Alan Mills

Eine Subkultur der Träume

Auf Twitter

Aus dem Spanischen von Johanna Richter

ein mikrotext

Lektorat: Nikola Richter

Herstellung: Booktype

Cover: Andrea Nienhaus

Coverfoto:pixabay.com (Lizenz CC0 1.0)

Covertypo: PTL Attention, Viktor Nübel

www.mikrotext.de – info@mikrotext.de

ISBN 978-3-944543-29-1

Alle Rechte vorbehalten.

© mikrotext 2015, Berlin

Alan Mills

Eine Subkultur der Träume

Auf Twitter

Aus dem Spanischen von Johanna Richter

Motto

Erst wollten die Rockstars wie Dichter sein. Dann wollten die Dichter wie Rockstars sein. Jetzt sind alle bei Twitter.

Vorwort des Autors

Kurz nachdem ich von Guatemala nach Deutschland gezogen war, sah ich mich einem dreamstorm ausgesetzt, einem Sturm unverständlicher und intensiver Träume.

Weil ich verstehen wollte, was da passierte, und weil ich den Bezug zu meiner eigenen Sprache beibehalten wollte, suchte ich therapeutische Linderung bei Twitter.

Ich schrieb fast jeden Tag etwa eine Stunde lang. Manchmal twitterte ich gleich das erste, was ich beim Aufwachen gedacht hatte, manchmal speicherte ich nur Entwürfe, die ich erst dann twittern würde, wenn vor mir im sozialen Netzwerk eine Tendenz oder eine alberne Mode aufschimmerte.

Gelegentlich war ich ein Opportunist, der mit der Welle schwamm: Wenn ich sah, dass viel über Tiere getwittert wurde – unvergesslich etwa das Foto des Wiesels, das sich einem Specht auf den Rücken gesetzt hatte, um mitzufliegen –, zog ich eine Hipsterkatze oder ein Wasserschwein aus meinem Zylinder.

Ich wollte die schnellste Pistole der hispanoamerikanischen Tweet-Szene sein. Ich wollte die intelligente Person töten, die in mir wohnte. Den Intellektuellen foltern, der meinen Körper besetzte. Den Dichter töten, der ich gewesen war.

Ich hatte einige Jahre zuvor meinen Rückzug aus der poetischen Arena angekündigt: Ich würde zu keinem Festival mehr fahren, kein einziges Gedichte mehr schreiben, hatte ich gesagt, aber all das stellte sich am Ende als eine große Lüge heraus.

Von Tweet zu Tweet erfuhr ich daraufhin eine andere Dimension des Schreibens: die Kontinuität zwischen Traum, Gedicht, Tweet, Aphorismus, Mikro-Fiktion, erzählter Realität, interstellarer Reise.

So merkwürdig es auch klingen mag, dank Twitter erinnerte ich mich an eine Technik, die von den Maya-Schamanen praktiziert wird: durch die Träume zu navigieren, als ob man an einem Kunstwerk arbeiten würde. Ich verstand, dass ich zu einer Subkultur gehörte, in der die Träume in Blöcken von einhundertvierzig Zeichen kommuniziert werden.

Alan Mills, Dezember 2015




Tweets

Mein liebstes literarisches Genre: die Notiz ohne Bedeutung. Mein zweitliebstes Genre: der Tweet. Das dritte: der Tweet ohne Bedeutung.

Das Schicksal steht geschrieben. Die Kunst ist, es zu lesen.

Mein nächstes Buch wird davon erzählen, wie ich ein Buch löschte, in welchem ich erzählte, wie ich ein Buch löschte. Tolle Idee, oder?

Ich habe die Kritik des unveröffentlichten Buches erfunden, eine Ableitung der Kritik des ungelesenen Buches.

Bald werde ich die Kritik des ungeschriebenen Buches erfinden.

Denn welche Bedeutung hätten wir ohne jene, die uns folgen, um uns zu sagen, dass wir keinerlei Bedeutung haben?

Manche Leben sollten Untertitel haben.

Der Text ist der Traum des Traumes.

Der Roman gewinnt by points. Die Short Story by knockout. Die Lyrik gewinnt by default.

Der Tweet verliert immer.

Der Schlüssel zu diesem Geschäft ist zu wissen, dass es weder einen Schlüssel noch ein Geschäft gibt.

Die Realität ereignet sich zweimal: erst als Kafka, dann als Kuscheltier-Kafka.

Du schließt dich zum Lesen ein. Zum Schreiben. Sie beschuldigen dich als antisozial. Sie beschuldigen dich, telepathische Aktionen gegen Unbekannte durchzuführen. Du gehst raus.

Ich möchte euch nicht unter Druck setzen, aber das Leben ist dort draußen.

Empathie ist, wenn einem der Tod der Statisten in den Actionfilmen nahe geht.

Um einen realistischen Blick auf die Welt zu haben, muss man sie mit den Augen von Ziggy Stardust sehen.

Ich bin optimistischer, seit ich den Glauben an die Menschheit verloren habe.

Mein unheimlicher Doppelgänger ist ein freundlicher Mensch.

Wenn man etwas Poetisches sagt, muss man mit allen Mitteln versuchen, es jemand anderem zuzuschreiben.

In ihr schminkt sich eine Gottheit.

Ich bilde meine Katze mit Gedichten, damit sie diesen Prosaband in meinem Namen fertig schreibt.

Die Vorstellungskraft ist Erinnerung in Bewegung.

Ich unterhalte mich gerne mit den Personen, die ich unter anderen Umständen, zu anderen Zeiten oder in anderen Welten gewesen sein könnte.

Spricht man mit seinem Doppelgänger, kollabiert das Universum, und es bildet sich eine Raum-Zeit-Spalte, in der ein anderer Doppelgänger einen Roman schreibt.

In meinem Roman geht es um die Beziehung zwischen dir und meinem Spiegel.

Ich habe ein Foto des Spiegels vor den Spiegel gehalten. Dieses Universum hat sich geöffnet.

Wenn der Leser noch nicht existiert, muss man ihn wohl erfinden.

Bücher, die niemals veröffentlicht werden, gehören zum Reich der unsichtbaren Leser.

Wenn du dich nie in eine fantastische Erzählung infiltriert hast, um ein Amulett zu finden und deine Geschichte zu ändern, interessierst du mich nicht.

Ein Typ hat mir gerade eine Holzkiste angeboten. Es sei die Originalkiste aus Schrödingers Experiment (ohne Katze?). Ich habe sie gekauft.

Steckt man die dreckigsten Texte des Reggaeton und des Electroperreo Playero in einen Teilchenbeschleuniger, kommt ein Elisabethanisches Sonett heraus.

Niemals sollte man das Potential einer Waschmaschine als Zeitmaschine unterschätzen.

Kafka hat seine Unterlagen (vollständig und geordnet) bei der Behörde für das Glücklichsein eingereicht, aber sie haben sie nie bearbeitet.

Ich möchte auf eine Party gehen, wo mich niemand kennt. Etwas Spaß haben. Gehen, ohne dass jemand weiß, ob er mich gesehen oder nur geträumt hat.

Tipp: Wenn er dir sagt, dass er Dichter ist und eine Rockband hat, heißt das, dass er weder Dichter ist, noch eine Rockband hat.

Seine teuflischen und abscheulichen Pläne beinhalteten die Möglichkeit, ein Buch zu veröffentlichen. Ein Buch aus Tweets.

Vielleicht wollte Kafka nur „La Cucaracha“ tanzen.

Katzen sind meine liebsten fiktionalen Figuren.

Ich habe meinen Körper verlassen: Einen Moment lang sah ich mich außerhalb der sozialen Netzwerke.

Alle literarischen Genres sind realistische Dokumentationen der verschiedenen Momente der Vorstellung. Nur die Autobiografie ist Fiktion.

Cervantes retweetet uns, während er den Quijote schreibt.

Alles wäre anders gewesen, wenn Sancho Pansa keine Pilze probiert hätte.

Vielleicht ist ein Buch nichts anderes als eine Sammlung möglicher Ansätze für ein Buch.

Als er den Kopf verlor, hatte er eine Idee.

Ich transkribiere die Albträume des Monsters, das unter meinem Bett schläft. Es ist eine Liebesgeschichte.

Wir sind alle das Monster unter dem Bett von jemand anderem.

Der Lyriker wird verrückt, weil seine Leser auch seine Feinde, Liebhaber, Musen, Lieblingsdichter und Verleger sind. Manchmal alles auf einmal.

Als Lyriker abdanken und Gedichte als Hommage daran schreiben, was hätte sein können.

Für mein Panini-Album der Dichter habe ich den Sticker von Fernando Pessoa mehrfach bekommen (und sogar mit Heteronymen).

Ich händige Blanko-Visitenkarten aus.

Ich bin ein offenes Buch, das die Geschichte eines offenen Buches erzählt, in dem es um ein offenes Buch geht.