Der neue Landdoktor 6 – Keine Angst vorm bösen Wolf

Der neue Landdoktor –6–

Keine Angst vorm bösen Wolf

Roman von Tessa Hofreiter

»Mama! Mama! Hilfe! Ein Wolf, ein Wolf!« Laut schreiend und ohne rechts und links zu blicken, rannte der kleine Hubert Leutner durch den Ort. Die Angst stand ihm ins Gesicht geschrieben, und er achtete nicht auf die überraschten Reaktionen der Leute um ihn herum. Er wollte nur so schnell wie möglich hinüber zur Poststelle, in der seine Mutter arbeitete. »Ein Wolf! Ein Wolf!« Der kleine Junge wurde von vier anderen Kindern begleitet, die ebenso laut und aufgeregt waren wie er. Mit einem spürbaren Rums rannte Hubert in eine ahnungslose Passantin hinein, die eben aus dem Lebensmittelgeschäft gekommen war.

»Hoppla!«, rief sie überrascht. »Wer ist dir denn auf den Fersen?«

»Ein Wolf!«, schrie Hubert und wollte an der jungen Frau vorbei flitzen, aber sie legte ihm die Hände auf die Schultern und hielt ihn sanft zurück.

»Ein Wolf? Wo hast du den denn gesehen?«, fragte sie nach.

»Na, im Wald!« Der Kleine fuchtelte mit den Händen durch die Luft und wies aufgeregt in die Richtung, aus der er gekommen war. Was Erwachsene aber auch für dumme Fragen stellen konnten!

Die Fremde schaute ihn eindringlich an. »Im Wald also. Und wie hat der Wolf ausgesehen?«

»Groß! Und grau!«, antwortete der Junge.

»Braun und ein bisschen schwarz!«, ergänzte einer seiner Freunde.

»Der war riesig, und er hat geknurrt!«, fügte eine Kleine mit Sommersprossen hinzu.

»Ja, und den Hubi gebissen hat er!«, übertönte sie eine andere. »Fast!«

»Moment mal!« Der Tonfall der jungen Frau wurde sehr ernst. »Bist du wirklich von einem Tier gebissen worden?«

»Ja, haben Sie denn das nicht verstanden? Das hat die Marei doch grad‘ eben gesagt!«, mischte sich eine ältere Frau aufgeregt ein. »Von einem Wolf! Jesses, das uns das hier passieren kann!«

»Nun beruhige dich erstmal, Afra!« Angelockt vom Tumult vor ihrem Eingang, erschien jetzt Fanny, die junge Ladenbesitzerin, auf der Straße. »Eins nach dem anderen! Wo wolltest du denn gerade so schnell hin, Hubert? Zum Doktor rüber?«

»Nein, ich wollt zur Mama!«, antwortete der Junge. Jetzt klang er nicht mehr ganz so aufgeregt, eher in bisschen kläglich.

»Das kannst du auch gleich, mein Kleiner«, antwortete die Frau, die er gerammt hatte, freundlich. »Nur interessiert mich die Sache mit dem Wolf sehr, darüber möchte ich mehr wissen. Könnt ihr mir die Stelle im Wald zeigen, wo ihr dem Tier begegnet seid? Das ist jetzt sehr wichtig.«

»Am wichtigsten ist doch wohl, dass das Kind zu seiner Mutter kommt und dann zum Doktor!«, ereiferte sich die ältere Frau. »Komm, Hubi, du gehst jetzt mit der Afra, und wir beide sagen der Mama Bescheid! Du musst ganz schnell zum Doktor Seefeld rüber!« Energisch griff sie nach der Hand des Jungen und zog ihn mit sich in Richtung Poststelle.

Die anderen Kinder wollten ihnen folgen, aber plötzlich stand wie aus dem Boden gewachsen ein Mann vor ihnen und fragte mit ruhiger, respekteinflößender Stimme: »Was ist das hier für ein Aufstand? Ich war eben beim Holzer drüben im Sägewerk und hab euch bis hinten im Holzlager krakeelen gehört. Was ist denn nur los?«

Vier aufgeregte Kinderstimmen riefen durcheinander, aber der Mann hörte den Kernsatz sehr schnell heraus. »Einen Wolf habt ihr gesehen?«, fragte er erstaunt.

Ein vierfaches, lautes Ja antwortete.

»Gab es hier denn vorher schon Wolfsichtungen? Ich hatte davon gelesen, dass in der Nähe von Oberstdorf ein junger Wolf gesehen worden ist«, erkundigte sich die Frau, welche den Zusammenstoß mit Hubert gehabt hatte.

Der Mann musterte sie abschätzend. Ihre Aussprache verriet, dass sie keine Einheimische war. Typische Touristin, dachte er, stammt irgendwo aus dem Norden. Und gibt sich wissend! Ohne weiter auf die Frage einzugehen, wandte er sich dem kleinen Mädchen mit den Sommersprossen zu. »Marei, kannst du dich genau an die Stelle im Wald erinnern, wo der Wolf aufgetaucht ist? Du verstehst schon, dass der Förster sich da ein wenig umgucken muss, gell? Wenn wir hier in unseren Wäldern einen Wolf haben, dann sollte ich Bescheid wissen.«

Marei nickte, dass ihre braunen Locken nur so um ihr Gesicht flogen. »Klar, Lorenz! Wir zeigen es dir!« Sie und die drei anderen Kinder wollten schon davon stürmen, doch der Mann hielt sie zurück.

»Halt, halt, so schnell geht es nicht. Zuerst muss ich eure Eltern fragen, ob ihr mit mir in den Wald gehen dürft, und dann will ich die Hunde holen!« Er schaute auf seine Armbanduhr. »Wer von euch mitgehen darf, der trifft sich in einer halben Stunde genau hier vor Fannys Geschäft mit mir, also um vier Uhr. Alles klar?«

»Alles klar, Lorenz!«, riefen die Kinder und flitzten in unterschiedliche Richtungen auseinander.

»Ich werde Sie begleiten!«, sagte die Fremde nicht unfreundlich, aber mit einer ruhigen Selbstverständlichkeit, die Lorenz ärgerte.

»Tatsächlich?« Er musterte die junge Frau mit einem unübersehbaren Anflug von Spott. »Und welchen Grund sollte ich haben, Sie mit in den Wald zu nehmen?«

»Weil ich etwas von Wölfen verstehe!«, antwortete sie kühl. »Also, bis dahin! Komm, Skipper.« Sie rief ihren Hund, der bisher zitternd vor Anspannung, aber tadellos erzogen auf seinem Platz vor dem Lebensmittelgeschäft gewartet hatte. Begeistert schoss ein abenteuerlich gemusterter Mischling auf die junge Frau zu und ging ohne Leine bei Fuß, als sie mit langen, anmutigen Schritten die Hauptstraße Bergmoosbachs überquerte.

»Zumindest von Hundeerziehung scheint sie etwas zu verstehen!«, musste Lorenz zugeben.

Fanny lachte. »Sieht wohl so aus. Vielleicht kannst du sie bei der Fährtensuche gut gebrauchen, wonach immer ihr auch Ausschau haltet.«

»Du meinst nicht, dass es wirklich ein Wolf gewesen ist?«, erkundigte sich der Mann.

»Kann schon sein, kann aber auch nicht sein«, antwortete Fanny. »Du weißt, wie Kinder sind. Ich glaube ihnen absolut, dass sie ein Tier gesehen und sich sehr erschreckt haben! Aber ob es wirklich ein Wolf war? Und ob der Hubi tatsächlich oder nur fast oder vielleicht gar nicht gebissen wurde, ist auch nicht klar. Warten wir mal den Nachmittag ab. Pfiat di, Lorenz, und Waidmanns Heil!«

»Waidmanns Dank!«, antwortete Lorenz und machte sich auf den Weg, um seine Vorbereitungen zu treffen.

*

Zur verabredeten Zeit kam von den Kindern nur Hubert, und der befand sich in Begleitung seines streng dreinblickenden Vaters. Der kleine Junge war sichtlich aufgeregt und ebenso offensichtlich erleichtert, von zwei so gestandenen Mannsbildern wie dem Papa und dem Förster Lorenz Breitner begleitet zu werden!

»Lorenz, hast du auch dein Gewehr dabei?«, erkundigte sich Hubi vorsorglich.

»Liegt gesichert und gut verstaut im Auto«, antwortete der Mann und wies auf seinen Geländewagen, der am Straßenrand parkte. Hinter den Fensterscheiben konnte man die äußerst erwartungsvollen Gesichter seiner beiden Hunde sehen.

»Knall das Biest ab, Lorenz!«, forderte der besorgte Vater. Gregor Leutner war Polizist in Bergmoosbach und dafür bekannt, dass er kurzen Prozess machte.

»Sie wissen schon, dass Wölfe unter Naturschutz stehen?«, erklang eine empörte weibliche Stimme neben ihm. Die fremde Frau mit ihrem Hund stand plötzlich bei der kleinen Gruppe und musterte Gregor Leutner mit einem eisigen Blick.

»Ha, Naturschutz!«, grollte der Mann. »Das erzählen Sie mal dem Bauern, wenn er zu seinem gerissenen Vieh auf die Weide kommt!«

»Und der weiß dann sofort, dass es ein Wolf gewesen ist?«, konterte die Frau streitbar.

»Ach! Wahrscheinlich war’s dann einer der wilden Hunde, die es hier ja zu Hunderten gibt!«, antwortete der Mann höhnisch.

»Genau! Die konkurrieren natürlich mit den Hunderten von Wölfen, die hier die Gegend unsicher machen!«, erwiderte die Frau.

Lorenz musterte sie aus zusammengekniffenen Augen. Wider Willen musste er zugeben, dass ihm diese Frau imponierte. Es gefiel ihm, wie leidenschaftlich und schlagfertig sie mit dem Thema umging. Und ganz abgesehen vom Reizthema Wolf gefiel ihm auch das, was er sah: ein hübsches, ausdrucksvolles Gesicht mit dunkelblauen Augen, halblanges blondes Haar, eine sportliche Figur. Wenn er sich recht erinnerte, hatte sie vorhin noch ein Sommerkleid angehabt, irgendetwas weich Fließendes in Türkis? Jetzt trug sie Wanderstiefel, Jeans, ein kariertes Baumwollhemd in gedeckten Farben und hatte einen dunkelgrünen Rucksack geschultert. Offensichtlich weiß sie, wie man sich im Wald anziehen sollte, wenn man auf Fährtensuche geht, dachte er anerkennend.

Dann dachte er weiter: und mal abgesehen von der Zweckmäßigkeit ihrer Kleidung, sieht sie auch noch verdammt gut darin aus.

Und dieser Gedanke überraschte ihn bei allem, was ihm gerade durch den Kopf schwirrte, am meisten.

*

Das Waldstück, in dem die Kinder gespielt hatten, lag dicht am Ortsrand. Hubert führte die Erwachsenen vom Weg ab über einen Trampelpfad ins Unterholz, wo die Anfänge einer Hütte aus Zweigen und Ästen zu sehen waren, an der die Freunde gebaut hatten.

Der Förster ließ sich genau die Stelle zeigen, an der die Kinder das Tier gesehen hatten. »Was hat es getan? Ist es stehengeblieben und hat euch beobachtet? Oder ist es weiter auf euch zugekommen?«, fragte Lorenz.

»Es hat geguckt und immer den Kopf bewegt. Wir haben geschrien und dann sind wir weggerannt!«, berichtete Hubi. Er hielt die Hand seines Papas fest umklammert.

»Weißt du, ob er euch gefolgt ist?«, erkundigte sich die Frau, die sich inzwischen als Friederike Wagenfurth vorgestellt hatte.

»Nee! Wir haben nicht geguckt, sondern sind nur gewetzt!«, stellte der Junge klar.

»Also, Förster, was hast du jetzt vor?«, fragte Gregor Leutner gebieterisch.

»Ich werde im großen Umkreis nach Spuren suchen und sehen, was sich daraus ergibt. Du bringst deinen Bub jetzt am besten nach Hause, Gregor. Danke für deine Hilfe, Hubi. Sag deinen Freunden, dass es besser ist, wenn ihr in den nächsten Tagen nicht alleine im Wald seid. Auch ein wildernder Hund könnte euch gefährlich werden, wenn er sich durch euch aufgestört fühlt.«

»Dann red‘ nicht nur, tu was!«, forderte der andere Mann. Mit seinem Sohn an der Hand und einem finsteren Blick hinüber zu dem Förster und seiner Begleitung, machte er sich auf den Heimweg.

Skipper schaute sein Frauchen mit schief gelegtem Kopf an und gab einen fragenden Laut von sich. »Der bellt nur, aber beißt nicht. Du brauchst mich vor ihm nicht zu beschützen, aber danke der Nachfrage, Skipper«, sagte Friederike zu ihrem Hund.

Lorenz lachte auf. »Reden Sie immer so mit ihm?«

Die Frau zuckte die Achseln. »Manchmal«, antwortete sie beiläufig. Dann wies sie tiefer in den Wald. »Wollen wir?«

Der Förster, sie und die Hunde begannen, das Gebiet systematisch nach irgendwelchen Spuren abzusuchen, die auf einen Wolf oder einen wildernden Hund schließen ließen, aber sie fanden nichts. Friederike und der Mann sprachen wenig miteinander, beobachteten sich aber aus dem Augenwinkel.

An der Art, wie die Frau sich bewegte und worauf sie achtete, erkannte Lorenz, dass sie sich im Wald auskannte. Sie schien nicht der gesprächige Typ zu sein. Außer ihrem Namen und dass sie angeblich etwas von Wölfen verstand, wusste er nichts von ihr und er dachte nicht daran, sie nach mehr Informationen zu fragen.

Friederike ihrerseits hielt ihn für eine seltsame Mischung aus schweigsamen Naturburschen und einfühlsamen Beobachter, der gut mit Menschen umgehen konnte. Ihr hatte gefallen, wie er mit den Kindern gesprochen, aber auch, wie er den fordernden Vater in seine Schranken gewiesen hatte. Wollte der doch tatsächlich, dass der Wolf abgeschossen wurde! Allein bei dem Gedanken kochte neuer Ärger in Friederike hoch.

Nach einer zweistündigen, intensiven Suche gaben sie auf und fuhren nach Bergmoosbach zurück. Es hatten sich keine Anzeichen für einen Wolf oder wildernden Hund finden lassen, aber das sagte noch längst nicht, dass er sich nicht doch irgendwo in den Wäldern versteckte.

»Wie gehen Sie jetzt weiter vor?«, fragte Friederike.

»Augen und Ohren offenhalten, mit Kollegen in anderen Gebieten sprechen, das Gerede im Ort möglichst klein halten. Es gibt keinen Grund zur Panik«, antwortete der Mann. »Wir werden eine Gemeindeversammlung einberufen, damit wir über vernünftige Verhaltensregeln sprechen können. In Bergmoosbach brodelt bestimmt schon die Gerüchteküche.«

»Ja. Vor allem, nachdem der Hubi von einem Wolf gebissen wurde! Fast!«, zitierte sie die kleine Marei.

Lorenz schmunzelte und rieb sich die angestrengten Augen. »Wo kann ich Sie absetzen? Haben Sie Ihr Quartier in Bergmoosbach oder außerhalb“

»Danke, es reicht, wenn Sie mich wieder beim Marktplatz absetzen«, antwortete Friederike. Dann lächelte sie zum ersten Mal. »Und danke dafür, dass Sie mich mitgenommen haben!«

Lorenz bemerkte, dass sich beim Lächeln in ihrem linken Mundwinkel ein winziges Grübchen bildete. Hübsch, dachte er.

Friederike griff nach Rucksack und Skippers Leine und stieg aus. Ehe sie die Wagentür schloss, meinte sie: »Ihre Jagdhündin zeigt beim Gehen eine leichte Unregelmäßigkeit im rechten Hinterlauf. Sie sollten Ihren Tierarzt darauf ansprechen.« Dann nickte sie ihm kurz zu und war auch schon in der nächsten Querstraße verschwunden.

Lorenz schaute seine schöne, braun-weiße Jagdhündin verblüfft an. »Was ist das denn, Tess? Du sollst Schwierigkeiten mit einem Hinterlauf haben, und ich habe das nicht bemerkt? Die Gute sieht wohl Gespenster!«, brummte er. Dann sah er die Kioskbesitzerin Afra aufgeregt winkend auf der anderen Straßenseite auf sich zukommen, aber er winkte nur kurz zurück und fuhr weiter. Auf dramatische Schilderungen dessen, was geschehen war oder geschehen könnte, hatte er jetzt wirklich keine Lust!

Wie es der Förster vorausgesagt hatte, war »der Wolf“ wirklich überall zum Thema geworden. Auch im Doktorhaus, wo die Familie Seefeld abends zusammensaß, wurde über die Entdeckung gesprochen.

»Echt? Und da ist Hubis Mutter wirklich mit dem Kleinen in der Praxis aufgetaucht?«, fragte Emilia ungläubig. »Ist er denn tatsächlich gebissen worden? Ich denk‘, da war gar nichts, das hat jedenfalls die Fanny gesagt.«

»Dazu kann ich nichts sagen, du weißt ja, ärztliche Schweigepflicht!«, erinnerte sie ihr Vater. Dann seufzte Doktor Sebastian Seefeld. »Aber es gibt jede Menge besorgter Anrufe und Nachfragen wegen Tetanusimpfungen und Tollwut. Viele Leute gucken jetzt in ihre Impfpässe und merken, dass ihr Schutz abgelaufen ist. Das wird ein volles Wartezimmer geben in den nächsten Tagen.«

»Versteh‘ ich gar nicht, dass die hier so einen Wirbel um einen Wolf machen«, meinte seine Tochter. Ihre grauen Augen leuchteten auf. »Als wir noch in Kanada waren, haben wir dort mit den Wölfen gelebt, da hat sich kein Mensch drüber aufgeregt.«

»Dort gehören sie in der kanadischen Weite und Wildnis dazu, hier waren sie ausgerottet«, gab ihr Großvater Benedikt zu bedenken. »Die Menschen hier müssen sich erst wieder an sie gewöhnen, vergiss das nicht.«

Emilia kräuselte ungeduldig die Nase. »Wölfe sind doch cool!«

»Übermorgen wird es eine Gemeindeversammlung zu dem Thema geben. Lorenz Breitner hat mir schon Bescheid gesagt. Ich werde mit dabei sein und auch etwas zum Thema Impfschutz und Versorgen möglicher Bisswunden sagen«, fuhr Sebastian fort.

»Wir gehen alle hin«, verkündete Traudel, die gute Seele des Hauses. »Das wird bestimmt ein sehr interessanter Abend!«

*