Irrlicht 74 – Der Tempel der Nacht

Irrlicht –74–

Der Tempel der Nacht

Cynthia Morrison wird von seltsamen Träumen überwältigt

Roman von Anne Alexander

»Thorl Fletcher hat die Macht«, hatte ihre Mutter gesagt. Cynthia glaubte, daß es ihm gelungen war, auch ihren Willen zu manipulieren, daß er die Schuld daran trug, daß sie Peter belogen hatte. Ich darf mich von ihm nicht beherrschen lassen, dachte sie. Ich muß alles tun, um mich seinem Einfluß zu entziehen, wenn ich wieder mit ihm zusammen bin. Die junge Frau blickte aus dem Fenster zum Tempel hinauf. Es würde schwer sein, und sie wußte nicht, ob sie die innere Kraft haben würde, gegen seinen Willen anzukämpfen. Zum erstenmal überlegte sie, ob die Aufgabe, die sie sich gestellt hatte, nicht zu groß für sie war. Thorl Fletcher war anders als andere Menschen; er hatte etwas Übernatürliches, alles Beherrschendes an sich. In seiner Gegenwart vergaß man sich selbst…

Noch eine halbe Stunde und sie würden in London landen. Cynthia Morrison konnte es kaum noch erwarten, ihre Heimat wiederzusehen. Vor zwölf Jahren hatte sie England verlassen, um bei ihren Verwandten in der Schweiz zu leben. Ihr Onkel und ihre Tante hatten niemals ihrem Wunsch nachgegeben, sie auch nur die Ferien in England verbringen zu lassen. Sie waren der Meinung gewesen, es würde sie nur belasten. Aber Cynthias Sehnsucht nach England war nie versiegt. Sie hatte sich fest vorgenommen, nach dem Abitur in die Heimat zurückzukehren.

»Ich kann es kaum noch erwarten, meine Familie wiederzusehen«, sagte die Frau, die neben ihr saß. Sie sprach von ihrem Mann und ihren Kindern.

»Das kann ich sehr gut verstehen«, erwiderte Cynthia und dachte an ihre Eltern, die bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren. Sie war damals erst acht Jahre alt gewesen, trotzdem konnte sie sich noch gut an den Tag erinnern, an dem es geschehen war.

»Es geht doch nichts über unser gutes altes London«, meinte ihre Sitznachbarin.

Cynthia blickte aus dem Fenster. Die Wolken unterhalb des Flugzeugs verschwanden. Sie hörte ein seltsame Musik. In einiger Entfernung tauchte im Blau des Himmels ein langgestrecktes Haus auf, das wie eine Pagode wirkte. Ins einer Nähe stand ein Turm. Eine lange, von Drachenköpfen bewachte Treppe führte zum Eingang des Hauses. Das Tor sprang auf. Ein gelb gekleideter Priester trat auf die Treppe heraus. Er blickte einer Prozession entgegen, die wie aus dem Nichts auftauchte.

Cynthia sah Kinder in roten und gelben Gewändern. Sie trugen Blumen im Haar und spielten auf Instrumenten, die wie Flöten wirkten. Hinter ihnen wurde langsam und feierlich eine offene Sänfte getragen, auf der völlig bewegungslos ein reich geschmücktes Mädchen saß. Dunk­le Haare wellten sich auf seinen schmalen Schultern, seine Hände ruhten im Schoß, hielten einen goldenen Apfel. Das Gesicht des Mädchens war geschminkt, die Augen mit Kohle umrandet. Auf seinen Haaren saß ein mit Edel­steinen besetzter Reifen.

Die ›Kleine Göttin‹, dachte Cynthia und wunderte sich im selben Moment, woher sie das wußte.

Obwohl es nicht das erstemal war, daß sie in ihren Visionen dieses Mädchens sah, war ihr noch nie so klar bewußt geworden, um wen es sich dabei handelte. Sie streckte die Hand nach dem Kind aus. Ihre Finger berührten das Fenster.

»Was haben Sie?« fragte ihre Sitznachbarin plötzlich.

Cynthia zuckte zusammen. Die Vision löste sich auf. Sie sah wieder die Wolken, über die sie flogen. »Es ist nichts«, erwiderte sie, aber sie spürte in sich eine entsetzliche Angst aufsteigen.

Die Frau fuhr fort, ihr von ihrer Familie zu erzählen, von dem Hund und dem Haus und auch von dem Kind, das ihre Schwester erwartete. Cynthia hörte nur mit halbem Ohr zu. Mit den Gedanken war sie bei dem kleinen Mädchen. Sie fragte sich, warum sie es immer wieder sah. Es mußte etwas bedeutet haben. Sie fühlte sich diesem Kind verbunden wie keinem anderen Menschen.

Die junge Frau lehnte sich zurück und schloß die Augen. Schon als Kind hatte sie hin und wieder Visionen gehabt. Es war für sie etwas völlig Normales gewesen, denn auch ihre Mutter hatte mit Visionen leben müssen. Sie hatte zwar nie mit ihr darüber gesprochen, was sie in ihren Visionen gesehen hatte, doch sie hatten ihr ganzes Leben beherrscht.

»Wir müssen uns anschnallen«, sagte ihre Sitznachbarin.

»Danke.« Cynthia griff nach dem Gurt. Sie war so tief in Gedanken, daß sie es kaum mitbekam, wie die Maschine Minuten später auf der Rollbahn aufsetzte. Einige der Passagiere klatschten.

»Willkommen in London.« Die Augen ihrer Sitznachbarin strahlten. »Hätte ich nur schon die Paß- und Zollformalitäten hinter mir«, erklärte sie. »Das dauert immer eine Ewigkeit.«

Es ging schneller, als sie erwartet hatte. Cynthia wurde gleich nach ihr abgefertigt. Die junge Frau schob den Gepäckwagen zum Ausgang. Sie wollte sich ein Taxi nehmen. Mr. Hastings, ihr Anwalt, hatte ihr den Schlüssel zu ihrem Elternhaus geschickt. Er hatte auch dafür sorgen wollen, daß es vor ihrer Ankunft gründlich geputzt wurde.

»Miß Morrison, kommen Sie bitte zum Informationsschalter! Miß Morrison, kommen Sie bitte zum Informationsschalter.«

Überrascht blickte Cynthia auf. Sie hatte nicht damit gerechnet, daß man sie abholen würde. Eilig schob sie den Gepäckwagen weiter.

Ein hochgewachsener dunkelblonder Mann kam ihr entgegen. »Miß Morrison?« fragte er und blickte sie unsicher an.

Cynthia nickte. »Ja, ich bin Cynthia Morrison«, erwiderte sie und fühlte, daß sie den jungen Mann kannte, aber sie wußte nicht, woher.

Er lachte. »Ich müßte lügen, würde ich jetzt behaupten, Sie hätten sich nicht verändert«, meinte er. »Als ich Sie das letztemal gesehen habe, hatten Sie noch ganz reizende Zahnlücken.«

»Nun, das ist lange vorbei.« Sie schenkte ihm ein reizendes Lächeln. »Es tut mir leid, aber ich kann mich beim besten Willen nicht erinnern, wer Sie sind. Sie müssen damals auch noch ein Kind gewesen sein.«

»Vierzehn war ich«, gestand er. »Unsere Eltern waren miteinander befreundet.«

Plötzlich fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. »Peter?« fragte sie ungläubig.

»Derselbe.« Lachend nickte er. »Schön, daß Sie sich noch an meinen Namen erinnern. Ist es nicht verrückt, daß wir uns siezen? Wir sollten wie früher du zueinander sagen.«

»Einverstanden.« Sie reichte ihm die Hand. »Woher weißt du, daß ich nach London zurückkehre?«

»Von Mister Hastings. Er war auch der Anwalt meines Vaters. Wir telefonierten gestern miteinander, und da erwähnte er es.«

Sie zuckte erschrocken zusammen. »War?«

Peter White nickte. »Mein Vater kam vor einigen Jahren bei einem mehr als merkwürdigen Unfall ums Leben«, erklärte er. »Er stürzte von einer Brücke. Kurz darauf starb dann auch noch meine Mutter.« Der junge Mann atmete tief durch. »Es heißt, mein Vater hätte Selbstmord begangen, aber er hatte keinen Grund, sich das Leben zu nehmen. Ich weiß, daß er an einer ziemlich heißen Sache gearbeitet hat. Er erwähnte mehrmals, daß bald die Bombe platzen würde, aber jedesmal, wenn ich ihn fragte, um was es sich handelte, meinte er, ich würde es noch rechtzeitig genug erfahren.«

»Du denkst an Mord?«

»Ja, ich glaube, mein Vater ist ermordet worden«, Peter schüttelte den Kopf. »Lassen wir das für heute«, schlug er vor. »Es ist wunderbar, daß du wieder in England bist, Cynthia.« Er griff nach ihrem Gepäckboy. »Jetzt werde ich dich erst einmal nach Hause bringen.« Entschlossen rollte er den Wagen zum Ausgang des Flughafens.

Während der Fahrt nach London unterhielten sie sich über alle möglichen Dinge. Peter erzählte ihr, daß er jetzt ebenfalls bei der Zeitung arbeitete, bei der auch ihr Vater und sein Vater gearbeitet hatten. »Unsere Familie liegt der Journalismus im Blut. Mein Großvater gehörte auch zu jenen Männern, die ununterbrochen durch die Welt reisten, um irgendwelchen Geheimnissen auf die Spur zu kommen.«

»Ich kann mich dunkel an deinen Großvater erinnern«, erwiderte Cynthia. »Er hat mir oft Geschichten aus Afrika erzählt. Ich wußte damals nie, ob sie der Wahrheit entsprachen oder von ihm erfunden worden waren.«

»Teils, teils«, Peter lachte. »Großvater hatte eine blühende Phantasie.«

Cynthia blickte aus dem Wagenfenster. Sie hatten London erreicht. Ihr kam es vor, als würde ihr die ganze Stadt ein Willkommen zurufen. Selten war sie so glücklich gewesen wie in diesen Minuten. Endlich war sie wieder zu Hause, endlich dort, wo sie hingehörte.

»So, da wären wir«, meinte Peter White, als er vor einem schmalen Haus hielt, das eingezwängt zwischen zwei anderen stand. »Mister Hastings hat zwar dafür gesorgt, daß du nicht verhungern wirst, aber ich würde dich dennoch gerne zum Abendessen einladen.« Er blickte ihr in die Augen. »Bitte, sag jag. Ich verspreche dir auch, dich nicht zu langweilen.«

»Auch ohne dieses Versprechen hätte ich ja gesagt«, erklärte die junge Frau, stieg aus und ging durch den kleinen Vorgarten zur Haustür. Ihre Finger zitterten, als sie nach dem Schlüssel griff.

»Möchtest du, daß ich noch etwas bleibe?« fragte Peter, nachdem er ihr Gepäck ins Haus gebracht hatte.

Cynthia schüttelte den Kopf. »Nein, ich muß etwas alleine sein«, erwiderte sie. »Bitte, sei mir nicht böse.«

»Dazu habe ich keinen Grund.« Er nahm ihre Hand. »Ich freue mich auf heute abend. Ich werde dich um sieben abholen. Einverstanden?«

»Einverstanden.« Sie nickte.

Nachdem Peter White gegangen war, griff Cynthia nach einem der Koffer und wandte sich der Treppe zu. Tief in Gedanken stieg sie die schmalen Stufen hinauf.

Aus einem Zimmer im ersten Stock kam helles, vergnügtes Lachen. Die junge Frau zuckte erschrocken zusammen. »Mummy«, flüsterte sie fassungslos und umklammerte das Geländer. Das Lachen verwandelte sich in das Klappern von Gebetmühlen. Klar und deutlich hörte Cynthia ihre Mutter sagen. »Hilf ihr.«

Sie erwachte wie aus Trance. Bis auf das Ticken der Standuhr vernahm sie nur noch ihren eigenen Atem. Dennoch war sich Cynthia ganz sicher, daß ihre Mutter sie gebeten hatte, jemandem zu helfen. Aber wem sollte sie helfen?

Du spinnst, sagte sie sich. Hier ist niemand, und deine Mutter ist tot, seit vielen Jahren tot.

Die junge Frau strich sich verwirrt über die Stirn. Langsam stieg sie auch noch den Rest der Treppe hinauf. Dann setzte sie den Koffer ab, holte tief Luft und betrat das ehemalige Schlafzimmer ihrer Eltern. Wie sie es erwartet hatte, war es leer.

*

Peter White war pünktlich. Cynthia hatte sich gerade fertig angezogen, als es an der Haustür klingelte. Leichtfüßig eilte sie die Stufen hinunter und öffnete ihm. »Nach dir könnte man auch die Uhr stellen«, meinte sie, als sie ihm die Hand reichte.

»Pünktlichkeit ist das A und O im Leben eines Journalisten.« Der junge Mann sah sie bewundern an. »Wie du deiner Mutter gleichst«, meinte er. »Vorhin auf dem Flughafen ist mir das gar nicht so bewußt geworden.« Wie absichtslos berührte er ihre schulterlangen blonden Haare. »Auch die blauen Augen hast du von ihr geerbt.«

»Aber den Willen von meinem Vater«, erklärte die junge Frau lachend. Sie verzog das Gesicht. »Meine Verwandten nannten mich dickköpfig.«

Er nickte. »Ich kann mir durchaus vorstellen, daß du ihnen das Leben nicht leicht gemacht hast. Vermutlich wolltest du immer mit dem Kopf durch die Wand.«

»Selbst wenn sie aus Stahlbeton war«, bestätigte die junge Frau. »Warte bitte einen Augenblick, ich hole nur meine Handtasche.«

Cynthia eilte ins Wohnzimmer. Sie freute sich auf diesen Abend mit Peter. Ein schöneres Willkommen hätte es für sie in London nicht geben können. Sie fühlte, daß da mehr war als die Erinnerung an früher, doch sie wollte es noch nicht wahrhaben, daß sie sich Hals über Kopf in ihren ehemaligen Kinderfreund verliebt hatte.

Die jungen Leute fuhren zu einem kleinen Restaurant nahe des Regent’s Park. Cynthia erinnerte sich, daß sie hier auch früher hin und wieder mit ihren Eltern gegessen hatte.