Phie und die Hadeswurzel

Phie und die Hadeswurzel

Angela Pointner

Seifert Verlag

Inhalt

Impressum

Widmung

Epigraph

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Ein Danke aus tiefstem Herzen …

Über die Autorin

Außerdem von Angela Pointner

Für Nina


Ein besonderer Dank an

Alex, Max, Paula, Lilith und Julia

sich öffnen

einsicht gewähren

heißt der eigenen stärke

die größte last zu nehmen

Prolog

Prolog

Das kleine Ruderboot glitt lautlos über das Wasser dahin. Mond und Wolken spiegelten sich auf der Seeoberfläche, die mitten in der Nacht wie ein zerknittertes Laken im schwachen Wind ruhig auf und ab wogte. ­Sophie steuerte das Boot mit wenigen konzentrierten Schlägen auf ihr Ziel zu: eine kleine sandige Bucht, die sich am Rande eines mächtigen Felsens in das dichte Gebüsch der Insel duckte. Von Kletterpflanzen überwucherte Äste bogen sich würdevoll zum Wasser hin. Wenn die Löwenklippe nicht so markant über jener Stelle thronte, die sie anvisieren wollte, dann hätte ­Sophie den Strand mühsam absuchen müssen, um sie zu finden. Silbergraue Weiden, stachelige Brombeer- und Himbeerstauden, Eschen und mächtige Buchen bildeten einen fast uneinnehmbaren Wall um jenes Reich, das sie nun fast jede Nacht besuchte.

Mit einem scharfen Ruck fuhr das Ruderboot auf die Sandbank auf. ­Sophie sprang ans Ufer und zog das Gefährt ins Trockene. Es spritzte unter ihren Füßen auf, als sie im seichten Wasser landete, doch weder ihre Schuhe noch ihre Hose waren nass, wie sie ein um das andere Mal erstaunt feststellen musste. Es lag eine geheimnisvolle Stimmung über ihrer Insel: Der Nebel, der über der Wasseroberfläche schwebte, verband sich fast nahtlos mit den dicken grauen Wolken, die das gegenüberliegende Ufer bis zum Himmel verdeckten. Für einen kurzen Moment leuchtete ein Berggipfel in der Ferne auf. Der Mond hatte eine kleine Lücke genutzt und ließ Schnee und Felsen in einem gelblich-weißen Licht erscheinen. Und wie in jeder Nacht, hatte sie genau in diesem Moment, als sie der Bucht den Rücken zukehrte, das Gefühl, beobachtet zu werden. Als würde im Dunkel des Dickichts etwas oder jemand lauern und jeden ihrer Schritte verfolgen. Eine Gegenwart, die sich nicht fassen ließ, stets unsichtbar blieb, auch wenn sie sich noch so schnell umdrehte. Ihr Magen verkrampfte sich, und die Angst ließ sie regelrecht zusammenschrumpfen. ­Sophie duckte sich zum Löwenfelsen, so als könnte er sie beschützen, und kletterte so schnell wie sie vermochte durch einen kleinen Spalt, der sich zwischen Stein und Gebüsch auftat.

Ein schmaler Pfad schlängelte sich durch das dichte Unterholz, und je weiter sie in den Wald hineinlief, desto heller und freundlicher nahm er sie auf. Die hohen Laubbäume gaben zwar kaum den Blick zum Himmel frei, doch unter ihrem Dach hatten sich moosige Lichtungen gebildet. Das struppige Gebüsch des Uferstreifens war weichen Farnen gewichen, zwischen denen ein kleiner Bach hervorsprudelte. Von Moos und Flechten überwachsene Felsbrocken ließen den Wald mystisch und geheimnisvoll erscheinen, mit Efeu umrankte Baumstümpfe und knorrige Wurzelstöcke verstärkten diesen Eindruck noch. ­Sophie liebte diesen Teil des Waldes, der am Fuß eines Hügels lag und sich fast bis zu dessen höchster Stelle erstreckte. Sie kannte ihn inzwischen fast so gut wie ihre Westentasche, jede Lichtung, jeden Felsvorsprung hatte sie begutachtet, aber nur ein Ort konnte ihre Sehnsucht, die sie Nacht für Nacht auf die Insel trieb, stillen. Sie lief den Pfad, auf dem sie gekommen war, weiter, und schon bald führte er den Hügel empor. In sanften Serpentinen stieg ­Sophie immer höher, bis sie die Waldgrenze erreicht hatte und der grasige Gipfel vor ihrem erwartungsvollen Blick aufragte. Genau am höchsten Punkt war ein mächtiger bohnenförmiger Felsen in das hohe Gras gebettet, als hätte ihn ein Riese an die Spitze seiner Sandburg gesetzt. Die Oberfläche des Steines war rau, aber dennoch nicht abweisend, er fühlte sich warm an, so als hätte er das Sonnenlicht des ganzen Tages in sich gespeichert. ­Sophie liebte es, sich in die Kuhle ganz oben hineinzukuscheln, von diesem Punkt aus konnte sie fast die ganze Insel überblicken. Während der See und das andere Ufer noch immer im Wolkenmeer versteckt lagen, wurde ihr Reich vom Mond in ein betörendes Licht getaucht und schimmerte in den verschiedensten Grau- und Silbertönen. Fasziniert genoss ­Sophie das Glitzerspiel, doch tief in ihrem Inneren spürte sie eine immer stärker werdende Sehnsucht: die nach Farben im Sonnenlicht. Farben standen für sie für das pralle Leben. Jede Stimmung, jeder Moment hatte eine eigene Tönung, und ­Sophie wäre so gerne der tiefschwarzen Realität entflohen.

1

Kapitel 1

Als der Wecker klingelte, hatte ­Sophie das Gefühl, soeben erst eingeschlafen zu sein. Das konnte nur ein beschissener Tag werden. Die letzte Mathearbeit des Schuljahres stand an, und ­Sophie wusste, dass sie heute nur auf ihr Glück bauen konnte. Was sie gelernt hatte, durfte man bestenfalls als bruchstückhaft bezeichnen. Wie immer, wenn eine Prüfung bevorstand, war ihre Mutter früher aufgestanden, um ein besonders »nahrhaftes« und »konzentrationsförderndes« Frühstück zuzubereiten. Das bedeutete, dass eine dampfende Müslischüssel mit zweifelhaftem Inhalt für sie auf dem Küchentisch bereitstand, während sich Jonas über seine Nutellabrote hermachte. Jonas war ihr »kleiner« Bruder, acht Jahre alt und überaus verhaltenskreativ, wie Mums Freundinnen zu scherzen pflegten. Für ­Sophie hieß das, mit einer vorlauten und zappeligen Nervensäge die ersten Minuten des Tages verbringen zu müssen, obwohl sie sich am liebsten in ihrem Bett vergraben hätte.

Doch Jonas war noch gar nicht wach. ­Sophies Mutter Mira stand allein in der Küche und klappte gerade eine prall gefüllte Jausenbox zu. »Guten Morgen, mein Schatz! Ich hab ein Müsli gemacht und dir noch ein bisschen Nervennahrung für später eingepackt.« Sie lächelte, sah dabei aber müde und erschöpft aus. Das blonde Haar war zu einem schlampigen Knoten gebunden, aus dem unzählige unfrisierte Strähnen hingen. Die Augen waren verquollen, und sie hatte sich nur schnell eine alte, ausgewaschene Sweatjacke über ihr Nachthemd gezogen.

»Morgen«, brummte ­Sophie, »wo ist der Quälgeist?«

»Du meinst Jonas? Der ist krank. Hat sich die ganze Nacht die Seele aus dem Leib gekotzt. Ich habe keine Minute geschlafen.«

»Mmmm.« ­Sophie reagierte kaum und schaufelte missmutig den undefinierbaren süßen Brei in sich hinein, der sie heute über die Mathearbeit retten sollte.

»Tina kommt nachher. Ich muss heute arbeiten, und am Nachmittag fahre ich zu Papa.« Ihre Mutter legte die Jausenbox vor ­Sophie auf den Tisch und schaute sie fragend an.

­Sophie wusste, was dieser Blick bedeutete, und sie hasste ihn, hasste alles, was damit zusammenhing, was dahintersteckte. Sie sollte ihren Vater wieder regelmäßig besuchen, sollte ihren Teil dafür tun, dass er wieder gesund wurde. Dass er aufwachte. So wie in diesen kitschigen Klinikserien. Wenn man nur das Richtige tat oder sagte, dann würde er die Augen aufschlagen, und alles wäre wie früher. Doch ­Sophie wollte nicht mehr, sie hatte genug von sterilen Krankenhausgängen und unpersönlichen Krankenzimmern. Sie hatte aufgehört, ihn zu besuchen. Er war früher nie da gewesen, wenn sie ihn brauchte, jetzt war sie nicht mehr da. Aus. Basta.

­Sophie hatte eigentlich gehofft, noch ein paar Worte mit Liv wechseln zu können, bevor der Unterricht begann, aber ihre Freundin kam wie immer im letzten Moment. Atemlos hechtete sie zur Tür herein, die gleich darauf von Professor Motta geschlossen wurde. Liv war ­Sophies beste Freundin und, wenn sie ehrlich war, auch ihre einzige. Die beiden erfüllten jedes amerikanische Teeniefilmklischee, zwei Nerds, die vom Rest der Klasse gerade noch geduldet wurden. Warum sie zwei sich auf Anhieb verstanden hatten, war ­Sophie allerdings bis heute ein Rätsel. Das konnte nur mit diesen Gegensätzen zu tun haben: ­Sophie stets missmutig und unfreundlich, Liv auf eine naive Art immer fröhlich und optimistisch. Auch äußerlich unterschieden sich die beiden Mädchen deutlich. ­Sophie, die immer Schwarz trug, was ihre hagere Figur noch zerbrechlicher erscheinen ließ, und Liv, die hautenge bunte T-Shirts mit klugen Sprüchen darauf liebte, die sie selbstbewusst über kleine Speckröllchen an Bauch und Hüften zog. Liv war die Einzige, der ­Sophie von ihren Träumen erzählt hatte. Nicht gleich nach dem ersten natürlich, doch als es für ­Sophie langsam zur Gewissheit wurde, dass das, was sie da in der Nacht erlebte, nicht mehr »normal« war, hatte sie jemanden zum Reden gebraucht. Jemanden, der es genauso aufregend finden würde wie sie, der ihr begeistert zuhören würde. Jemanden, mit dem sie dieses Abenteuer teilen konnte.

Das Klatschen eines Heftes auf ihrem Tisch holte ­Sophie jäh aus ihrer Gedankenwelt in die bittere Realität zurück. »Angefangen wird erst, wenn ich alle Hefte ausgeteilt habe. Auf mein Kommando, jetzt geht’s los, meine Herrschaften, viel Glück.«

Mit einem tiefen Seufzer überflog sie die Prüfungsaufgaben, und siehe da, ein Lichtblick! Sie hatte offenbar die richtigen Bruchstücke ausgewählt. Der Rest des Vormittags verlief schleppend. Da einige Klassen auf Sportwoche waren, mussten viele Schulstunden suppliert werden. Die Vertretungslehrer meinten es besonders gut mit ihnen, was zur Folge hatte, dass sie einen mehr oder weniger interessanten Lehrfilm nach dem anderen vorgesetzt bekamen.

­Sophie nutzte die Dunkelheit des Filmsaales für ein Nickerchen zwischendurch, das durch Livs spitzen Ellenbogen jäh beendet wurde. »Bist du verrückt? Das tut weh!«

»Das Volleyballtraining fällt heute auch aus, fährst du mit mir in die Stadt?«, zischte Liv unbeeindruckt.

»Klar«, ­Sophie überlegte nicht lange. Wenn ihre Mutter mitbekäme, dass sie unverhofft einen freien Nachmittag zur Verfügung hatte, dann würde es für sie heißen, ab in die Klinik. Zu ihrem Vater. Und da wollte sie nicht mehr hin, auf gar keinen Fall.

»Wir holen uns was vom Scooters und setzen uns dann in den Stadtpark, ok?«

»Ja, gern, bloß weit genug weg vom Krankenhaus!«

Sie kauften sich ein Truthahn-Sandwich mit Käse, Gurken und Tomaten, dazu einen Kokos-Ananassaft, und ließen sich als Nachspeise einen Beerencrumble einpacken. »Wenn schon, denn schon«, dachte ­Sophie. Schließlich hatte sie den Tag ja mit gesunder Nervennahrung begonnen. Die Sonne strahlte vom Himmel, im Stadtpark blühten bereits die ersten Sommerblumen, und die sattgrünen Wiesen waren belegt mit zahlreichen Städtern, die sich eine Auszeit vom hektischen Alltag gönnten.

Liv und ­Sophie steuerten auf ihre Lieblingsbank unter einer großen Trauerweide zu, die ihre Äste in den kleinen Ententeich hängen ließ. Unwillkürlich musste ­Sophie an ihre Trauminsel denken, wie gerne hätte sie diese üppige Vegetation einmal in so herrlichen Sommerfarben erlebt. Während sie ihr Sandwich aß, ließ sie ihren Blick über die Landschaft gleiten, und zum ersten Mal fielen ihr die vielen verschiedenen Grüntöne auf, die der Park zu bieten hatte. Das schwarz-dunkle Grün des Haselnussstrauches, daneben das fast schon grelle, gelbliche Hellgrün einer Akazie, um den Teich rötlich-grün gestreifte Gräser. Warum hatte sie früher nicht darauf geachtet? Bei ihrer Kleidung oder auch bei ihren Schulsachen spielten Farben eine große Rolle für ­Sophie. Sie drückten ihre Stimmung aus, ihren momentanen Blick auf die Welt. Warum hatte sich ihre Sicht auf die Dinge nun verändert? Weil im Mondlicht alles grau und silbern glänzte?

»Und, wie war dein Traum heute?« Liv hatte ihr Sandwich im Eiltempo verdrückt, daher war es jetzt vorbei mit der beschaulichen Ruhe. Stille war für Liv definitiv eine überschätzte Kategorie.

»Immer das Gleiche, der See, Nebel, ich im Ruderboot, die Bucht, der Wald und schließlich die Gipfelbohne.«

»Nichts Neues?«

­Sophie hörte die Enttäuschung in Livs Stimme. Ja, sie hätte sich von den letzten Nächten auch mehr erwartet. So viel war passiert, als sie in den ersten Wochen zu ihrer Traum­insel aufgebrochen war, ständig gab es Neues zu entdecken. Der Löwenfelsen, der ihr das Tor zu ihrer Welt eröffnet hatte – in den ersten Nächten war sie, sinnlos suchend, am Ufer entlanggerudert und hatte keine Anlegemöglichkeit gefunden. Der Weg in den Wald, der ihr jede Nacht eine neue kleine Überraschung geboten hatte, schmale Pfade, die einem verwinkelten Irrgarten glichen, Felsformationen, die erklettert werden mussten, Bäche, an denen man stundenlang Staumauern bauen oder Steine über die Wasseroberfläche springen lassen konnte. Für das alles war man auch mit 13 Jahren noch nicht zu alt. Zumindest nicht im Traum.

»Vielleicht ist das Ganze ja wie ein Computerspiel und du findest einfach den Zugang zum nächsten Level nicht«, meinte Liv trocken.

»Und ich soll jetzt im Internet nach Tipps suchen, oder wie?«

»Warum nicht, vielleicht bist du ja nicht die Einzige auf der Welt, die so träumen kann. Du bist sicher nicht die Einzige auf der Welt. Kann ich mir nicht vorstellen.« Liv schaufelte sich genüsslich einen übervollen Löffel Crumble in den Mund. Zumindest für einen kurzen Moment würde sie nun still sein, und das gab ­Sophie Zeit zum Nach­denken. ­Natürlich hatte sie sich schon oft den Kopf darüber zerbrochen, dass sie nicht die Einzige sein konnte, dass es da draußen jede Menge Menschen gab, die so real in ihre Traumwelten eintauchten. Sie hatte sich im Internet über das Klarträumen schlau gemacht, die Schlafphasen studiert, in Esoterikforen nach Hinweisen gesucht. Aber nichts, sie war auf nichts und niemanden gestoßen, der über ähnliche Erfahrungen berichtet hatte wie sie.

Liv schien ihre Gedanken lesen zu können: »Ich hab auch schon Stunden im Internet gesurft und nichts gefunden, aber vielleicht suchen wir einfach nach dem Falschen.«

»Mmmmh«, ­Sophie massierte ihren Nacken und streckte sich. Seitdem sie begonnen hatte, im Traum ihre Insel zu erkunden, wachte sie zunehmend mit starken Verspannungen auf. Aber wonach sollte sie suchen? Welche Fragen sollte sie stellen? Spielte das Schicksal, das ihre Familie getroffen hatte, eine Rolle? Schließlich hatten die Träume begonnen, kurz nachdem ihr Vater verunglückt war.

»Schreib einfach deine Geschichte auf und stell sie in die ­ComUnity!« Liv blickte sie mit großen Augen an und leckte dabei genussvoll den Löffelrücken ab.

»Meinst du wirklich?« ­Sophie war nicht gerade begeistert von diesem Vorschlag, das Schreiben war nicht ihre Stärke.

»Frau Beck würde dies wohl sehr begrüßenswert finden.« Liv ahmte mit näselnder Stimme ihre Deutschlehrerin nach: eine ältere Dame, die ihren Ruhestand herbeisehnte, den Jugendlichen von heute aber noch unbedingt einen höflichen Umgangston mit auf den Weg geben wollte. »Bei der Traumdeutung wird den Leuten ja auch immer geraten, sie sollten alles aufschreiben.«

»Um Gottes willen, mit diesen Psychofuzzies will ich nichts zu tun haben, da reicht mir schon meine Mum!« ­Sophie verzog das Gesicht.

Liv wusste sofort, dass sie das falsche Thema angeschlagen hatte. ­Sophie und ihre Eltern, das ging im Moment gar nicht. Und das obwohl sie sich immer so nahe gewesen waren, ­Sophie und ihre Mutter. Liv hatte ­Sophie oft um das verständnisvolle und lockere Miteinander zu Hause beneidet. Doch der Autounfall des Vaters hatte alles verändert. »So meine ich das doch nicht!«, sagte sie jetzt. »Schreib’s für dich auf, dann ist in deinem Gehirn wieder Platz für was Neues. Und außerdem: Vielleicht hört das Träumen ja irgendwann auf, und dann hast du was, um dich zu erinnern, Phie.«

Wenn Liv diesen Spitznamen verwendete, dann war sie auf Versöhnungskurs, und ­Sophie ließ sich auch nicht lange bitten. Sie nahm ihre Freundin in den Arm: »Olivia, wenn ich dich nicht hätte!« Und das meinte sie aus tiefstem Herzen.

Die Stimmung war angespannt, als ­Sophie abends nach Hause kam, ihre Mutter lernte mit Jonas für irgendeinen Erdkunde-Test, und das bedeutete immer dicke Luft. Ihr kleiner Bruder konnte einfach nicht still sitzen, und genauso flüchtig war seine Konzentration. »Jetzt bleib einmal fünf Minuten sitzen und hör mir zu!«, hörte sie ihre Mutter schimpfen, als sie mit einem kurzen Gruß in ihr Zimmer schlüpfte.

»Hi, muss noch lernen und geh dann schlafen, gute Nacht!« ­Sophie warf ihren Rucksack neben den Schreibtisch und setzte sich aufs Bettsofa. Ihr Zimmer war eine eigenartige Mischung aus Kleinmädchen-Reich und Anarchistenbude. Die Wände, vor Jahren in Rosa- und Lilatönen ausgemalt, hatten einmal hervorragend zu den hellen Möbeln aus Kiefernholz gepasst. Im Regal über dem Bettsofa saßen ein paar staubige Stofftiere, die sie zuletzt mehr und mehr vernachlässigt hatte. Quer über dem Kleiderschrank und auch über die anschließende Wand prangte allerdings ein mit schwarzer Sprühfarbe aufgebrachtes Peace-Zeichen und die Worte »Life sucks!«, Zeichen eines zutiefst frustrierenden Wochenendes, an dem sie beschlossen hatte, ihren Vater nicht mehr zu besuchen, und Mum darüber in Tränen der Wut ausgebrochen war. Soviel zum »Fels in der Brandung«, eine Rolle, in die ihre Mutter geschlüpft war, als sich ­Sophies Vater Robert beruflich so einspannen ließ, dass für die Familie keine Kraft mehr übrig blieb. Mira strotzte zu dieser Zeit vor Energie. Sie war Vater und Mutter in einer Person, versorgte ihre Kinder mit Essen, Liebe und tollen Ausflügen und beendete nebenbei ihre Ausbildung zur Psychotherapeutin. Und jetzt?

­Sophie packte ihren Laptop aus und setzte sich zum Schreibtisch. Ihren Traum aufzuschreiben, wozu sollte das gut sein? Sie wollte doch keine von diesen romantischen Tage­buch-Schreiberinnen werden, und für die ­ComUnity war es definitiv der falsche Zeitpunkt. ­Sophie galt ohnehin als Außenseiterin und wollte sich den Schulalltag nicht noch beschwerlicher machen. »Ich schreib’s einfach nur für mich auf und speichere es für die Nachwelt«, gab sie sich einen Ruck und musste dabei innerlich grinsen.

Sie öffnete ein neues Dokument, schrieb in fetten Lettern »Die Insel der Phie« und speicherte sofort ab. Der Anfang war gemacht. Damit schlüpfte sie in ihren Pyjama, legte sich aufs Bett und verschränkte ihre Arme hinter dem Kopf. »Auf die Decke würden auch noch gute Sprüche passen«, wanderten ihre Gedanken zurück zu ihrer Mutter, die ob ihrer Zimmergestaltung getobt hatte. Soviel Verständnis sie für ihre jugendlichen Klienten hatte, sosehr war sie von ­Sophies gesprayten Werken entsetzt gewesen. Wenn sie bei Jonas jetzt schon so in Fahrt war, würde sie wohl auch kontrollieren, ob ­Sophie wirklich noch etwas lernte. So raffte sie sich auf und wollte gerade ihre Schulsachen aus dem Rucksack packen, als sie es sich anders überlegte. Sie setzte sich an den Schreibtisch, schnappte sich ihren Laptop und begann zu schreiben.

Hi! Ich bin ­Sophie van Sand, wohne in einem Provinzkaff in den Alpen, und mir geht’s beschissen. Ich weiß nicht, warum sich unsere holländischen Vorfahren hierher verirrt haben: in ein Land, wo es nur erdrückend hohe Berge und engstirnig zubetonierte Täler gibt. Mein Vater liegt nach einem Autounfall seit drei Monaten im Koma. Jetzt ist er zwar körperlich voll da, wenn ich in brauche, aber dafür geistig noch abwesender als sonst. Meine Mum ist Psychologin und gibt alles, damit unsere Familie das durchsteht. Sie hätte wohl besser selbst eine Therapie gemacht und nicht ihr Psychodoktor-Studium. Ich bin 13 und seit dem Unfall so was wie das schwarze Schaf der Familie. Wortwörtlich, denn meine Seele trägt Trauer, und mein Styling ist tiefschwarz. Das bin ich, ein morbides Schäfchen, das lieber an eine grüne irische Küste möchte als in die Berge zu Heidi und dem Ziegenpeter.

­Sophie beugte sich über ihren Laptop, strich sich eine blauschwarze Strähne hinters Ohr und prüfte, was sie da verfasst hatte. »Ich komme vom Thema ab«, dachte sie. »Egal!« Zufrieden nickend, klickte sie auf das Speichersymbol und klappte den Computer zu. Wenn es einmal mit ihr vorbei sein sollte, dann würde die Nachwelt erfahren, wie alles angefangen hatte. Ein Tagebuch zu führen erschien ihr zwar sehr trivial, aber für die ­ComUnity war es noch zu früh. Es genügte ihr zu wissen, dass alles gespeichert sein würde, bis zu dem Tag, an dem es so weit war. »Was für ein dramatischer Anfang«, murmelte sie grinsend vor sich hin.

Es war spät geworden, und da sie nicht riskieren wollte, dass ihre Mutter an die Zimmertüre klopfte und in dieser verhassten, überverständnisvollen Tonlage – aus der bei genauem Hinhören die nackte Panik schrillte – fragte, ob sie noch etwas essen wolle, löschte ­Sophie das Licht und kuschelte sich in ihr Bett. Die weichen Kissen gaben nach, und sie streckte alle Gliedmaßen von sich. ­Sophie van Sand war bereit. Die Müdigkeit warf bereits erste Schleier über ihre Gedanken, die schon voller Vorfreude um jene Dimension tanzten, die sie nun betreten würde. Wenn es klappte.

2

Kapitel 2

Wie jedes Mal spürte sie sich in einen Nebel voller Farben tauchen. Die Schwaden, die sie umgaben, ließen sie frösteln und erfüllten ­Sophie mit einer unerklärlichen, aber angenehmen Leere. Verschwommenes Grau, Blau und Grün dominierten, keine Spur vom bunten Farbentaumel, den schon so viele Filmemacher beschworen hatten. Eine Zeit lang genoss sie das Gefühl des Hinüberschwebens, des sich Auflösens im Nirgendwo. Dann schien ein Ruck durch ihren Körper zu gehen, sie bekam die Kontrolle über Arme und Beine zurück, obwohl sie erahnte, dass nur ein Teil von ihr in dieses zweite Dasein hinüber geglitten war. Doch ­Sophie war noch nicht so weit, sie brauchte die Vorstellung ihres irdischen Körpers, um bestehen zu können.

Sie spürte das fasrige Holz des alten Bootes unter sich, und ihre Arme schoben wie selbstverständlich die Ruder vor und zurück. Ihr ganzer Körper arbeitete, und dennoch fühlte es sich leicht an, das Wasser bot zwar Widerstand, aber sie paddelte scheinbar mühelos Richtung Ufer. »Dafür wache ich morgen wieder mit einem Muskelkater auf«, dachte ­Sophie. Ob sich ihre Traumreisen auch auf die reale Welt auswirkten? Der Löwenfelsen bot einen vertrauten Anblick, und ­Sophie steuerte das Boot zielstrebig in die kleine Sandbucht. Sie zog es an den Strand, wollte ihren Blick wie gewohnt zum anderen, wolkenverhangenen Ufer wenden, da beschloss sie spontan, das heute Nacht nicht zu tun. Es war nur eine kleine Geste, eine minimale Abänderung des bisher Gewohnten, und doch hatte sie das Gefühl, etwas vollbracht zu haben. Sie hatte für einen kurzen Moment eingegriffen. Aber hatte sie das nicht schon immer getan? War es nicht ihre Entscheidung gewesen, welchen Pfaden sie im Inneren des Waldes folgte, welche Winkel und Ecken sie erkundete? ­Sophie war sich plötzlich nicht mehr sicher. Und da war sie wieder, diese Präsenz aus dem Nichts. Ihre Energie war deutlich spürbar, fast greifbar, und dennoch war ­Sophie allein. Sie schauderte, nahm aber allen Mut zusammen und begann das Gebüsch vor sich genauer zu untersuchen. Doch die einzige Ausbeute waren von den vielen Stacheln aufgekratzte Arme.

­Sophie beschloss, den Weg in den Wald zu nehmen. Irgendwas war heute anders, das spürte sie deutlich. Ihr Herz pochte vor Aufregung, als sie das dichte Unterholz hinter sich ließ und der Wald langsam lichter wurde. Ihre Sinne waren hellwach, sie spürte einen warmen Windhauch auf ihrem Gesicht und hörte Blätter rascheln. Ein Vogel zwitscherte im Gebüsch. Hatte sie all das bis jetzt auch so intensiv wahrgenommen? Hatte sie es überhaupt registriert? War der Wald bisher still gewesen, die Luft warm oder kalt? ­Sophie war verwirrt, konnte sie sich auf ihre Erinnerung verlassen? Alles, was sie bis jetzt bewusst wahrgenommen hatte, waren Bilder einer wunderschönen Waldlandschaft, einzig die Wärme der großen Steinbohne war ihr immer schon aufgefallen. Der Bach, schoss es ihr durch den Kopf, höre ich das Wasser rauschen oder nicht? Sie lief los und konnte es schon aus der Ferne vernehmen, das Plätschern eines kleinen Rinnsals, das sich durch Felsen und Farne seinen Weg bahnte. Fasziniert kniete sie nieder und hielt ihre Hand ins Wasser. Es war herrlich frisch und prickelte auf ihrer Haut, so wie sie es von den Almwanderungen kannte, die sie mit ihrer Familie oft unternommen hatte. Ihr Traum hatte eine ganz neue Intensität angenommen. »Yes«, dachte ­Sophie, »das ist es.« Als hätte sie schon immer auf diese Veränderung gewartet. Mit einem unbeschreiblichen Hochgefühl im Bauch machte sie sich auf zum Gipfel.

Der Felsen war noch warm, ­Sophie schmiegte ihre Wange an die zerfurchte Oberfläche, um die Energie des Steines zu fühlen. Ihre Hände betasteten jede Rille, jede Kante, und sie wunderte sich, wie rund und fast weich dieses harte Gestein sein konnte. Sie kletterte in ihre Kuhle und wartete gespannt, wann der Moment kommen würde, dass die Wolkendecke aufbrach. Diese Bergkette, die jede Nacht für einen kurzen Augenblick vom Mond erhellt wurde, schien mit jedem Mal eine größere Bedeutung für ­Sophie zu bekommen. Es war ein Gefühl der Sehnsucht und gleichzeitig des Geborgenseins, das sich in wohligen Schauern in ihrem Körper ausbreitete, wenn sie diesen bestimmten Gebirgszug sah. Sie wünschte sich so sehr, dass dieser helle Moment länger dauern würde, aber kaum hatte sie einen Blick auf ihr Ziel erhascht, schoben sich wieder Wolken vor die Mondscheibe. »Es ist immer Vollmond«, schoss ihr plötzlich in den Kopf, »es ist immer Vollmond, wenn ich hier sitze. Zum Glück bin ich kein Werwolf.« ­Sophie grinste in sich hinein. »Vielleicht sollte ich einfach mal losheulen? Ich hab mich in meinem Traum noch nie selbst gehört, immer nur meine innere Stimme …« Sie zögerte. Laut zu sein war so gar nicht ihre Art, weder in der Schule noch sonst unter fremden Menschen, höchstens einmal zu Hause, wenn sie vor Wut ihre Mutter oder ihren Bruder anschrie. Und das kam selten genug vor, meistens verkroch sie sich einfach in ihrem Zimmer und setzte sich die Kopfhörer auf. »Soll ich?« Und ehe sie sich versah, hatte sie einen lauten Schrei losgelassen, der quer über die Insel hallte. Sie erschrak über ihre eigene starke Stimme, genauso wie ein Schwarm Vögel, der von der nahen Baumgrenze aufflog.

Im selben Moment klarte der Himmel auf und der Mond kam zum Vorschein. ­Sophie wandte sich der Bergkette zu, die in diesem Augenblick in Gold und Silbertönen zu glänzen begann, wie sie noch nie geleuchtet hatte. Der Ausschnitt, der ­Sophie zu sehen gegönnt war, wurde immer größer, sie sah drei zackige Berggipfel, die eine mächtige Gletscherzunge in ihrer Mitte umrahmten. Die Überraschung verschlug ihr im ersten Moment den Atem, noch nie war sie von diesem Anblick so hingerissen gewesen. Zum ersten Mal begann sie zu verstehen, warum so viele Menschen nahezu gierig danach wurden, unbekannte Berggipfel zu besteigen. Doch das Mondlicht erleuchtete in dieser Nacht nicht nur die Felsformationen in der Ferne. Auch die Steinbohne, auf der es sich ­Sophie gemütlich gemacht hatte, wurde von einem Lichtkegel erfasst. Direkt über ihr hatte sich fast kitschig ein Wolkenloch aufgetan. Dunkelgraue und weiße Schwaden glitten auseinander und ließen den mächtigen Stein silbrig glimmern. Doch ­Sophie hatte nur Augen für die burgunderroten Schlieren, die den Fels durchzogen. »Farbe«, dachte sie, »endlich Farbe.«

3

Kapitel 3

Sophie! Aufstehen! Du musst raus, es ist schon spät!« ­Sophie hörte ihre Mutter rufen und an die Türe klopfen. So gerne hätte sie sich noch einmal umgedreht und einfach weitergeschlafen. Warum konnte heute nicht Sonntag sein?

»­Sophie! Bist du wach?«, setzte Mira nach.

»Ja, komme schon!«, maulte ­Sophie genervt zurück. Sie raffte sich auf, schlüpfte in die schlampig hingeworfenen Sachen von gestern, band ihre Haare zurück und unterzog sich einer hektischen Katzenwäsche. Der prüfende Blick in den Spiegel beim Hinausgehen versprach nichts Gutes, doch das war ihr egal. »Meine Prioritäten liegen woanders«, murmelte sie, als sie sich das Frühstücksbrot und ihren Rucksack schnappte.

»Brauchst du noch was?«, Mira sah kurz von ihrer Zeitung auf, ihr Blick war abwesend, sie hatte wohl wieder kaum geschlafen.

»Nein, alles okay. Ich muss los! Tschüss!«

»Tschüss, mein Schatz, mach’s gut!«

Ihre Mutter so erschöpft zu sehen versetzte ­Sophie einen Stich ins Herz, auch wenn sie sonst oft wütend darüber war, dass sie sich mit allem so verausgabte. Vom perfekten Frühstück für die Kinder in die Arbeit, stundenlang anderen beim Problemelösen helfen, Mittagessen kochen, zu Vater in die Klinik, mit Jonas lernen und so weiter. Zeit zum Durchschnaufen gab es praktisch nie. Wie gern erinnerte sich ­Sophie zurück, als sie ganze Sonntage gemeinsam im Pyjama verbracht und Zeit und Termine keine Rolle gespielt hatten. Das war vor Vaters Unfall gewesen.

»Geht’s dir nicht gut?« Ihre Frage kam zögerlich, doch ­Sophie hatte das Gefühl, ihrer Mutter irgendwie zeigen zu müssen, dass sie Anteil nahm, dass sie nicht alleine war in diesem ganzen Chaos.

Mira straffte sich sofort und rang sich ein Lächeln ab: »Hab nur schlecht geschlafen, meine Süße, es geht schon, danke!«

Warum glaubten Erwachsene immer, Kindern sei die volle und harte Wahrheit nicht zuzumuten? Noch dazu, wenn sie beim Versteckenspielen so grottenschlecht waren? »Dann eben nicht«, dachte ­Sophie und wandte sich zur Tür. »Wir gehen heute Nachmittag mit der Kunstgruppe ins Museum, ich komm erst am Abend.«

Der Besuch des Kunstmuseums erwies sich tatsächlich als Highlight des Tages. Den halben Vormittag hatten sie damit verbracht, Impressionismus und Expressionismus theoretisch zu begreifen. Frau Reyer und Frau Wolkenstein – die eine unterrichtete Kunst, die andere Geschichte – hatten sich zusammengetan, um einer Horde desinteressierter 13-Jähriger ein Nachmittagsprogramm schmackhaft zu machen, das sie freiwillig wohl kaum absolviert hätten. Die Lehrerinnen hatten sie gut vorbereitet, denn als es darum ging, Bilder beider Epochen auf eigene Faust zu finden und zuzuordnen, waren die meisten schneller wieder zurück, als es der Museumspädagogin lieb war. Das Mitprotokollieren des anschließenden Kurzvortrags stieß schon auf weniger Gegenliebe bei den Jugendlichen, die sich in Gruppen rund um die beiden zu analysierenden Bilder aufgestellt hatten.

Liv und ­Sophie standen ganz rechts hinten, möglichst weit aus dem Blickfeld ihrer Lehrerinnen. Diese folgten den Worten der jungen Kunststudentin, die ihnen die beiden Techniken gestenreich erklärte, fasziniert. »Als ob sie das noch nie gehört hätten«, kicherte Liv und deutete mit ihrem Kopf in Richtung der Erwachsenen, »dabei haben sie uns den ganzen Vormittag dasselbe erzählt!«

»Sie wollen eben Vorbilder in Sachen Aufmerksamkeit und Hingabe sein«, flüsterte ­Sophie hämisch zurück, »hoffentlich ist die bald fertig, das Einzige, was mich interessiert, ist das Malatelier.«

Der Höhepunkt des Projektes sollte nämlich das Malen selbst sein, wie die Studentin angekündigt hatte. Das Museum bot einen großen Saal, der an bestimmten Tagen in der Woche von jedem genutzt werden durfte, der sich unter Anleitung bekannter und weniger bekannter Künstler allen möglichen Themen und Techniken widmen wollte.

Doch die eifrige Studentin war noch lange nicht am Ende. ­Sophie lehnte sich an die Wand, und ihre Gedanken begannen zu wandern, zurück zu ihrer Traumwelt, zurück zu jenen aufregenden Eindrücken, die ihr die heutige Nacht beschert hatte. »Van Gogh ging es nicht um eine naturgetreue Wiedergabe der Wirklichkeit, er stellte die Realität in Frage und wollte die Dinge dahinter sichtbar machen.« Die Erklärungen der Pädagogin drangen nur mehr dumpf in ­Sophies Bewusstsein, doch ein Seitenblick auf Vincent van Goghs »Sternennacht«, dem wertvollsten Bild der Wanderausstellung, ließ Phie plötzlich hellwach werden. Die mächtigen dunklen Zypressen im Vordergrund, der Vollmond am Sternenhimmel, der einen Bergrücken silbern beleuchtete, scheinbar durchs Bild ziehende Luftströme, die genauso gut Wolkenschwaden darstellen konnten. Im Schatten der Zypressen ein Dorf, das mit dem angrenzenden Wald verschmolz, und alles in dunklen Farben gehalten: Schwarz und Dunkelblau dominierend, ein bisschen Grün und Burgunderrot, Mond und Sterne gelb und silbern schimmernd – die Ähnlichkeit mit ihrer Insel war erdrückend. »Seine Bilder sind voller Dynamik, voller Bewegung«, erzählte die Studentin weiter, »er wollte damit nicht die reale Natur, sondern das Gefühl, das er bei der Betrachtung seines Motivs verspürte, zum Ausdruck bringen.« Die Zypressen wurden für ­Sophie zum Löwenfelsen, Dorf und Bäume standen für ihren Wald, der Hügel und die Berge dahinter für ihren Lieblingsplatz, der vom Mondlicht erhellt wurde. Die »Sternennacht« weckte Gefühle in ihr, die sie auch im Traum verspürt hatte, tiefe Sehnsucht und zugleich Hoffnung und Wärme. »Ich werde meine Insel malen«, dachte sie, und endlich machte sich die Gruppe auf in Richtung Malatelier.

Die Lehrerinnen hatten nicht zu viel versprochen. Die Schüler betraten einen Saal, der als Ganzes, von jeder Wand und jedem Winkel aus, ein überbordendes Maß an Kreativität versprühte. Überall standen halbfertige Kunstwerke herum: Skulpturen aus allen möglichen Materialen, Kunststoff, Pappkarton, Naturfasern und Stein, Bilder in allen Größen, in den unterschiedlichsten Techniken und Farben. Von der Decke hingen fliegende Drachen, futuristische Raumschiffe und Blütengirlanden, Boden und Wände waren übersät mit Farbklecksen. Schicht um Schicht hatte sich in den vergangenen Monaten und Jahren übereinandergelegt und bildete nun eine Art eigenes Gesamtkunstwerk. In der Mitte des Saales waren auf großen Tapeziertischen unzählige Farbtöpfe sowie Pinsel und Spachteln hergerichtet, Staffeleien mit nackten Leinwänden standen in den verschiedensten Größen und Dimensionen bereit.

Liv und ­Sophie suchten sich einen Platz etwas abseits des Zentrums. Liv hatte eine riesige Leinwand ausgewählt, die mehr breit als hoch war und zwei Staffeleien brauchte, um in der Waage gehalten zu werden. Sie wollte den Raum nützen, um eine dramatische, expressionistische Komposition aufs Bild zu bringen, wie sie ihrer Freundin begeistert erklärt hatte. ­Sophies Leinwand wirkte dagegen fast mickrig, doch für ihr Vorhaben war sie gerade richtig. Mit Bleistift skizzierte sie zunächst die wichtigsten Landschaftsmerkmale: den Löwenfelsen, die Sandbucht daneben, den dichten Wald dahinter und in der Ferne den grasigen Gipfel mit dem bohnenförmigen Felsen. Der Mond sollte direkt darüber die Szenerie beleuchten, während der restliche Himmel von Wolkenschwaden verdeckt war. Kurz überlegte sie, die Gebirgskette mit der Gletscherzunge in ihrer Mitte in der Ferne anzudeuten, aber sie schreckte zurück. Es erschien ihr wie ein Sakrileg, diesen Teil ihres Traumes auf die Leinwand bannen zu wollen.

Während Liv schon mit dicken Pinseln und knalligen Farben abstrakte Formen fabrizierte, stand Phie vor den unzähligen Farbtöpfen und überlegte. Ihre Wahl war zwar schon klar, Schwarz, Grün, Blau und Rot für die Landschaft, Gelb und Weiß für das Mondlicht, doch einen Moment lang wurde sie von der großen Auswahl der Farben fast geblendet. Fasziniert bestaunte sie die kleinen Becher, studierte die unterschiedlichen Facetten jeder einzelnen Farbe, Olivgrün, Türkis, Aquamarin, Cyanblau. Durch das Nebeneinander der Töpfe ergaben sich in ihrem Kopf Mischungen, die sie wieder verwarf und durch neue ersetzte, immer und immer wieder. Sie erinnerte sich an früher, als sie gemeinsam mit ihrer Mutter jedes Jahr Anfang März die großen Fenster ihrer Wohnung mit Fingerfarben in bunte Blumenwiesen verwandelt hatten, um den Frühling willkommen zu heißen. Eine wunderschöne Erinnerung voller Geborgenheit und Wärme, die sie ein bisschen wehmütig stimmte. Gleichzeitig musste sie schmunzeln, als ihr einfiel, wie erstaunt sie gewesen war, als sie zum ersten Mal die Farbbezeichnungen in ihrem Malkasten lesen konnte: Kobaltblau, Zinnoberrot, Zitronengelb, Französisch Grün oder Ocker. Begriffe, die ihre Fantasie beflügelten: In ihrer Vorstellung füllten feengleiche Wesen sämtliche Farbkästen der Welt in Fließbandarbeit in irgendeinem Zauberberg ab. Beschwingt schnappte sie sich Farben und Pinsel und begann mit kurzen, schnellen Strichen, ganz nach Vincent van Gogh, ihre Insel auf die Leinwand zu bannen.

4

Kapitel 4

Als ­Sophie nach Hause kam, war Tina da. Sie spielte mit einem bleichen, aber sonst ganz munteren Jonas am Küchentisch Mensch-ärgere-dich-Nicht.

»Hallo, Phie, jetzt ist Mama krank und ich nicht mehr, und Tina bleibt so lange bei uns, bis Mama wieder fit ist!« Jonas hatte also auch seine Sprache wiedergefunden und legte mit vollem Elan los.

­Sophie seufzte und nickte Tina zu. »Hi! Geht’s ihr sehr schlecht?«

»Ja, sie hat den ganzen Nachmittag über der Klomuschel verbracht und ist dann fast nicht mehr hochgekommen. Jetzt schläft sie erst einmal. Wenn sie dasselbe hat wie Jonas, und das nehme ich mal stark an, dann ist sie bald wieder auf den Beinen.«

Tina war Miras beste Freundin und in den letzten Monaten immer wieder Retterin in der Not gewesen. Sie selbst hatte keine Kinder und arbeitete als selbständige Mode­designerin, die sich auf nachhaltige Fairtrade-Kleidung spezialisiert hatte. Ihr kleines Geschäft sperrte sie meist auf und zu, wie es ihr gerade passte, und Mum hatte sich oft darüber gewundert, wie sie sich so über Wasser halten konnte. Doch in Momenten wie diesen war Tinas Flexibilität Gold wert und auf jeden Fall unbezahlbar.

»Ich hab uns einen bunten Salat und Thunfischtoast gemacht, wenn du was essen willst, und ein bisschen Haferschleim wäre auch noch da.« Tina zwinkerte ihr verschmitzt zu.

»Salat und Toast gerne, aber auf den Haferschleim kann ich gut verzichten! Steckt mich ja nicht an!«, schimpfte ­Sophie spaßeshalber zurück. Sie genoss es sehr, wenn Tina sie besuchte. Mira schien dann für ein paar Stunden ihre Sorgen zu vergessen und amüsierte sich köstlich über Tinas verrückte Ideen. »Wenn das jemand schafft, dann du!«, pflegte sie zu sagen, egal wie ausgefallen Tinas Modelle auch waren.

­Sophie ließ sich vor dem Schlafengehen noch zu einer Partie Mensch-ärgere-dich-Nicht überreden, in der sie sich ihrem jüngeren Bruder haushoch geschlagen geben musste. Jonas warf die Figuren der anderen ohne Rücksicht auf Verluste aus dem Spiel und schummelte, wann und wo sich nur die kleinste Gelegenheit dazu ergab. Tina und ­Sophie hatten es aufgegeben, ständig auf der Hut zu sein, schließlich war Jonas ja noch »geschwächt« von seinem Magen-Darm-Infekt. Hundemüde fiel ­Sophie schließlich in ihr Bett, doch an Schlaf war gar nicht erst zu denken. Ihre Gedanken begannen zu kreisen, um ihre Mutter, Jonas, ihren Vater, die vielen Sorgen, die sich in den letzten Monaten wie eine graue Wolke über ihre Familie gelegt hatten. Was, wenn ihr Vater nie wieder gesund werden oder überhaupt nicht mehr aufwachen würde? Müssten sie dann umziehen und ihre große, helle Wohnung verkaufen? ­Sophie wusste, dass sie in einer noblen und teuren Wohngegend lebten und dass der Kredit dafür noch lange nicht abbezahlt war. Würde ihr ein Umzug etwas ausmachen? Brauchte sie diesen Luxus gar nicht, oder wusste sie ihn nur nicht zu schätzen, weil er ja Alltag war? ­Sophie beschloss, noch einmal aufzustehen und sich ein Glas Milch mit Honig zu holen. Ein altbewährtes Mittel gegen Kummer und Sorgen, vor allem, wenn da draußen eine verständnisvolle Tina wartete. Diese hatte es sich auf dem Sofa gemütlich gemacht und schaute sofort vom Fernseher auf, als ­Sophie ins Wohnzimmer kam.

»Kannst du nicht einschlafen, meine Süße?«

»Nein, ich bring diese blöden Gedanken nicht aus dem Kopf.«

»Das Ganze nimmt dich doch wohl mehr mit, als du dir anmerken lässt! Komm, kuschle dich zu mir, es läuft gerade meine Lieblingsserie. Die ist zwar nicht ganz jugendfrei, aber man kann herrlich darüber lachen. Ich mach dir noch eine warme Honigmilch!«

So verbrachten sie einen gemütlichen und kichernden Frauenabend vor dem Fernseher. Kurz vor Mitternacht wankte ­Sophie mit dunklen Ringen unter den Augen ins Bett und fiel in einen tiefen, leider traumlosen Schlaf.

Der nächste Morgen hatte es in sich. Jonas war schon seit sechs Uhr wach und hielt Tina auf Trab. Er war eigentlich viel zu fit, um zu Hause zu bleiben, doch an einen Schulbesuch war so kurz nach dem Virusinfekt nicht zu denken. Mira schlief noch immer oder besser gesagt wieder, nachdem sie zu allem Überfluss auch noch hohes Fieber und starke Kopfschmerzen bekommen hatte.

»Wenn es ihr bis heute Nachmittag nicht besser geht, werde ich Dr. Berner fragen, ob sie am Abend vorbeikommen kann.« Wenigstens das Netzwerk der Freundinnen funktionierte, Dr. Sybille Berner gehörte zu Tinas und Miras Clique seit ­Sophies Kindertagen. Sie war praktische Ärztin mit einer stets zum Bersten vollen Praxis, doch für Notfälle wie diesen nahm sie sich immer Zeit. »Ich kann heute Vormittag noch bei euch bleiben, aber dann muss ich kurz in die Ordination. Du hast nachmittags keine Schule, also musst du heute ran. Ich koch euch noch was zu Mittag, dann kümmerst du dich um Jonas und Mira. Abends bin ich wieder da, in Ordnung?« ­Sophie lächelte gequält und nickte, es blieb ihr nichts anderes übrig.

Auf einen ereignislosen Vormittag – Prof. Motta hatte die Mathematik-Schularbeiten noch nicht korrigiert – folgte ein gar nicht so übler Nachmittag. Tina hatte Kartoffelpüree mit Fleischbällchen für sie zubereitet und für Jonas einen Film ausgeliehen, damit er ­Sophie nicht die ganze Zeit nerven würde, wie sie grinsend angemerkt hatte. Die große Schwester fand den Film aber schließlich genauso lustig wie ihr Bruder, und so konnten sie seit langem wieder einmal gemeinsam herzlich lachen. Das schweißte zusammen! Im Anschluss durchstöberten sie die große Lade mit den Gesellschaftsspielen und lieferten sich ein Duell nach dem anderen. Zwischendurch brachte ­Sophie ihrer Mutter Tee und Zwieback, doch Mira konnte kaum einen Bissen hinunterbringen und schlief den ganzen Nachmittag über. Auch als Tina und Sybille am Abend vorbeischauten, ging es ihr noch nicht besser. Als sie sich in ihrem Zimmer an die Hausaufgaben machte, hörte ­Sophie die beiden Frauen im Flur miteinander sprechen: »Ich habe ihr eine stärkende Infusion und Vitamin C gegeben, das sollte sie ein bisschen aufpäppeln, aber sie braucht noch sehr viel Ruhe.«

»Sie ist einfach am Limit und fängt sich im Moment jeden Infekt ein.«

»Ja, ihr Körper signalisiert unmissverständlich, dass sie kürzertreten muss, aber sie will es noch nicht wahrhaben.«

»Kannst du mit ihr, wenn sie wieder fit ist, ein ernstes Wort reden, so von Ärztin zu Patientin? Auf mich hört sie einfach nicht.«

»Das werde ich. Wir müssen uns gemeinsam überlegen, wie wir helfen können, diese Angst macht sie sonst noch verrückt.«

»Danke, Bille, wir hören uns!«

»Nichts zu danken, halt mich auf dem Laufenden!«

­Sophie füllte ihren Übungszettel für Englisch aus und machte sich dann bettfertig, da sie beschlossen hatte, vor dem Schlafengehen in einem Buch, das sie für ein Referat im Deutsch-Unterricht brauchte, weiterzulesen. Lesen entspannt und hilft beim Einschlafen, hatte Mum stets gepredigt, wenn sie lieber noch länger ferngesehen hätte. Das wollte sie heute ausnutzen, um ihre Insel besuchen zu können, denn jede traumlose Nacht war eine vergeudete Nacht.