Stirn und schüttelte dann den Kopf. »Markus, alle Leute in der Tankstelle haben unsere Gesichter gesehen. Unsere Gesichter sind auf dem Video der Überwachungskameras. Da kommt es auf die Zeugenaussage des Alten auch nicht mehr drauf an. Aber für uns ist er trotzdem ein Problem, denn für die Polizei sieht es ja so aus, als hätten wir ihn entführt. Da haben wir jetzt also schon Raubüberfall und Kidnapping auf unserem Konto. Weißt du, was das bedeutet? Zehn Jahre Gefängnis, mindestens. Zehn Jahre Erbsenbrei und sadistische Mitgefangene und ein Klo in der Zellenecke, wo jeder dich beobachten kann, und wenn du Glück hast, ein Job in der Gefängniswäscherei und …« Ihre Stimme versagte, Tränen rollten ihre Wangen hinunter.

»Blödsinn. Du hast noch den Dokumentarfilm über Alcatraz im Kopf, den wir neulich gesehen haben. Heutzutage haben die Zellen alle WLAN. Glaube ich zumindest.« Markus sah ihr bei diesen Worten allerdings nicht ins Gesicht.

»Na toll. Dann kann ich meinen Facebook-Status aus dem Gefängnis updaten. Heute im Morgengrauen von Kampflesbe verdroschen worden.« Tina schniefte verächtlich. Sie schielte zu dem Krankenwagen hinüber, aus dem jetzt kein Geräusch mehr kam. Was, wenn der alte Mann bereits einen Kreislaufkollaps erlitten hatte? Oh Gott.

»Wir müssen weg hier«, entschied sie. »Wir fahren in den nächsten Ort und stellen ihn dort irgendwo ab, wo ihn bald jemand findet. Dann kann er versorgt werden und wir sind ihn los.«

»Gute Idee«, stimmte Markus sofort zu. Er schien erleichtert darüber, dass Tina eine Entscheidung getroffen hatte. »Und dann …«

»Dann sehen wir weiter«, schnitt Tina ihm das Wort ab. Erst mal mussten sie diesen kidnappingbesessenen Opa loswerden. Sie konnte irgendwie keine vernünftige Entscheidung treffen, solange der noch dahinten im Krankenwagen saß.

 

»Niederfeld« verkündete ein gelbes Ortsschild, das schon leicht abgenutzt und windschief am Ortseingang stand. Der Anfang von Niederfeld hatte weder fürs Auge noch fürs Ohr etwas zu bieten. Eine staubige einsame Hauptstraße, spießige Häuschen rechts und links, eine Katze auf einer Mauer, ein verwittertes Schild, das zum Gewerbegebiet wies, eine kleine Kirche, ein Postauto. In ganz weiter Ferne röhrte ein Rasenmäher.

»Was für ein übles Kaff!«, erklang es von hinten.

Tina zuckte immer noch jedes Mal unwillkürlich zusammen, wenn die Stimme aus dem Nichts ertönte. Wie das Phantom der Oper hockte dieser alte Mann hinten in seinem Rollstuhl auf der Lauer. Sonderlich kraftlos und vertrocknet wirkte er nicht gerade, fand Tina. Im Gegensatz zu ihr und Markus. Sie kam mittlerweile jedenfalls fast um vor Durst. Um sich abzulenken, holte sie ihr Handy raus und wählte die Nummer von Fashion World.

»Fashion World – alles für die Frau, mein Name ist Müller, was kann ich für Sie tun?«, leierte eine Stimme. Tina erkannte die dicke Müller, Petze und Spionin für die Chefin, mit der wollte sie auf keinen Fall reden.

»Ich hab hier eine Beschwerde, die hat eine Frau Walter bearbeitet, können Sie mich bitte mit ihr verbinden?« Tina verstellte ihre Stimme, so gut es ging. Die Müller war von Natur aus faul und würde eine Beschwerde liebend gern abgeben. Kurz darauf meldete sich Marion, deutlich genervt.

»Ja, Walter?«

»Ich bin’s«, flüsterte Tina. »Ich stecke in Schwierigkeiten.«

»Schwierigkeiten schaffen wir bei Fashion World prompt aus der Welt. Können Sie mir bitte Ihre Kundennummer nennen?«

»Marion!«, zischte Tina etwas lauter. »Hier ist Tina!«

»Tina? Und der Nachname?«

»Mann – ich bin es. Tina! Hast du noch nicht gemerkt, dass mein Platz leer ist?« Manchmal war Marions Begriffsstutzigkeit wirklich anstrengend. Jetzt hatte es ihr offenbar kurz die Sprache verschlagen.

»Tina? Hallo? Das knattert hier so, die Verbindung ist ganz schlecht. – Ja, du bist tatsächlich nicht hier. Wo bist du denn?«

»Ich bin … hör mal, Marion, sag der Chefin, dass ich heute Nachmittag wahrscheinlich nicht mehr zurückkomme.«

Tina senkte ihre Stimme. »Ich bin im Krankenwagen, und wir …«

»Was? Krankenwagen? Ich kann dich so schlecht verstehen. Bist du krank?«

»Also … wir … ich meine, ich …« Es rauschte fürchterlich in der Leitung. »Ich bin auf der Flucht!«, rief Tina. »Die Polizei ist hinter uns her.«

»Die Bullen«, korrigierte der alte Mann laut von hinten.

»Wer war das?«, fragte Marion verwirrt. »Und wieso sind die Bullen hinter euch her? Wer ist denn da noch? Du wolltest doch nur zum Bäcker?«

»Marion, ich kann dir das jetzt nicht erklären. Sag bitte einfach der Chefin, dass ich heute nicht mehr wiederkomme.«

»Den Kordblazer in Farbe Magenta? Muss ich mal schauen, ob wir den auf Lager haben.« Marions Stimme wechselte schlagartig zu einem geschäftsmäßigen Zirpen, woraus Tina schließen konnte, dass die Chefin offenbar gerade hinter ihr stand.

»Ich ruf dich später noch mal an«, sagte Tina hastig und legte auf.

»Aha. Die Chefin. Soso«, meldete sich wieder die Stimme des Opas von hinten. »Hat die das alles hier angezettelt? Respekt. Weibliche Mafiosi sind offenbar im Kommen.«

»Können Sie bitte einfach mal …?« Tina krallte die Hände in ihren Hosenstoff und biss sich auf die Lippe. Es hatte keinen Sinn, sich mit dem offenbar völlig verwirrten alten Mann anzulegen. Sie schwieg erschöpft, und eine Weile lang sagte niemand etwas.

»Zombietown«, murmelte Markus schließlich, während sie in Schrittgeschwindigkeit durch das Dorf fuhren. »Wo sind die denn nur alle?«

»Da sind ein paar.« Tina zeigte auf zwei Frauen mit Einkaufsbeuteln, die sich am Straßenrand unterhielten und dem Rotkreuzwagen voller Neugier entgegenblickten. »Die haben eingekauft. Hier gibt es also einen Laden. Da fahren wir hin und stellen ihn in der Nähe ab.«

»Könnt ihr vergessen«, bemerkte unvermittelt der Alte von hinten. »Hier bleibe ich nicht.«

»Herr Krauß, das ist nur zu Ihrem Besten«, antwortete Tina mit fester Stimme. Sie kam sich fast schon selbst wie eine Krankenschwester vor.

»Oskar für dich. Und zu meinem Besten? Dass ich nicht lache. Zu meinem Besten sind ganz andere Sachen, zum Beispiel …«

»Da«, unterbrach ihn Tina. Sie beschloss, den alten Mann zu ignorieren. »Markus, da ist der Laden.«

Weiter vorn tauchte jetzt tatsächlich etwas in ihrem Blickfeld auf, das den Namen »Laden« halbwegs verdiente. Eine Tafel stand davor, auf die jemand »Frische Eier« gekritzelt hatte, Obst dümpelte in Kisten vor der Tür vor sich hin, ein Fahrrad wartete auf seinen Besitzer. Markus hielt den Krankenwagen in einiger Entfernung an und checkte kurz die Straße im Rückspiegel.

»Keiner zu sehen. Gut. Los, komm!« Er stieg aus.

Tina folgte ihm sofort. »Zur Not können wir ja auch noch anonym beim Roten Kreuz anrufen«, schlug sie leise vor, während Markus die Wagentür öffnete und die Schräge herausklappte. »Dann können die ihn gleich in dieses Luisenhaus schaffen.«

»Ich will da nicht hin«, schimpfte der alte Mann, als Markus jetzt in den Innenraum stieg, die Gurte löste und den Rollstuhl die Schräge hinunterschob. »Das könnt ihr vergessen. Wisst ihr, wie es da zugeht? Lauter dämmernde Alte, denen dauernd die dritten Zähne rausrutschen, die ins Bett pinkeln und glauben, dass sie Marlene Dietrich sind!« Seine Stimme wurde immer lauter.

»Seien Sie doch mal still!« Tina sah sich hektisch um. Durch die Scheibe konnte sie im Laden eine Verkäuferin und eine Kundin sehen, die miteinander schwatzten. Jetzt hielten die beiden Frauen in ihrem Gespräch inne und drehten sich zu ihnen um.

»Ich rede so laut, wie ich will«, wehrte sich der alte Mann. »Und ich sage auch, was ich will. Zum Beispiel das hier: Hilfe! Hilfe! Ich werde entführt! Hilfe!«