cover

Über das Buch

An einem regnerischen, nebligen Wochenende im Oktober steht plötzlich ein Mann im Garten der Freiburger Familie Niemann. Er ist bewaffnet und versucht ins Haus einzudringen. Erst als die Niemanns die Polizei alarmieren, verschwindet er. In der Nacht kehrt der Mann jedoch zurück – und stellt ein merkwürdiges Ultimatum.

Die Freiburger Hauptkommissarin Louise Bonì und ihre Kollegen ermitteln unter Hochdruck. Es geht das Gerücht um, dass der Täter vom Balkan stamme. Bonìs Ermittlungen führen sie in ein gefährliches Niemandsland und zu einem Verbrecher, der zu allem entschlossen scheint.

 

 

Über den Autor

Oliver Bottini wurde 1965 geboren. Für seine Kriminalromane erhielt er zahlreiche Preise, unter anderem viermal den Deutschen Krimi Preis, den Krimipreis von Radio Bremen, den Berliner ›Krimifuchs‹ sowie zuletzt den Stuttgarter Krimipreis für ›Ein paar Tage Licht‹ (DuMont 2014). Oliver Bottini lebt in Berlin.

Der erste und der vierte Band der Louise-Bonì-Reihe, ›Mord im Zeichen des Zen‹ und ›Jäger in der Nacht‹, wurden 2014 und 2015 mit Melika Foroutan in der Hauptrolle für die ARD verfilmt. Der vorliegende Band ist der dritte Fall für die Kommissarin Louise Bonì.

OLIVER BOTTINI

IM AUFTRAG DER
VÄTER

EIN FALL FÜR LOUISE BONÌ

All jenen, die fortgehen mussten.

Wo gehn wir denn hin?
Immer nach Hause.

NOVALIS, HEINRICH VON OFTERDINGEN

PROLOG

BRAHMS WECKTE IHN, das Requiem, eine Woge ferner, dunkler Stimmen, die aus dem Obergeschoss ins Wohnzimmer herunterdrangen. Gähnend tastete Paul Niemann nach seiner Brille und setzte sie auf. Drei Uhr nachmittags, es regnete noch immer, der Garten lag halb verborgen im nebligen Grau. Wohin man sich auch drehte in diesen Tagen, das Leben endete nach dreißig Metern an einer Wand aus Regen und Nebel. Brahms-Wetter, dachte er und erhob sich, das schon, aber doch nicht, wenn man erst fünfzehn war 

In der Diele blieb er am Treppenabsatz stehen und lauschte. Denn wir haben hie keine bleibende Statt, sondern die zukünftige suchen wir  Was bewog einen vollkommen unmusikalischen Fünfzehnjährigen, ein Requiem zu hören?

Er ging in die Küche, nahm die Kaffeekanne von der Warmhalteplatte, schenkte sich eine Tasse ein.

Dann stand er, die Tasse in der Hand, an der Wohnzimmertür, summte das Bariton-Solo mit, blickte in den Garten hinaus. Die Thujenhecke entlang des Zauns verschwand im Nebel, der Weißdorn und die Linde lagen unsichtbar in einer fernen Welt.

Der goldene Oktober, abgesoffen in Regen und Grau 

In München waren Regentage erträglicher gewesen. Lichter. Nicht ganz so unerbittlich.

Geräusche hinter ihm holten ihn aus den Gedanken. Eine Wolke kühlen Parfüms, dann Carolas Stimme, schon von der Haustür her: »Wartet mit dem Essen nicht auf mich, Papa.«

Er drehte den Kopf, sagte nichts, die Tür war bereits zu.

Manchmal hätte er Carola gern festgehalten, wenn sie sich für Sekunden in seiner Reichweite aufhielt. Falls jemand formulieren konnte, was mit ihm, mit der Familie geschah, dann sie.

Sag mal, Caro, was denkst du so? Über uns vier? Ich meine 

Er wusste nicht, was er meinte.

Er setzte sich an den Couchtisch vor dem breiten Fenster, trank Kaffee, dachte an München, an die Abende mit Henriette und dem Chor der Lutherkirche, an helle, freundliche Regentage.

Eine andere Welt, ein anderes Leben.

Und jetzt? Der Sohn abgeschottet von der Menschheit mit einem Requiem, die Tochter immer geisterhafter, immer flüchtiger, die Mutter unterwegs, ohne dass man erfahren hätte, wohin oder bis wann, und der Vater 

Der Vater.

Er beugte sich vor, schaltete die Stehlampe ein. Licht half gegen das schwere Breisgauer Grau.

Sag mal, Caro, was denkst du so über mich? Ich meine 

Er schüttelte den Kopf, griff wieder nach der Tasse, hielt inne. Draußen, im Garten, hatte sich etwas verändert. Der Nebel schien in Bewegung geraten zu sein, und für einen Moment glaubte er den dunklen Stamm der Linde zu erkennen. Dann schloss sich der Nebel wieder, der Stamm verschwand.

Er trank einen Schluck, lauschte der Musik. Vielleicht meinte er die Wut, die manchmal in ihm tobte und nicht hinauskonnte, weil ihm keine Wörter und Gesten einfielen, mit denen er sie hätte ausdrücken können. Oder die Langeweile, die ihn manchmal überkam, egal, was er gerade tat.

Langeweile, Müdigkeit, Unlust.

Als er die Tasse auf den Tisch stellte, brachen die dunklen Stimmen plötzlich ab, und es herrschte Stille. Die bedrückende, zeitlose Stille der Merzhausener Wochenenden, wenn die beiden Frauen fort waren und die beiden Männer nicht wussten, wohin mit sich 

Er nahm die Brille ab, rieb sich die Augen. Vielleicht sollte er aufhören, so oft an München zu denken.

»Papa?«

Er setzte die Brille wieder auf und wandte sich um. Philip stand in der Tür, die Hand an der Klinke, blass, picklig, schmal. Sag mal, Caro, was denkst du so, ich meine, wegen Philip. Er ist so … Er kommt mir so 

»Im Garten ist jemand.«

»Hm?«

»Ich glaub, ich hab im Garten jemand gesehen.«

»In unserem Garten?«

Schweigend blickten sie in das Grau hinaus. Doch da waren nur der Regen, der Nebel, ein Stück Thujenhecke. Und irgendwo, weit entfernt und unsichtbar, die Linde und der Weißdorn, den er aus München mitgebracht hatte.

»Ich sehe niemanden, Philip.« Er drehte sich wieder zur Tür. Dachte an Brahms, die drängenden Stimmen des Chors, was diese Stimmen auslösen mochten im Kopf eines Fünfzehnjährigen.

Philip zuckte die Achseln. Die Schultern verkrampft, der Mund verspannt, wenn er nicht wusste, wie er stehen und schauen sollte, wie er war … »Ich dachte, da ist jemand.«

»Vielleicht die Mama?«

»Die kommt doch erst heute Abend.«

Er nickte, signalisierte: Natürlich, hatte ich vergessen, die kommt ja erst heut Abend. Doch er spürte, dass Philip ihm die kleine Scharade nicht abnahm. »Dann weiß ich’s auch nicht. Hast dich sicher getäuscht, ich meine, wär ja kein Wunder, bei dem Nebel.«

»Ja«, sagte Philip, aber er blieb, wo er war, sah wieder nach draußen, als wäre ihm das für den Moment Beschäftigung genug, nach draußen in den Nebel sehen.

»Sag mal, die Musik, die du da vorhin gehört hast …«

Philip nickte, ohne ihn anzusehen.

»Wir haben das früher auch gesungen, die Mama und ich, das weißt du, oder?«

»Mhm.«

»Früher, in München.«

»Mhm.«

»Jedes Jahr an Allerheiligen, du warst bestimmt mal mit uns in der Kirche.« Er hielt inne. Fragte sich, wogegen er anredete. Gegen die Stille? Die Distanz zwischen ihnen?

Gegen das, was nicht mehr stimmte.

»Weißt du, das Besondere an diesem Requiem ist, dass es … Es sollte kein Gebet für die Toten sein, sondern Trost für die Hinterbl…«

»Da ist er«, sagte Philip leise.

Paul Niemann drehte sich zum Fenster. Wie vorhin schien sich der Nebel zu lichten, wurde etwas Dunkles sichtbar. Aber es war nicht der Stamm der Linde, sondern ein Mann.

Ein Mann, der in ihrem Garten stand und zu ihnen hereinblickte.

»Tatsächlich …«

»Wer ist das?«

»Ich habe keine Ahnung, Philip.«

Der Mann bewegte sich nicht. Stand einfach da, im Regen, und beobachtete sie.

»Einer von den Neuen gegenüber?«

»Vielleicht, ja, das könnte sein.«

Philip trat neben ihn. »Sieht aber eher wie’n Penner aus.«

Paul Niemann nickte, ein Penner, ja, Risse in Anorak und Hose, beides verschmutzt und nass, fehlten nur die Schnapsflasche in der einen und die Supermarkttüte in der anderen Hand. Ein Penner, den der Regen aus dem Gebüsch irgendeines Gartens der Siedlung getrieben hatte.

»Oder hat die Mama einen Gärtner eingestellt?«

Paul Niemann wollte antworten, da lachte Philip tonlos, ein Scherz, dankbar lachte er mit. »Am besten fragen wir ihn, was denkst du?« Er stand auf, ging zur Terrassentür. Sekundenlang sah er sein Spiegelbild in der Scheibe, ein dürrer, kleiner Mensch mit Brille, Anzughose, Hemd, viel zu ordentlich gekleidet für Samstagnachmittag, fehlte ja nur noch die Krawatte 

Sogar sein Spiegelbild war ihm hier unsympathisch.

Er öffnete die Tür. Die Kälte ließ ihn frösteln. Die Kälte und eine plötzliche Verunsicherung. Was tat der Kerl in ihrem Garten? Warum ging er nicht weg?

»Kann ich Ihnen helfen?«

Der Mann sagte nichts, tat nichts, schaute ihn nur an. Er war jetzt deutlicher zu sehen, unrasierte Wangen, wirres, eisgraues Haar, ein älteres, verwittertes Gesicht, das an slawische Gesichter erinnerte, an russische Gesichter 

Paul Niemann trat über die Schwelle. »Hallo.« Seine Verunsicherung wuchs. Wie der schaute … Und dass er nichts sagte und nichts tat, nur dastand, im Regen, zwanzig, dreißig Meter entfernt, ein gedrungener, verwilderter Schatten im Grau, aus dem Grau. Paul Niemann schoss der merkwürdige Gedanke durch den Kopf, dass der Mann schon immer in ihrem Garten, schon immer ein Teil dieses Gartens gewesen war und vorher ein Teil dieses Fleckens Erde, und dass er seit Jahren, Jahrzehnten auf einen Tag wie diesen gewartet hatte, um ans Licht zu treten, ins Bewusstsein der Menschen hier, ihrer aller Albtraum 

Samstagnachmittags-Phantasien.

»Brauchen Sie Hilfe? Ist etwas passiert?«

Keine Antwort. Nur der Blick, der unverändert auf ihm lag.

Philip trat ans Fenster. »Sag ihm, das ist unser Garten, er soll aus unserem Garten verschwinden.«

»Ich weiß nicht, Philip. Vielleicht braucht er ja Hilfe.«

»Verschwinden Sie!«, sagte Philip laut und streckte die Arme aus und bewegte die Finger vor und zurück.

Sie warteten. Der Mann reagierte nicht.

»Wie der schaut«, sagte Philip.

Paul Niemann nickte. Wie der schaute, wie der dastand. Als hätte er es auf einen Streit angelegt. Als wäre er hier, um … Er rieb sich die Augen unter der Brille. Um was?

Samstagnachmittags-Phantasien.

»Sag ihm, er soll verschwinden, Papa.«

»Ganz ruhig, Philip, es ist alles in Ordnung. Ich gehe jetzt zu ihm und …«

»Ich weiß nicht, Papa, irgendwas ist komisch an dem.«

»Aber nein, es ist alles in Ordnung«, wiederholte er, obwohl er sich jetzt nicht mehr sicher war, dass das stimmte.

In diesem Moment setzte sich der Mann in Bewegung und kam langsam auf das Haus zu, auf ihn, und er spürte einen Anflug von Angst in der Brust und dachte, dass wirklich etwas komisch war an dem Kerl. »Alles in Ordnung, Philip«, sagte er wieder und war plötzlich davon überzeugt, dass das nicht stimmte, dass irgendetwas nicht in Ordnung war. »Hallo«, rief er. »Kann ich Ihnen helfen?«

Der Mann ging schweigend weiter.

»Mach lieber die Tür zu, Papa.«

»Philip …«

»Bitte!«

Paul Niemann trat ins Wohnzimmer zurück und schloss die Tür. Der Mann war jetzt kaum noch zehn Meter von der Terrasse entfernt, und Paul Niemann wünschte, er würde stehen bleiben, aber das tat er nicht. Gleich hatte er das Rosenbeet erreicht, spätestens da musste er ja stehen bleiben, aber der Mann blieb nicht stehen, er ging einfach weiter, ging mitten durch das Rosenbeet, trat auf die Terrasse, ohne ihn auch nur einen Moment lang aus den Augen zu lassen. Tu was, flüsterte eine Stimme in seinem Kopf, tu doch was!, aber er wusste nicht, was, und so tat er nichts, während der Mann auf die Terrasse trat, zur Tür kam, als wollte er einfach immer weitergehen, durch die Scheibe, zu ihnen ins Haus 

Erschrocken wich er zurück.

Im letzten Moment blieb der Mann stehen, unmittelbar vor der Terrassentür, legte die Hände flach an die Scheibe, riesige, dunkle, aufgeschürfte Hände, und jetzt rief die Stimme in Paul Niemanns Kopf, tu was, tu doch endlich was, da wurde ihm bewusst, dass die Stimme zu Philip gehörte, und er hörte Philip rufen und nickte und machte einen Schritt auf den dunklen Körper zu, in dem er plötzlich sein Spiegelbild erkannte, viel deutlicher als vorhin, und er machte einen weiteren Schritt auf den dunklen Körper und sein Spiegelbild zu und noch einen, als der Mann zurücktrat, in die Tasche griff, den rechten Arm hob, ihm jenseits der Scheibe einen schwarzen Gegenstand entgegenhielt, und Paul Niemann starrte auf den Gegenstand und hörte Philip rufen und spürte die Angst in seiner Brust hämmern 

Alles in Ordnung, Philip, dachte er.

Und schloss die Augen.

Ewigkeiten vergingen, nichts geschah. Er spürte, dass ihm Tränen über die Wangen liefen, dass er viel zu schnell atmete, dass ihm wieder kalt war wie vorhin. In seinem Kopf tosten Bilder und Gedanken, er sah einen Mann über ein Feld laufen und dachte, dass dies sein Vater sein musste, sein Vater als junger Mann, dann war sein Vater ein Kind, und das Kind lief über das Feld, und sonst war niemand zu sehen, und das Kind, das sein Vater sein musste, lief und lief. Da sagte Philip, er ist weg, Papa, und er öffnete die Augen und blinzelte und sah, dass der Mann fortging, auf dem Weg, den er gekommen war, in den Nebel zurückkehrte.

Er saß im Sessel vor dem Fenster und blickte in den Garten hinaus, noch immer Regen, noch immer Nebel, noch immer verlief eine graue Wand quer durch den Garten. Und doch war jetzt alles anders.

»Nein, Mama, noch nicht«, sagte Philip hinter ihm am Telefon.

Kalte Schauer liefen ihm über Nacken und Schultern. Ein Mann mit einer Pistole.

»Nein, musst du nicht … Er ist ja weg … Nein, wirklich nicht. Sie muss nicht früher kommen, oder, Papa?«

Er schüttelte den Kopf.

»Weiß nicht, vor zehn Minuten … Oh, Mama, die werden gleich kommen … Ich weiß es nicht, irgendein Penner halt!«

Ein Penner auf dem Weg durch die Gärten der Siedlung 

Doch irgendetwas, dachte er, passte nicht zu dem Bild in seiner Erinnerung.

Dann wusste er es. Kein Penner. Dieser Mann war kein Penner. Er sah verwahrlost aus, auch verdreckt, aber er war kein Penner. Penner sahen anders aus. Gingen anders, verhielten sich anders. Waren auf irgendeine unbestimmbare Weise anders.

»Nein, Mama, wirklich nicht … Doch, wir haben alles im Griff, und gleich kommt … O Mann, nein

Sein Blick fiel auf die Fußspuren im Beet vor der Terrasse. Der Boden war vom tagelangen Regen gesättigt, in den Schuhabdrücken sammelte sich das Wasser. Der Mann war auf Rosenstrünke getreten, hatte Erde auf die Terrasse getragen, hatte die Terrasse versaut.

Alles im Griff, nein, nichts hatten sie im Griff, schon gar nicht er, nichts, nicht diese Situation, nicht sein Leben, nicht die Familie.

Nicht die Angst. Nichts.

Mit klopfendem Herzen ging er in die Diele, zog Gummistiefel an, nahm einen Regenschirm, ging ins Wohnzimmer zurück. Öffnete die Terrassentür und trat in den strömenden Regen hinaus.

Vage Spuren quer durch den Garten, niedergedrücktes Gras, das Törchen zu dem Weg, der an den Äckern und Feldern am Fuß des Schönbergs entlang verlief, halb geöffnet. Er schloss es. Dann kehrte er in die Mitte des Gartens zurück, wo die Schuhabdrücke deutlicher waren. Vor ihm im Nebel das matte Gelb der Stehlampe im Wohnzimmer. Dahinter meinte er Bewegungen zu erkennen, Philip, der herumging, vielleicht Schuhe holte. Er sah den Sessel, auf dem er Kaffee getrunken hatte, sogar die Tasse auf dem Couchtisch. Wie lange mochte der Kerl hier gestanden und ihn beobachtet haben? Sein Herz raste. Er starrte in den Nebel, drehte sich um die eigene Achse, urplötzlich kehrte die Angst zurück, und wenn er noch da war? Irgendwo im Nebel stand und ihn beobachtete? Verschwinde, dachte er, verschwinde von hier, und rief es: »Verschwinde!« Keine Antwort aus dem Nebel, kein Laut, dafür plötzlich Bewegungen, auf dem Weg vom Carport, auf der Terrasse, wo er auch hinsah, tauchten Schemen auf. Dann rief eine unbekannte Frauenstimme seinen Namen.

»Und wenn er noch da ist? Da draußen wartet, bis …«

»Er ist fort, Herr Niemann.«

Er presste die Lippen zusammen, schwieg.

»Glauben Sie mir, er ist fort.«

Er nickte.

»Gut. Kein Obdachloser, sagen Sie?«

Er schüttelte den Kopf.

»Obwohl er wie einer aussah?«

»Ja, aber er hatte irgendetwas …«

»Verstehe«, sagte die Polizistin, als er nicht weitersprach. Er spürte, dass sie nicht wusste, was sie von ihm halten sollte, aber er spürte auch, dass sie sich bemühte, ihn ernst zu nehmen.

HESSE stand auf dem Namensschild an ihrer Brust. Sie war nicht mehr jung, um die fünfundvierzig. Sie kam ihm müde vor, müde von zu vielen Jahren in diesem Beruf.

Sie saß im Sessel vor dem Couchtisch, auf dem noch immer die leere Kaffeetasse stand, er saß auf dem Sofa. Eine zweite Polizistin war mit Philip in die Küche gegangen. Nur ihre Stimme war zu hören, Philips nicht, er sprach zu leise, wenn er überhaupt sprach. Paul Niemann dachte, dass er aufstehen und nach Philip sehen sollte, aber ihm fehlte die Kraft.

Die Kraft, dachte er, war im Garten geblieben.

Er zog die Luft durch die Nase hoch. Merkwürdiger Gedanke.

»Ist Ihnen nicht gut, Herr Niemann?«

»Ich weiß nicht. Ich …« Er wandte sich dem Fenster zu, blickte in das Grau hinaus.

»Er ist fort, Herr Niemann.«

»Ich weiß nicht.«

Auf der Terrasse und im Garten befanden sich fünf, sechs weitere Polizeibeamte, die Spuren sicherten, im Beet, an der Terrassentür. Der an der Terrassentür klopfte gegen die Scheibe, deutete mit der Hand. Paul Niemann nickte. Richtig, ungefähr da.

Auch in den Straßen von Merzhausen waren sie. Suchten nach dem Mann, nach Zeugen.

Ja, sie bemühten sich, ihn ernst zu nehmen.

»Wenn Sie ihn nicht kennen, wenn Sie ihn noch nie gesehen haben, warum glauben Sie dann, dass er wiederkommt?«

Er zuckte die Achseln. Der Blick, dachte er. Er hat gewusst, wo er war. Er wollte zu uns. Zu mir.

Sein Puls beschleunigte sich wieder. In seinen Lungen war plötzlich zu viel Luft. Er nestelte an seinem Hemdkragen herum, öffnete den zweiten Knopf. Die Polizistin war jetzt neben ihm. »Legen Sie sich hin, Herr Niemann. Wir rufen einen Arzt, ja?«

Sie hielt ihn, als er sich zur Seite sinken ließ. Zog ihm die Schuhe aus, hob seine Beine aufs Sofa.

»Sie atmen zu schnell. Ruhig atmen …«

»Und wenn er zu uns wollte?«

»Aber wenn Sie ihn doch nicht kennen.«

Er zuckte die Achseln.

»Ruhig atmen, Herr Niemann.«

Er versuchte es. Atmete ruhig. Allmählich wurde es besser.

»Gut so … Es ist alles in Ordnung, Herr Niemann.«

Er nickte.

»Alles in Ordnung. Ruhen Sie sich ein bisschen aus.«

»Die Kraft ist im Garten geblieben«, sagte er und lächelte matt.

Ein Arzt kam, diagnostizierte einen leichten Schock, gab ihm eine Spritze, ging. Dann stand Henriette im Wohnzimmer, und die einzelnen Elemente der Szenerie fanden ihr natürliches Zentrum. Nach wenigen Minuten war sie über alles im Bilde, kannte alle Namen, alle Aufgaben, alle vorläufigen Ergebnisse. Sie kümmerte sich um Philip, kochte Kaffee, stellte Thermoskanne und Tassen für die Polizisten bereit. Er folgte ihr mit dem Blick, bewunderte sie für ihre Lebenstüchtigkeit. Vage überlegte er, ob sie sich innerlich schon ein neues Leben aufgebaut hatte, während er sich noch fragte, was mit dem alten nicht mehr stimmte.

Schließlich setzte sie sich zu ihm und der Polizistin, auf den Teppich neben dem Sofa. Ihre Hand strich hektisch über seine Schulter, seine Wange. Ihr kleines Gesicht wirkte beunruhigt und zugleich entschlossen. »Was muss das für ein Schreck gewesen sein«, sagte sie.

Er nickte. Keine Kritik, keine Fragen, so war Henriette. Wer sich trotzdem schämte, war selbst schuld. Doch auch das verstand sie.

»Ich hätte auch einen tüchtigen Schreck bekommen.«

Er rang sich ein Lächeln ab. Nein, Henriette hätte alles im Griff gehabt. Hätte den Mann zum Teufel gejagt.

»Ihr Mann glaubt, dass er vielleicht wiederkommt«, sagte die Polizistin.

»Soll er, mit dem würde ich gern ein Wörtchen reden. Euch so einen Schreck einzujagen. Und schau dir mein Rosenbeet an.«

Er sah die Polizistin schmunzeln. Die Müdigkeit in ihrem Gesicht war verschwunden. So wirkte Henriette auf die Menschen – belebend, erfrischend, ermunternd.

Die Polizistin berichtete, was die Kollegen gefunden hatten – Fingerabdrücke, aber keine besonders guten beziehungsweise vollständigen. Seine Fingerkuppen waren offenbar stark zerkratzt oder zerschnitten. Dann die Schuhspuren im Beet, und hinten am Weg hatten sie eine halb gerauchte Zigarette aufgeklaubt, die jedoch möglicherweise von einem Spaziergänger stammte.

»Oder von Carola«, sagte Henriette.

»Oder von mir.« Er gähnte verhalten.

Henriettes Hand hielt inne. »Du rauchst wieder?«

»Manchmal. Am Wochenende.«

»Seit wann denn?«

»Weiß nicht. Seit wir hier sind?«

»Seit vier Jahren? Du rauchst seit vier Jahren wieder?«

Die Polizistin lächelte ihm zu. Er lächelte zurück. Vier Jahre schon? Erst vier Jahre?

»Ab und zu. Am Wochenende.«

Henriette sagte nichts, musterte ihn nur. Ihre Hand streichelte ihn wieder, langsamer, zärtlicher als vorhin. Ihre Augen waren voller Zuneigung, aber die Zuneigung kam aus einer großen Entfernung.

»Eine italienische Marke«, sagte die Polizistin. »MS

Er schüttelte schläfrig den Kopf. »Camel.«

Henriette nickte schweigend. Camel und Portwein an der Algarve. Der Beginn des alten Lebens.

Für einen Augenblick schien sie aus der Entfernung zurückzukommen.

»Und Ihre Tochter?«

»Mal dies, mal das, kommt darauf an, mit welchem Jungen sie gerade zusammen ist«, sagte Henriette. »Ich frage sie.«

Weil die Müdigkeit übermächtig wurde, schloss er die Augen, hörte den beiden Frauen zu, Henriette, die sich erkundigte, ob draußen, im Viertel oder auf den Wanderwegen, jemand den Mann gesehen habe, der Polizistin, die antwortete, nein, bis jetzt niemand, aber die Kollegen seien ja noch unterwegs. Dann schwiegen sie, und er spürte,  dass sie ihn ansahen, ihm beim Einschlafen zusahen. Er wünschte, sie hätten weitergesprochen, denn seit sie schwiegen, saß am Rande seines Bewusstseins ein schwerer, bedrohlicher Schatten, den er körperlich zu spüren glaubte, irgendwo tief drin in seinem Kopf. Seht ihr?, dachte er und versuchte, den Mund zu öffnen, doch seine Lippen waren gefühllos und unbeweglich geworden, und so sagte er stumm für sich, was er den beiden Frauen unbedingt noch sagen wollte, bevor er einschlief:

Er ist wieder da.

Als er erwachte, herrschte Dunkelheit. Er lag noch immer auf dem Sofa, unter einem Berg von Bettdecken. Der Schatten in seinem Kopf hatte zu schmerzen begonnen. Er richtete sich auf, fand mit dem Fuß den Schalter der Stehlampe. Zögerte, bevor er sie anmachte. Aber er war allein im Zimmer, und die Rollos waren herabgelassen worden.

In der Küche warf er einen Blick auf die Wanduhr. Halb drei.

Erst jetzt bemerkte er, dass er im Schlafanzug war. Er erinnerte sich an sanfte, geflüsterte Anweisungen, jetzt den linken Arm, jetzt den Po heben, brav, an Henriettes sanfte, kleine Hand.

Henriette, die weit weg war und nur noch manchmal aus der Entfernung zurückkehrte.

Er ging wieder ins Wohnzimmer, fand seine Hausschuhe vor dem Sofa. Er setzte sich, versuchte zu begreifen, was ihn geweckt hatte. Der Druck in der Blase? Der Schmerz in seinem Kopf? Ein Geräusch?

Er spürte, dass er zitterte. Vor Kälte, vor Angst. Er wusste, dass der Mann im Haus war. Wusste es einfach.

Er stand auf.

In der Diele blieb er stehen und lauschte. Der Kühlschrank war angesprungen. Sonst herrschte Stille. Stille und Dunkelheit.

Lautlos betrat er den Vorraum, überprüfte die Haustür. Abgesperrt, doch Henriettes Schlüssel steckte nicht wie sonst im Schloss. War sie wieder fortgegangen?

Er öffnete die WC-Tür, zog sie zu, pinkelte im Dunkeln. Konnte sich lange nicht entscheiden, ob er spülen sollte oder nicht. Ließ es schließlich, zu laut.

Dann schlich er die Treppe in den ersten Stock hinauf. Wo bist du?, dachte er. Oder täuschte er sich? Täuschte ihn die Angst? Er war so sicher, dass sich der Mann im Haus befand 

Oben war es ein wenig heller, weiches Licht drang durch das Fenster von der Straße herein. Er lauschte atemlos – nichts.

Philip lag in seinem Bett und schlief. Das Display des CD-Players leuchtete, Dioden bewegten sich. Da waren sie wieder, die Stimmen vom Nachmittag, so leise, dass er sie fast nicht hörte. Brahms’ Deutsches Requiem, die ganze Nacht lang. Er schaltete den CD-Player aus.

Henriette schlief unruhig, gab einzelne, leise Laute von sich. Ohne seine Decke kam sie ihm in dem Ehebett klein vor. Schutzlos und ausgeliefert. Momente, in denen auch sie das Leben nicht im Griff hatte.

Ein Geräusch ließ ihn herumfahren. Philips Tür öffnete sich.

Philip, mit kleinen Augen blinzelnd, in Unterhose und T-Shirt.

Er legte den Zeigefinger an den Mund, schloss die Schlafzimmertür. Als er fragend auf Carolas Tür deutete, zuckte Philip die Achseln.

Carola lag nicht in ihrem Bett. Kopfkissen und Decke waren in eine Ecke geschoben und eingedrückt. Da Carola zu schlampig war, um das Bett zu machen, wusste er nicht, ob sie heute Nacht schon darin gelegen hatte. Ob sie überhaupt zu Hause gewesen war.

Er bedeutete Philip, ihn nach unten zu begleiten.

In der dunklen Diele sagte er: »Weißt du, wo sie ist?«

Philip schüttelte den Kopf.

Er hastete ins Wohnzimmer zum Telefon. Er hatte zu schwitzen begonnen, roch den Schweiß, roch die Angst. Nicht Carola, dachte er, während er ihre Handy-Nummer wählte. Bitte, Herr im Himmel, lass mit Carola alles in Ordnung sein 

Sie ging sofort dran. Sie stand in der Kaiser-Joseph-Straße in Freiburg, wollte sich gerade auf den Heimweg machen. Mit sechzehn, nachts um halb drei, dachte er, aber das war jetzt nicht wichtig.

Er bat sie, bei einer Freundin zu schlafen.

»Wieso das denn? Ist was passiert?«

»Nein, nein, mach dir keine Sorgen.«

»Habt ihr gestritten?«

»Aber nein, Caro …«

»Ist die Mama weggegangen?«

»Was? Nein, sie ist nicht weggegangen, sie ist hier, Caro, es ist alles in Ordnung, es ist nur so …« Rasch erzählte er: Ein Penner in ihrem Garten, und vielleicht lief der noch in der Gegend rum. Deshalb. Schlaf heute bei einer Freundin. Geht das?

»Ja. Klar.«

Er legte auf.

Ist die Mama weggegangen.

Philips Blick lag auf ihm, ein Blick im Halbdunkel. Schweigend sahen sie sich an.

»Ich denk mir nur, falls er noch in der Gegend rumläuft.«

Philip nickte.

Sie kehrten in die Küche zurück, setzten sich an den Esstisch. Im grellen Licht der Küchenlampe wirkte Philips Gesicht krankhaft blass. Die roten Pickel schienen zu glühen.

Ist die Mama weggegangen.

Er stand auf. Die Kellertür, er musste die Kellertür kontrollieren. Philip nickte.

Die Kellertür war verschlossen, der Schlüssel steckte. Hatte er sich getäuscht? Hatte ihn die Angst getäuscht?

Er kehrte in die Küche zurück. »Vielleicht sollten wir wieder ins Bett gehen.«

»Mhm.«

»Ich meine, du ins Bett und ich aufs Sofa.«

Philip deutete ein Lächeln an, während er aufstand. »Nacht, Papa.«

»Gute Nacht, Philip.«

Er setzte sich, lauschte auf Philips Schritte in der Diele, auf der Treppe. In seinem Kopf schoben sich schmerzhafte Sätze ineinander – ist die Mama weggegangen, vier Jahre schon, erst vier Jahre 

Er ging in den Vorraum, steckte seinen Schlüssel ins Schloss der Haustür, kehrte ins Wohnzimmer zurück, das ihm kalt und stumm vorkam. Als er auf dem Sofa lag und die Bettdecken über sich zog, dachte er, dass er nicht wieder würde einschlafen können, mit diesen schmerzhaften Sätzen im Kopf und dem einen, der dahinter lauerte: Er ist da, er ist wieder da.

Aber er musste doch eingeschlafen sein, denn irgendwann später erwachte er, weil andere Sätze in seinem Kopf waren, Sätze oder Wörter, deren Bedeutung er nicht kannte, Sätze und Wörter aus einem Traum vielleicht, aber sie waren noch zu hören, nachdem sich sein Bewusstsein langsam und schmerzhaft vom Schlaf ins Wachsein gequält hatte – Sätze und Wörter einer fremden Sprache, geflüstert von einer fremden Stimme aus der Dunkelheit.

Er richtete sich auf. »Herr im Himmel …«

»Schhh«, machte die Stimme sanft und sprach weiter, und wieder verstand er nichts, eine osteuropäische Sprache, Slawisch, vielleicht Russisch, es klang weich und fast zärtlich, beinahe wie ein Totengebet, als müsste er mit diesen fremden Wörtern aus der Dunkelheit sterben.

»Herr im Himmel, bitte …«

»Schhh …«

Er wollte schreien, aber in seinen Lungen war wieder zu viel Luft, und so tat er nichts, atmete nur, und sein Atem ging immer schneller.

»Herr … im … Himmel«, sagte der Mann mit langen, dunklen Vokalen. »Herr im Himmel, da.« Er spürte, dass sich der Mann bewegte, dicht an ihn heranrückte. Dann erklangen die dunklen Vokale wieder: »Der Herr ist von Armen Schutz, Schutz im Not.«

Er nickte, während sein Atem immer schneller ging, immer mehr Luft und Angst in seinen Lungen waren.

»Der Herr ist von Armen Schutz, Schutz im Not«, flüsterte der Mann.

»Ja.«

»Da.«

»Bitte …«

»Gehst du weg«, flüsterte der Mann dicht an seinem Ohr. »Gehst du weg mit Familie.«

»Ich …«

»Gehst du weg, ist mein Haus.«

»Ihr Haus?«

»Ist mein Haus.«

»Ich … verstehe nicht …«

»Gehst weg mit Familie, ist mein Haus.«

Er nickte, ohne zu begreifen. »Ja, wir gehen weg.«

»Ist nu mein Haus.«

»Ja«, sagte er und nickte erneut.

»Sieben Tag«, flüsterte der Mann. »Gehst weg sieben Tag.«

»In sieben Tagen, ja.«

»Komm ich sieben Tag.«

»Ich verstehe.«

»Da«, sagte der Mann dicht an seinem Ohr.

Eine Bewegung, kaum ein Geräusch, dann war der Mann an der Tür, ein lautloser Schemen in der Dunkelheit. Das vertraute Geräusch, wenn die Haustür aufgeschlossen wurde, Licht und Schatten tanzten ins Wohnzimmer, dann waren die Schatten fort, nur das Licht blieb, das Licht von draußen, und die Stille draußen und die heisere, sanfte Stimme in seinem Kopf:

Ist mein Haus, ist nu mein Haus.

Komm ich sieben Tag.

I

Sieben Tage

1

OBERSCHLESIER, KEINE POLEN, darauf legten sie Wert, obwohl sie sich nur auf Polnisch miteinander unterhielten. Kleine, dunkelblonde Männer, deren Stimmen seit September durch die Wände und Decken des Hauses drangen und seit Oktober auch von draußen durch die Fenster. Sie hießen Christian, Andreas, Matthias, und Louise Bonì mochte sie, ohne sagen zu können, weshalb. Vielleicht, weil sie Leben in das Haus brachten, während sie es in seine Einzelteile zerlegten, damit es später, im Frühjahr, wunderschön und wie neu und unbezahlbar wäre. An dienstfreien Tagen sah sie ihnen morgens, Honigbrot und Kaffeetasse in der Hand, gern durch das Wohnzimmerfenster beim Zerlegen zu. Wenn es regnete, trug sie manchmal ein Funktelefon oder einen Imbusschlüssel oder eine Botschaft von Fenster zu Fenster, um ihnen den glitschigen Weg auf dem Gerüst um ihre Wohnung herum zu ersparen.

Das einzige Problem war der Lärm. Lärm von sieben Uhr morgens bis sieben Uhr abends, sechs Tage die Woche.

»Entschuldigung für Lärm«, sagte Andreas.

»Ihr könnt ja nichts dafür«, entgegnete Louise und drückte sich den Schaumstoffkegel wieder ins Ohr.

Der größte Teil der Mieter war längst ausgezogen, der Rest hielt noch durch. Spekulierte auf eine Abfindung oder eine bessere Zukunft und litt. Für Louise kam Ausziehen nicht in Frage – nie im Leben würde sie sich von irgendjemandem gegen ihren Willen von irgendwo vertreiben lassen.

»Dann eben mit deinem Willen«, sagte Marcel an einem nebligen Montagmorgen Ende Oktober. Sie standen mit bunten Ohropaxkegeln in den Ohren im Schlafanzug an der Küchentheke, tranken Kaffee, aßen Kekse, weil Louise am Samstag vergessen hatte einzukaufen. Im Radio lief SWR 3, im Treppenhaus knurrte eine Bohrmaschine in tiefem Bass, der für diesen Tag Schlimmstes befürchten ließ.

Louise schüttelte den Kopf. »Quatsch.«

»Wenn diese fleißigen, fröhlichen Landsleute aus dem verlorenen Osten erst mal richtig loslegen … das Dach abtragen, das Treppenhaus rausreißen …«

»Ich fand das Treppenhaus schon immer hässlich.«

»… ein Loch in deine Wohnzimmerwand brechen, damit du überhaupt noch in deine Wohnung kommst.«

»Kann doch auch ganz praktisch sein.«

Marcel hob die Brauen.

»Ich hatte nicht vor auszuziehen, also ziehe ich auch nicht aus, Marcel.«

»Am Ende wirst du noch krank, Liebes.«

Marcel, der Besorgte. Der sich Kümmernde. Hin und wieder für eine Nacht war Kümmern akzeptabel, fand sie. Spätestens wenn die Oberschlesier morgens durchs Fenster grüßten und Marcel »Mein Gott, du musst hier endlich raus« murmelte, fand sie ihn ein wenig überflüssig.

»Wo kommt das Loch eigentlich hin?« Er zeigte mit dem Finger auf das Regal mit der Stereoanlage und den CDs. »Da?«

»Keine Ahnung. Wolltest du nicht gehen?«

Marcel lächelte. »Ich würde mich vorher gern noch anziehen, Liebes.«

Das Schöne an Marcel war, dass er unendlich viel Ruhe und Gemütlichkeit in sich trug. Was er auch tat oder sagte, er tat oder sagte es mit der Zufriedenheit glücklich verheirateter Männer, obwohl er seit langem nicht mehr verheiratet war. Ihn abends manchmal bei sich zu haben, zuzusehen, wie er las, wie er Musik hörte, abspülte, vermittelte ihr das Gefühl, einen Abend lang wieder Ehefrau zu sein. Ein Gefühl, das man mit vierundvierzig hin und wieder brauchte.

Doch ein Abend Ehe alle vierzehn Tage genügte.

Am Morgen ließ Marcel sich gemütlich hinauswerfen.

Marcel, vierundfünfzig, ein liebevoller, in der Mitte auseinandergehender Buchhändler unter einem wirren grauen Haarschopf. Vor allem das Weiche an ihm gefiel ihr. Hin und wieder sich fallen lassen und weich landen, körperlich wie seelisch.

Schwierig war das Trinken. Marcel trank für sein Leben gern abends ein Glas Rotwein. Da Alkohol in ihrer Wohnung tabu war, hatte sie ihn zum Trinken anfangs in seine Wohnung hinübergeschickt. Seit er ins Vauban gezogen war, schickte sie ihn aufs Gerüst. Da stand er dann und wirkte trotz Höhenangst und Kälte gemütlich.

Jetzt hob er die Kaffeetasse, bewegte sie mit ratlosem Blick im Halbkreis von der Küchentheke über Wohnzimmer, Bad und Diele, als wollte er sagen: Ist das hier wirklich so was Besonderes? Lohnt es sich dafür wirklich, diesen Terror auszuhalten?

Aber dann räusperte er sich nur.

Louise trank und wartete. Sie glaubte zu spüren, dass da noch etwas nachkommen würde, etwas Wichtiges womöglich. Ein Räuspern, das Wichtiges einleitete.

Marcel stellte die Kaffeetasse ab, zog die Niemann-Unterlagen zu sich, schob die Kanten mit den Handflächen sorgfältig übereinander.

Schob hier, schob dort.

Sah auf.

»Das Vauban ist hübsch.«

Sie zuckte die Achseln.

»Sehr hübsch. Man kann da gut leben.«

Sie hob die Brauen, dachte: Zu viele Kinder, zu viele freundliche Menschen, zu wenig Autos.

Wartete weiter.

»Wirklich sehr hübsch.«

»Hm.«

Marcel schob wieder, räusperte sich wieder. »Deutlicher werde ich es nicht sagen, Liebes.«

Sie lächelte. Zusammenziehen mit Marcel? Sie strich ihm sanft über den Arm und schüttelte den Kopf.

Dann klopfte es am Küchenfenster, und Marcel verschwand seufzend im Bad, während Louise den Vorhang zurückzog für einen neuen Tag in ihrem Leben auf der Baustelle.

Nachdem Marcel gegangen war, zog sie sich an, dann öffnete sie die Tür. Wenige Minuten später standen die Oberschlesier strumpfsockig und sichtlich verlegen in ihrem Wohnzimmer. Zusammen leerten sie die Regale an der Außenwand zum Hof, durch die Louise ihre Wohnung künftig betreten würde, verteilten sie auf freie Stellen an anderen Wänden, eines wurde zerlegt und verschenkt. Hinter den Regalen fanden sie viel Staub, tote Asseln, ein ungeöffnetes Fläschchen Jägermeister. Auch der Jägermeister wurde verschenkt.

Dann sah sie zu, wie Christian die Wand vermaß und mit einem roten Marker die Umrisse der provisorischen Tür aufzeichnete. Ungefähr hier, zeigte er. Sie nickte.

Eine einbruchssichere graue Metalltür im Wohnzimmer. Ein Steg auf ein metallenes Treppengerüst. Ein Winter auf der Baustelle.

Eh bien?

Überrascht registrierte sie, wie gelassen sie geworden war. Nichttrinken machte offenbar nicht nur gesund, sondern auch gelassen.

»Nicht schön zu wohnen«, sagte Andreas in bedauerndem Ton.

»Ist ja nur für ein paar Monate.«

»Und dann kommt Balkon und ist wohnen wieder schön.«

Sie brachte sie zur Tür, sah zu, wie sie in ihre ausgetretenen Bauarbeiterschuhe schlüpften. Hatte sie das Wohnen jemals schön gefunden? Hier, woanders? Hatte sie jemals irgendwo gern gewohnt? Brauchte sie einen Balkon?

»Danke für Regal und Schnaps«, sagte Christian.

»Bitte«, sagte Louise und schloss die Tür.

Während sie überlegte, ob sie den Staub und die Asseln sofort oder erst am Abend zusammenkehren sollte, dachte sie an den Jägermeister. Was, wenn sie im Juli des vergangenen Jahres nicht das Mon Chérie, sondern den Jägermeister gefunden hätte?

Sie stünde, das war mal klar, an diesem Morgen nicht hier. Sie wäre, auch das war klar, keine Polizistin mehr.

Fröstelnd zog sie Schuhe an, griff nach den Niemann-Unterlagen, verschob Staub und Asseln auf den Abend.

Ein letzter Gang durch das alte Treppenhaus ins Erdgeschoss hinunter, vorbei an Dutzenden verstaubten, verfärbten, verschmutzten Bauarbeitern, Elektrikern, Tischlern, Installateuren, Architekten, an aufgebrochenen Wänden, die rotes Ziegelwerk offenlegten wie blutende Wunden, türlosen, verheerten Wohnungen, stählernen Behelfsstützen, provisorisch verlegten Kabeln, Absperrungen, über Holzplanken, Schutt, herabgefallenen Putz. Das also war ihr Zuhause, gestürmt, besetzt, zerstört von einer freundlichen feindlichen Armee.

Mit dem Finger wischte sie den Staub von ihrem Namensschild am Briefkasten.

Nein, Ausziehen kam nicht in Frage.

Auf dem Weg zum Schlossberg dachte sie an den Fall Niemann. Sie hatte die Berichte und Vernehmungsprotokolle der Kollegen gelesen, Fotos gesehen, war selbst jedoch noch nicht vor Ort gewesen, hatte noch nicht mit den Niemanns gesprochen. Sie wusste vieles, hatte Bilder im Kopf, aber das Wesentliche fehlte: der persönliche Eindruck. Die Bilder in ihrem Kopf führten in die Irre.

Das alte Problem, wenn man spät hinzugezogen wurde.

Hausfriedensbruch und Einbruch, das hätten die Kollegen vom Revier Freiburg-Süd selbst übernommen. Wegen der Schusswaffe war der Fall ans D 11 gegangen. Da sie am Wochenende Bereitschaft gehabt hatte, war sie vom Kriminaldauerdienst in die Lage eingewiesen worden. Weshalb das erst am Sonntagabend geschehen war, nachdem der KDD die anfänglichen Ermittlungsmaßnahmen wie die Vernehmungen selbst übernommen hatte, blieb noch zu klären. Ohne Kompetenzgerangel ging es selten.

Doch das interessierte sie nur marginal. Sie war ja gelassen geworden.

Blieb noch zu klären, ob das gut war oder nicht.

Ein kleines Kirchlein aus rotem Backstein im Schatten des Schlossbergs, Ranken an den Mauern, Gras in den Ritzen zwischen den Pflastersteinen. Sie war schon einmal hier gewesen, vor Jahren, als sie noch verheiratet war und ein normales Privatleben mit Freunden und Kinoabenden und alltäglichen Demütigungen geführt hatte. Irgendein Kind von irgendwelchen Freunden war hier getauft worden, und ihr Herz hatte geklopft, als das Kind geweint hatte, da hatte sie sich in einem Winkel ihres Polizistinnenherzens noch als spätberufene Mutter gefühlt.

»Hübsche Pfarrerin«, hatte Mick gemurmelt.

Auf die Pfarrerin hatte Louise erst Jahre später geachtet, als sie sie in einer Klinik im Wald wiedergesehen hatte. Sie war noch immer hübsch gewesen – aber auch verzweifelt und ohne den Willen weiterzuleben.

Sie öffnete das schmale, dunkelbraune Portal. Vage Spuren Weihrauch lagen in der Luft. Am Altar brannten Kerzen, auf beiden Seiten standen ein paar Vasen mit halb verwelkten Blumen. Wände und Säulen des Kirchenschiffs waren kahl, durch die hohen, schmalen Fenster drang kaum Tageslicht herein. Abgesehen von ihr selbst war die Kirche menschenleer.

Kein Ort, an dem man sich morgens um acht gern aufhielt.

Sie setzte sich in die hinterste Bank. Gedanken an die Taufe, an Mick, ans späte Muttersein strömten durch ihr Bewusstsein – ein anderes Leben, das zum Glück vorbei war. Dann dachte sie an Marcel, den ehemaligen Nachbarn, den sie nur kennengelernt hatte, weil im Sommer 2003 ein anderer, ein falscher Marcel in ihre Wohnung eingedrungen war und sich für lange, lange Monate in ihrem Kopf eingenistet hatte. Als es ihr mit dem falschen Marcel zu bunt geworden war, hatte sie eines Nachts den echten – der leider nicht der richtige Marcel war – aus dem Bett geklingelt. Wollte nur mal wissen, wie Sie aussehen, hatte sie gesagt. Morgens um drei so, hatte er geantwortet, abends um acht beim Italiener am Eck besser.

Ein anderer Eindringling kam ihr in den Sinn, ein älterer Mann mit Pistole, der gebrochen Deutsch sprach und ein seltsames Ultimatum gestellt hatte. Der ursprünglich vielleicht gekommen war, um zu töten, vielleicht auch nicht.

Der Herr ist des Armen Schutz, ein Schutz in der Not.

Ein Eindringling, der einen Psalmvers rezitiert hatte. Nicht ganz korrekt, aber doch so, dass er den Vers auf Deutsch auswendig gelernt haben musste. Sagte zumindest Paul Niemann.

»Louise?«

Aus den Schatten der Säulen vorn am Altar löste sich eine Frauengestalt.

»Wie schön, dass du hier bist, Louise.«

»Hallo, Jenny.«

Jenny Böhm blieb drei Bänke vor ihr stehen. Ihre Hand lag auf der Lehne. Eine weiße Hand im Dämmerlicht, ein weißes Gesicht, schön wie eh und je, doch fast so müde und verzweifelt wie in den ersten Tagen und Wochen in der Klinik im Wald.

»Es geht dir gut, das sieht man.«

Louise nickte.

»Wie’s mir geht, sieht man auch.«

»Ja.«

»Ich meine, du siehst es. Die anderen sehen es nicht.«

»Die anderen sehen es auch, Jenny.«

»Ja, aber sie denken, es liegt an der Arbeit. Dass ich zu viel arbeite.« Jenny Böhm setzte sich seitlich in die Bank. Sie trug Jeans und Pullover, beides schwarz, das blonde Haar war zu einem Zopf gebunden. Unter ihren großen, reglosen Augen war die Haut dunkel.

Wie schön sie war, dachte Louise. Wie krank.

Sie schwiegen.

Ich wollte was verändern, hatte Jenny Böhm in Oberberg gesagt. Aber die wollten nicht. »Die«, das waren der Kirchenvorstand, die Ehrenamtlichen. Die Alten, die seit Jahrzehnten da waren und zusahen, wie die Pfarrer kamen und gingen. Ihr Mann, der Veränderungen bedrohlich fand.

Louise hatte gedacht, dass es nicht so einfach sein konnte. Jenny Böhm hätte sich durchsetzen oder Kompromisse schließen, die Pfarrstelle wechseln, ihren Mann verlassen können. Sie war geblieben.

»Gehst du noch zu den Treffen?«

»Nein, schon lang nicht mehr.«

»Geh wieder hin, Jenny.«

Ein Kopfschütteln.

»Geh hin.«

»Nein«, flüsterte Jenny Böhm.

Louise verstand sie. Nichts stellte sie sich schlimmer vor, als bei einem AA-Treffen von Menschen umgeben zu sein, die durchhielten, wenn man selbst nicht durchgehalten hatte. Die die Anzahl der trockenen Tage nannten, während man selbst nicht mehr über ein paar Stunden hinauskam.

»Was willst du dann dagegen tun?«

Jenny Böhm zuckte die Achseln. »Du bist so stark und so selbstgerecht, Louise. So streng, mit dir selbst und mit anderen. So stolz.« Jenny Böhm erhob sich, setzte sich in die Bank unmittelbar vor Louise. »Riecht man es von hier?«

»Ja.«

»Stört es dich?«

»Ja.«

Jenny Böhm lachte überrascht. »Normalerweise halte ich Abstand, Louise. Ich stelle mich seitlich zu den Menschen, ich gehe hinter ihnen. Ich drehe ihnen den Rücken zu. Ich drehe meinen Kindern den Rücken zu, Louise.«

»Das Versteckspiel hat wieder begonnen.«

»Ja.«

»Das hab ich am meisten gehasst, das Verstecken.«

»Ich erinnere mich.«

»Es hilft, selbstgerecht und streng zu sein, Jenny.«

»Ja, wahrscheinlich hast du recht.«

»Allerdings hab ich recht.«

»Aber ich bin nicht so. Ich bin anders. Ich kann nicht streng sein, Louise. Ich kann mich nicht ins Zentrum der Welt stellen wie du. Wie würde das zu meinem Beruf passen?«

»Du willst es nicht.«

»Doch. Nein. Ach, ich weiß nicht.«

Louise legte ihre Hand auf die weiße Hand von Jenny Böhm und streichelte sie sanft.

»Wie schön, dass du hier bist, Louise.«

»Gehen wir ein bisschen spazieren?«

Sie verließen die Kirche, betraten den weitläufigen Friedhof daneben, den ein Gewirr aus Wegen und Pfaden durchzog. Zwischen kahlen Bäumen standen Hunderte Grabsteine im Nebel, die meisten alt und verwitternd, manche aus dem Lot gesunken, von Moos überzogen, von der Zeit geschwärzt. Hierher flüchte sie, sagte Jenny Böhm, wenn sie getrunken habe oder verzweifelt sei – zu den Toten, den stummen Toten, in deren Schweigen kein Vorwurf liege, sondern Frieden und Erbarmen.

Frieden und Erbarmen, dachte Louise.

Sie selbst sah auf Friedhöfen nur Schmerz und Leid, Gier und Hass. Sie sah die Lügen, die Gewalt, die Angst.

Jenny Böhm sah die Toten, sie die Lebenden.

»Haben unsere Freunde dich geschickt?«

»Nein.«

»Weil ich nicht mehr hingehe?«

»Aber nein.«

»Warum bis du dann gekommen?«

»Weil ich deine Hilfe brauche.«

»In theologischer Hinsicht?«

»Ja.«

Sie blieben stehen. Louise hatte vergessen, wie klein Jenny Böhm war. Sie reichte ihr kaum bis zur Nase. So klein, so schutzbedürftig. Und sie hielt tatsächlich Abstand.

»›Der Herr ist des Armen Schutz, ein Schutz in der Not.‹ Kennst du das?«

»Ein Psalm«, sagte Jenny Böhm und hob die Brauen.

»Ja. Psalm 9, Vers 10.«

»Manchmal heißt es auch ›ein Schutz in Zeiten der Not‹.«

»Wird dieser Vers bei bestimmten Gelegenheiten verwendet? Von bestimmten Leuten?«

Jenny Böhm wandte den Kopf zur Seite. Ihre Wangen waren leicht gerötet, vielleicht von der Kälte, vielleicht von der Scham. »Ich weiß nicht. Nein, ich glaube nicht. Andere Verse und vor allem andere Psalmen schon, aber dieser?«

Sie gingen weiter.

»Psalm 9 ist eine Art Danklied für die Rettung aus Bedrängnis. Der Herr, der die Armen und Bedrängten vor ihren Feinden rettet, ihnen Schutz bietet, weißt du. Der richtet und Gerechtigkeit verbreitet, indem er die Gottlosen und ihre Städte auslöscht. Ein ziemlich alttestamentarischer Psalm, wenn man ihn wörtlich versteht. Sehr brutal und männlich. Aber vielleicht solltest du mit jemandem reden, der sich mit Bibelexegese und den Psalmkommentaren auskennt. Wenn du möchtest, rufe ich einen Kollegen an.«

»Kannst du das heute machen? Es eilt ein bisschen.«

»Habt ihr einen Mörder, der ein religiöser Fanatiker ist?«

»Vorerst nur einen Einbrecher.«

»Vorerst?«

»Könnte sein, dass er in ein paar Tagen wiederkommt.«

»Und etwas … Schlimmeres tut?«

Louise zuckte die Achseln.

»Wie viel Verantwortung du hast«, murmelte Jenny Böhm.

Sie schwiegen ein paar Minuten lang, folgten den feuchten Wegen und Pfaden, mal hintereinander, mal nebeneinander, vorbei an Grüften, Kreuzen, steinernen Engeln, Statuen, denen Glieder oder der Kopf fehlten, all den Toten, bei denen Jenny Böhm Trost zu suchen pflegte.

Es begann zu nieseln, aber sie achteten nicht darauf.

»Ich kann nachsehen, ob der Vers in den Introiten verwendet wird. Falls ja, könnte er ihn daher kennen.«

»Was sind Introiten?«

»Die Eingangsgesänge in den Gottesdiensten beziehungsweise Messen, bei denen auch Psalmverse rezitiert werden. Wenn er sehr religiös ist oder vielleicht sogar einem Orden angehört, kennt er den Vers von den Stundengebeten. Die Mönche und Kleriker beten innerhalb eines bestimmten Zeitraums alle hundertfünfzig Psalmen. Früher an einem Tag, heute haben sie vier Wochen.«

»Mein Gott, da bleibt nicht viel Zeit für anderes.«

Jenny Böhm lachte nicht. »Ja, weder für sündige Gedanken noch für sündige Begierden.«

»Apropos«, sagte Louise. »Hab ich dir erzählt, dass ich im Kloster war?«

Jenny Böhm blieb stehen, strich sich eine feuchte Strähne aus der Stirn. »Im Kloster?«

»Nach Oberberg war ich in einem Zen-Kloster im Elsass. Sozusagen zur Entwöhnung.« Louise erzählte von den Monaten im Kanzan-an im Frühjahr 2003, den langen Spaziergängen im Wald mit dem Roshi, der grauen Katze, der deutschen Nonne Chiyono, die kein Ich mehr hatte und trotzdem oder gerade deshalb so fröhlich war, von den Tee-Zeremonien, die ihr im Rückblick unendlich langwierig und anstrengend vorkamen, mein Gott, das dauert, bis du da mal eine Tasse Tee in der Hand hast, du sitzt im Schneidersitz da und hast Kreuzschmerzen und Durst und wartest und fragst dich, ob du nicht irgendwo einen Schluck Sake, oder was die Japaner so trinken, auftreiben und in den Tee gießen kannst, und dann ist der Tee endlich fertig, aber die Tasse ist so klein, dass du sie mit einem Schluck geleert hast 

Sie sah Jenny Böhm an. Lach doch mal, Jenny.

Aber Jenny Böhm lachte nicht.

Sie kehrten zum Eingang des Friedhofs zurück, gingen zur Straße. Der Nieselregen hielt an. Jenny Böhm versprach, noch am Vormittag wegen des Psalmverses zu telefonieren. Als sie den roten Renault Mégane mit der blauen Motorhaube und der blauen Fahrertür sah, glitt ein unruhiges Lächeln über ihr Gesicht. In Oberberg waren sie an den Sonntagnachmittagen mit dem Mégane über Land gerast, hatten Kassetten mit der Musik ihrer späten Jugend gehört, sich bei Kate Bush die Seele aus dem Leib gebrüllt und bei Udo Lindenberg im Duett geheult.

Lady Whisky im Doppelpack.

Jenny Böhm stand reglos da, die Fingerspitzen in den Jeanstaschen. »Tja«, sagte sie. »Das gilt jetzt nur noch für mich.«

»Du hast es einmal geschafft, du schaffst es wieder.«

Ein vages Nicken.

»Jenny, krieg den Hintern hoch, ja?«

Jenny Böhm lächelte überrascht.

»Ich will dich beim nächsten Treffen sehen.«

Ein vages Nicken.

»Jenny?«

»Hm?«

»Du kommst?«

»Ich …« Ein Hauch von einem »Ja« folgte.

»Gut.«

Sie umarmten sich.

Als sie im Wagen saß, fragte Louise sich, ob sie sich damit verpflichtet hatte, ebenfalls zum nächsten Treffen zu gehen. Sie grinste verärgert, schob die Santana-Kassette in den Schlitz.

Es wäre ihr Erstes überhaupt.

»Nicht wieder ein Mönch«, sagte Rolf Bermann.