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Herzl reloaded. Doron Rabinovici, Autor und Historiker, in Tel Aviv geboren, in Wien lebend, und Natan Sznaider, in Deutschland geboren, in Tel Aviv Soziologie lehrend, erhalten E-Mails von niemand geringerem als Theodor Herzl, dem Begründer des Zionismus. Herzl, Rabinovici und Sznaider treten in einen Trialog über Judentum, über israelische Gegenwart und jüdische Diaspora. Erörtert wird, was aus der Vision von »Altneuland« geworden ist. Was hat uns Herzl heute noch zu sagen? Was etwa zum Konflikt mit den Palästinensern? Wie viel verbindet sein Werk Der Judenstaat mit dem heutigen Israel? Wo ist er hin der Traum vom Wiener Kaffeehaus im Orient, von einer europäischen Moderne im biblischen Zion, von einem Europa im Nahen Osten. Rabinovici und Sznaider, die gemeinsam 2004 den Band Neuer Antisemitismus? Eine globale Debatte im Suhrkamp Verlag herausgaben, stellen sich Herzl. Sie stellen Herzl auf die Probe. Gibt es so etwas wie eine jüdische Gesellschaft? Wie verbinden sich in Israel Tradition und Start up-Moderne? Welche Bedeutung hat die Erinnerung an die Shoah?

In Auseinandersetzung mit Theodor Herzl suchen zwei Zeitgenossen nach Antworten aus der Vergangenheit und der Gegenwart für die Zukunft.

 

 

Doron Rabinovic, 1961 in Tel Aviv geboren, in Wien aufgewachsen, ist Schriftsteller und Historiker. Sein Werk umfasst Kurzgeschichten, Romane und wissenschaftliche Beiträge. In Österreich hat er immer wieder prominent Position gegen Rassismus und Antisemitismus bezogen. Sein Werk wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Jean Améry-Preis für Essayistik (2003) und mit dem Anton Wildgans-Preis (2011). Zuletzt erschien von ihm 2010 der Roman Andernorts im Suhrkamp Verlag.

 

Natan Sznaider, 1954 in Deutschland als Kind aus Polen stammender staatenloser Überlebender der Shoah geboren, ging mit 20 Jahren nach Israel und studierte an der Universität von Tel Aviv Soziologie, Psychologie und Geschichte. Er lehrt heute als Professor für Soziologie an der Akademischen Hochschule in Tel Aviv. Im Suhrkamp Verlag erschien 2007 von ihm, zusammen mit Daniel Levy: Erinnerungen im globalen Zeitalter: Der Holocaust

 

 

 

 

 

Doron Rabinovici | Natan Sznaider

Herzl
Relo@ded

Kein Märchen

Jüdischer Verlag
im Suhrkamp Verlag

 

 

 

 

 

eBook Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag 2016

© Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag Berlin 2016

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe 2016

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

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Satz: Satz-Offizin Hümmer GmbH, Waldbüttelbrunn

Umschlagfoto: Sabina Brandes

Umschlaggestaltung: Ute Fahlenbock

 

eISBN 978-3-633-74279-0

www.suhrkamp.de

 

 

 

»Es ist kein Märchen, ihr wolltet es nicht anders«


In Erinnerung an Ulrich Beck

Von: teddyherzl@altneuland.com

Betreff: Herzl reloaded

Datum: 13. ‌12. ‌14 11:33

An: doron.rabinovici@liter.at

Sehr geehrter Herr Dr. Rabinovici!

 

Einst war Jerusalem tot, jetzt war es auferstanden. Jerusalem war ein gewaltiger Körper geworden und atmete Leben. Die Altstadt zwischen den ehrwürdigen Mauern hatte sich, soviel man von diesem Aussichtspunkt bemerken konnte, am wenigsten verändert. Die Grabeskirche, die Omarmoschee und die anderen Kuppeln und Dächer von einst. Nur war manches Herrliche dazu entstanden. Eine große Ruhe lag über der Altstadt.

Aber anders war das Bild außen ringsum. Da waren moderne Stadtteile entstanden, von elektrischen Bahnlinien durchzogen breite, baumbesetzte Straßen, ein Häuserdickicht, nur von grünen Anlagen unterbrochen, Boulevards und Parks, Lehrinstitute, Kaufhallen, Prunkgebäude und Belustigungsorte. Es war eine Weltstadt nach den Begriffen des zwanzigsten Jahrhunderts.

Doch immer wieder kehrten die Blicke zur alten Stadt im Mittelpunkte des Bildes zurück. Jenseits des Kidrontales lag sie im Nachmittagssonnenglanze, und es war etwas Festliches in diesem Anblick. Das ist der Tempel! Weiß und goldig, auf marmornen Säulen ruhte sein Dach, ja, es war ordentlich ein Wald von Säulen mit goldenen Knäufen, die man sah. Er war wieder aufgerichtet worden, weil die Zeiten sich erfüllten. Er war wie einst aus Kalkquadern aufgebaut, die aus den nahen Steinbrüchen kamen und an der Luft zu härtestem Gestein sich festigten. Wieder standen die Säulen, aus Erz gegossen, vor dem Heiligtum Israels. Im Vorhofe stand ein gewaltiger erzener Altar, und auch der weite Wasserbehälter war da, den man das eherne Meer nannte, wie in den alten Zeiten, da Salomo, der König, regierte.

Es war ein Freitagabend. Die Zahl der fahrenden Wagen verminderte sich auffallend, und überall wurden die Läden geschlossen. Der Sabbath senkte sich langsam und feierlich auf die vorhin laute Stadt. Und in Scharen strömten die Andächtigen den Synagogen zu.

Was jetzt innerhalb der uralten Mauern von Jerusalem lag, das war nicht mehr die Unreinlichkeit, der Lärm, der üble Geruch wie vor zwanzig Jahren. Damals mußten sich die Pilger aller Konfessionen innerlich verletzt fühlen, wenn sie oft nach langer Fahrt an dieses Ziel ihrer Sehnsucht kamen, so widerwärtig war mancher Anblick, der sich in verwahrlosten Straßen bot. Und bevor ein frommer Wanderer zum Heiligsten seines Glaubens gelangte, mußte er durch Unerfreuliches, Weiheloses hindurch. Anders war es jetzt. Die Gassen und Gäßchen waren mit neuen Steinen gepflastert, wohlgepflegt, glatt und sauber wie der Estrich einer guten Stube.

Aber es gibt leider noch genug Jammer auf der Erde, und nur die gemeinschaftliche Anstrengung aller kann erleichternd wirken. Im Friedenspalaste finden sich solche universelle Bestrebungen zusammen. Wenn zum Beispiel irgendwo in der Welt eine Katastrophe hereinbricht – Brände, Überschwemmungen, Hungersnot, Epidemien –, so wird es hierher telegraphiert. Hier ist immer ein Hilfsreservoir in großen Barmitteln vorhanden, weil ebenso wie die Bittgesuche auch die Spenden sich hier zentralisieren. Ein ständiger großer Rat, dessen Mitglieder von den verschiedenen Nationen gewählt werden, wacht über die gerechte Verteilung und Ausgleichung der Gaben. Hierher wenden sich aber auch Erfinder, Künstler, Gelehrte um Unterstützung ihrer Arbeiten. Es lockt sie der Spruch, der über dem Tore des Friedenspalastes leuchtet: »Nil humani a me alienum puto«. (Nichts Menschliches ist mir fremd). Und es wird ihnen, wenn sie würdig sind, nach Möglichkeit geholfen …

 

Mit vorzüglicher Hochachtung

Ihr Theodor Herzl

Von: doron.rabinovici@liter.at

Betreff: Herzl reloaded

Datum: 13. ‌12. ‌14 12:25
An: natan.sznaider@subt.il

Hey Natan,

 

du wirst nicht glauben, was für eine Meschuggas mir vor einer Stunde passiert ist: Ich erhielt eine E-Mail von einem gewissen Theodor Herzl. Nein, nicht etwa von irgendeinem Namensvetter. Er klingt ganz wie der Alte mit Prophetenbart. Seine Sprache, sein Duktus, seine Vision. Das ist kein Streich von irgendeinem Clown. Ich würde Dir nicht davon erzählen, käme nicht jedes Wort so daher, als hätte es der Patriarch von Zion selbst geschrieben.

Nu, was sagst Du dazu?

Zugegeben: Was er schreibt, tönt ein wenig schräg, ja, wuschelig, doch das ist bei ihm nichts wirklich Neues, oder? Das wurde originell genannt. Herzl wohnte ja einst in der Berggasse, nur einen Steinwurf vom alten Freudsigmund entfernt. Sie lüfteten die Hüte, wenn sie einander sahen. Freud nahm in seinem Traumbuch auch auf Herzls Stück Das neue Ghetto Bezug. Ich frage mich manchmal, wie die ganze Geschichte verlaufen wäre, wenn Herzl eines Morgens Freud aufgesucht und gesagt hätte: »Herr Doktor, Herr Doktor, ich habe einen Traum?«

 

Lass von Dir hören,

Doron

Von: natan.sznaider@subt.il

Betreff: Herzl reloaded

Datum: 13. ‌12. ‌14 12:25
An: doron.rabinovici@liter.at

Hallo Doron,

 

aber das ist doch wunderbar. Warum tust Du so etepetete? Ich finde das spannend. Was schreibt er denn? Was hält er von all dem, was hier geschieht? Und zwar in seinem Namen! Der Arme …

Du meinst, er klingt schräg und wunderlich? Wie nennst Du ihn: wuschelig? Nebbich! Verrückter als das, was seine Nachfolger hier aufführen, kann er gar nicht sein. Niemand im gegenwärtigen Israel hat seine Statur und sein Auftreten. Welcher Politiker ist heute noch so ein Sir?

Im Übrigen ist er derzeit wieder sehr en vogue. Alle – ob links oder rechts – reden darüber, ob sie ihm gerecht werden oder seine Ideen im Grunde verraten. Sogar die Postzionisten berufen sich auf ihn.

Du musst gleich antworten. Und vergiss nicht, mir zu berichten, was er so von sich gibt.

 

N

Von: doron.rabinovici@liter.at

Betreff: Herzl reloaded

Datum: 13. ‌12. ‌14 20:53
An: teddyherzl@altneuland.com

Cc: natan.sznaider@subt.il

Sehr geehrter Herr Doktor Herzl,

 

ich bin überrascht, nach so langer Zeit von Ihnen zu hören; nehmen Sie es mir nicht krumm, doch ich war davon überzeugt, Sie seien längst tot. Seit mindestens hundert Jahren!

Nicht nur, weil so viel Zeit verging und nichts mehr von Ihnen erschien, wobei alles, was von Ihnen erschien, heute kaum mehr gelesen wird und wie aus einer Welt von Vorvorgestern klingt. Ich will auch nicht davon beginnen, wie Sie zum Heiligen einer Bewegung erstarrt sind. Sie setzten immerzu alles daran, der Moses der neuen Zeit zu werden. Der war ja auch so ein Glückskind wie Sie gewesen. Er ging beim Pharao ein und aus. Er gehörte zur noblen Schicht, vergaß deshalb jedoch seine Herkunft nicht. Wie Moses setzten Sie sich für die Unterdrückten Ihres Volkes ein.

Nu, Sie wollten so sein wie er, und Ihr Wunsch ist Ihnen so was von in Erfüllung gegangen ‌… Sie sind eine Urgestalt, eine mythische Figur, von deren wirklicher Existenz die meisten jüdischen Menschen nichts wissen wollen.

Moses, von dem wir nicht einmal historisch gesichert annehmen dürfen, dass er denn je lebte, ist indes durchaus lebendiger als Sie, denn immerhin wird die Geschichte des Exodus allen jüdischen Kindern zu Pessach erzählt. Zudem sprach er Hebräisch. Stiege er heute aus einem Bus in Tel Aviv, könnte er etwa um ein Stück Brot oder ein Glas Wasser bitten. Sie, Herr Doktor, nicht. Sie beherrschen kein Hebräisch. Sie wären im Israel der Gegenwart hoffnungslos verloren.

Vielleicht ist das eines der größten Wunderwerke des Zionismus: die Wiedererweckung der Sprache, die bloß eine religiöse gewesen war, die Umformung toter Buchstaben zu einem modernen Kommunikationsmittel und zum Fundament einer Kultur mit eigener Literatur. Die Wörter der Heiligen Schrift werden nun dazu verwendet, von Popsongs, von Apps oder von Kondomen zu reden. In Modernhebräisch wird über die Emanzipation gestritten, wird telefoniert, wird gerappt und leidenschaftlich gestöhnt.

Aber womöglich ist es auch genau umgekehrt: Was geschieht eigentlich mit Menschen des 21. Jahrhunderts, wenn sie auf biblische Laute und Begriffe zurückgreifen? Anders gefragt: Ist Hebräisch modern geworden oder wird die israelische Gesellschaft allmählich ein wenig altertümlich? Sie mögen einwenden, diese atavistische Regression sei nicht unbedingt eine israelische Besonderheit. Dieser Rückfall in Zeiten, die so alt daherkommen, wie sie noch nie waren, begegnet einem in Texas, wo die christlichen Fundamentalisten uns den Himmel auf Erden bereiten wollen, und zwar auf Teufel komm raus, in Ungarn, wo das Magyarentum zur Hatz gegen Roma aufruft, in Russland und der Türkei, wo im Namen untergegangener Reiche neue Unterdrückung auflebt. Von den Dschihadisten, die derzeit im Namen des Islam den Terror zum Programm machen, ganz zu schweigen. Aber es ist genau Ihr Schreiben, das mich stutzig macht und die spezifisch israelischen Entwicklungen überdenken lässt.

Ich verstehe gar nicht, weshalb gerade Sie solchen rückständigen Phantasien nachhängen. Sie waren doch nie ein religiöser Jude, und schon gar nicht ein Vorläufer jener kleinen extremistischen Minderheit, die seit Jahrzehnten tatsächlich die Errichtung des dritten Tempels an Stelle des Felsendoms und der Al-Aqsa-Moschee plant. Ein Wahn, der nichts als eine unglaubliche Provokation für einundeinhalb Milliarden Muslime auf der ganzen Welt bedeuten würde. Eine Kriegserklärung. Sie, Herzl, hatten mit dem ganzen Firlefanz bisher nichts zu tun. Ihnen bedeutete die fundamentalistische Romantik nie viel. Wieso schwärmen Sie in diesem Email vom Tempel in Jerusalem? Was soll denn das? Ich weiß ja nicht, in welchem Roman Sie da gerade stecken, aber Sie sollten ihn lieber schnell zuklappen und in die Bücherei zurückbringen. Was Sie da schildern, hat mit dem modernen Jerusalem weniger zu tun, als Stammvater Moses mit Dana International.

Jerusalem ist, meinen Sie, nicht mehr das stinkende, stickige, laute Straßengewirr von früher. Sie sehnten sich nach einem Zion, das nichts mit dem Orient zu tun hat. Sie träumten, das jüdische Wien – ganz ohne den Antisemitismus des Karl Lueger und des Ritter von Schönerer – in einen Nahen Osten zu verlegen, der europäischer sein sollte als Europa. Sie schwärmen von baumbesetzten Prachtalleen, von der modernen Urbanität, von einer elektrischen Straßenbahn. Wünschen Sie sich ein Wiener Kaffeehaus vis-à-vis des Tempelbergs und einen Heurigen bei der Grabeskirche? Sie erzählen, was für eine Oase des Friedens, der spirituellen Harmonie, der Selbstlosigkeit Jerusalem geworden ist. Die Nationen der Welt würden zu dieser Stadt aufschauen, wenn Hilfe gefragt sei.

Wovon reden Sie denn bloß? Es ist nicht Häme, wenn ich Ihnen sage, kaum irgendetwas von dem, was Sie schildern, trifft auf das moderne Jerusalem zu. Ja, doch, es gibt eine elektrische Straßenbahn, da sind auch große Straßen. Die Stadt zeigt uns immer wieder ihre wunderschönen Seiten. Sie mag nicht gerade das Wien Ihrer Jahrhundertwende sein, aber das ist es nicht, was irgendwem dort fehlt. So schön und bunt die Märkte Jerusalems auch sind, so still und beschaulich manche Viertel wirken, die Stadt selbst ist kein Ort der Ruhe und des Gleichklangs geworden, sondern ein Brennpunkt von Hass und Gewalt. Im Grunde genommen ist sie zum Sinnbild einer religiösen Krise verkommen. Zum Schauplatz der Divergenz. Zum Tatort des Terrors. Sie ist kein Raum gemeinsamen Glaubens, sondern der Platz gegensätzlichen Eiferns.

Eben in diesen Tagen, in den letzten Wochen des Jahres 2014, werden in Jerusalem Anschläge verübt, werden Unschuldige ermordet und in der Knesset wird ein Gesetz diskutiert, das aus dem Judenstaat, der Ihnen vorschwebte, einen jüdischen Staat, was immer das genau sein soll, machen will. Ich dachte immer, Sie seien es nicht gewesen, der einen jüdischen Staat begründen wollte. Sie nicht! Ihnen, so schien mir, ging es nur um einen Staat für die Juden, um einen Fluchtpunkt für jene, die unter »Judennot«, unter Antisemitismus und Pogromen litten. Um ein »Nachtasyl« in finsterer Zeit. Für mich waren Sie ein Liberaler, der zur Kenntnis nehmen musste, dass seine Hoffnung auf Emanzipation und auf Assimilation sich nicht bewahrheitet hatte – und sich niemals bewahrheiten würde, weshalb Sie den Nationalstaat als letzten Ausweg empfanden.

Ich war davon überzeugt, Sie wollten jene Fehler vermeiden, unter denen Juden und Jüdinnen in der Diaspora zu leiden hatten. Mitten in einer Diskussion, ob Israel der demokratische Staat aller seiner Bürger sein sollte oder nur die Nation einer ethnischen Gruppe, unter der sich alle Übrigen zu fügen hatten, springt mich jedoch ihr Schreiben an. Während ernstlich überlegt wird, Arabisch nicht mehr als zweite Amtssprache anzusehen, lese ich Ihre Zeilen.

Sie müssen wissen: Ich bin in Israel geboren und lebe in Wien. Immer, wenn in Österreich darüber gestritten wurde, ob die Ortsschilder in Kärnten zweisprachig, deutsch und slowenisch, sein sollten, verwies ich nicht ohne eine gewisse Genugtuung auf das umkämpfte Land, aus dem ich stamme und in dem Straßen und Städte auf Hebräisch, Arabisch und Englisch gekennzeichnet waren.

Das Israel, in dem ich zur Welt kam, war ein kleiner Flecken ohne besetzte Gebiete. Meine Eltern waren nicht eingewandert, um hier den Tempel aufzurichten oder Nichtjuden zu unterdrücken. Im Gegenteil; mein Vater, David Rabinovici, erreichte Palästina nicht unbedingt als Zionist, sondern vor allem als ein Minderjähriger, der dem nazistischen Europa entkommen war. Er lebte als Jude in Bukarest. Zwangsarbeit. Die Angst vor der Deportation. Nach Bombardierungen musste er Leichen aus den Häusern holen. Als ihm ein Ticket nach Palästina angeboten wurde, griff er gleich zu. Einer von achthundert Passagieren, 500 Erwachsenen und 300 Kindern und Jugendlichen. Im Hafen drei kleine türkische Handelsschiffe. Er war für den Dampfer Mefküre gelistet, bereits eingeschifft, da sah Vater am Kai eine alte Frau, die er vom Dorf her kannte. Es war die Witwe Wohlgemuth. Sie raufte sich die Haare, sie weinte. Vier rumänische Soldaten, so klagte sie, hätten ihre ganze Habe, vier Koffer, gestohlen. Wie sollte sie, die Jüdin, es wagen, wieder vom Schiff zu gehen, vorbei an deutschen Wehrmachtssoldaten, um rumänische Uniformierte zu beschuldigen, sie ausgeplündert zu haben. Mein Vater ging vom Schiff, zunächst zum Polizeirevier, dann mit ihr zum Militärkommando, das weiter entfernt lag, voller Angst, die Mefküre könne ohne ihn abfahren. Ein jüdischer Halbwüchsiger und eine alte Jüdin traten vor einen Offizier, um die Armee eines Diebstahls zu bezichtigen. Es ist erstaunlich: Der Verantwortliche ließ die ganze Truppe antreten, ließ die Baracken durchsuchen, bis die Sachen der Witwe Wohlgemuth gefunden waren. In letzter Minute erreichten sie wieder den Hafen und die alte Frau bat Vater auf ihr Schiff, auf die Bulbul, zu wechseln. Die Mefküre, auf der Vater bereits gewesen war, wurde am nächsten Tag torpediert. Von den vielen Menschen an Bord konnten sich nur acht retten. Vater, der bis heute nicht schwimmen kann und ertrunken wäre, überlebte auf der Bulbul und erreichte die Türkei, von wo er nach Palästina gelangte. Vom Tempel und dessen Wiedererrichtung träumte er nicht. Er baute Straßen, Häuser. Er arbeitete in einer Fabrik. Er organisierte einen Streik. Er trat für die Gleichberechtigung zwischen Juden und Arabern ein. Er glaubte nicht an Gott, sondern an ein Israel der Demokratie und der Menschenrechte.

Meine Mutter, Schoschana Rabinovici, damals noch Susi Weksler, schaffte es Anfang der Fünfziger nach Tel Aviv. Mit ihrer Mutter war sie der Vernichtung entronnen. Die ersten Jahre nach der Befreiung verbrachten sie in einem Polen, in dem Juden immer noch verfolgt und zuweilen ermordet wurden. In ihrem Buch Dank meiner Mutter schildert Schoschana Rabinovici die Vernichtung ihrer Familie und ihr wundersames Überleben. Sie tritt derzeit im Wiener Burgtheater auf und nimmt an der Vorstellung Die letzten Zeugen teil – ein Projekt, für das Matthias Hartmann und ich verantwortlich zeichnen. Nein, es war nicht der Tempel, den meine Eltern anstrebten, sondern nur ein Leben jenseits vom Massenmord.

Ja, es gibt die Kräfte, die auf die Wiedererrichtung des Tempels setzen. Eine radikale Gruppe, die im Grunde die Gesetze der Halacha verletzt, denn nichts anderes hatte der damalige aschkenasische Oberrabbiner Isser Yehuda Unterman 1967 verkündet, als die Altstadt nach dem Sechstagekrieg eingenommen worden war: Kein Jude, so das rabbinische Urteil, dürfe die Stätte betreten. Der sephardische Rabbiner Ovadia Yosef fügte hinzu, selbst das Überfliegen des Berges sei verboten. Es herrschte Einigkeit unter den Geistlichen: Nur Gott durfte den Dritten Tempel neuerlich erstehen lassen. Alle waren froh darüber, da so zumindest einer der Konflikte mit den Muslimen Palästinas ausgeräumt schien.

Aber Besatzung und Siedlungsbewegung veränderten den Charakter der Debatte. Nicht mehr der Staat für die Juden, sondern jüdisches Land wurde zum eigentlichen Ziel. Der Zionismus hatte die Umformung der religiösen Gemeinschaft in eine normale Nation angestrebt. Sie erinnern sich doch noch an Ihre eigenen Ideen? Nun geht es um Siedlungen, die, wie eine Diaspora aus Stützpunkten, um heiliges Terrain kämpfen und dafür teils gar Souveränität und Rechtsstaatlichkeit opfern. Die jüdischen Exklaven sind von einem unterworfenen Volk umgeben. Die Mehrheit hier ist nicht jüdisch. Die Bevölkerung lebt nicht unter dem gleichen Gesetz. Der Staat der Juden wird preisgegeben, um jüdischen Boden zu gewinnen.

Mit der Errichtung des Tempels würde die säkulare Bewegung, die Sie einst gründeten, endgültig zu einem religiös fundamentalistischen Messianismus verkommen. Mehr noch: Das rabbinische Judentum, wie wir es kennen, würde abgelöst werden von einem national-mystischen Kult. Die einzelnen Synagogen in zahllosen Städten wären dann nicht mehr die Knoten im vielfältigen Netzwerk eines Glaubens. Die ganze Religion würde von einer Schaltstelle beherrscht.

Ich frage mich plötzlich, ob es vielleicht eine ironische List von Ihnen war, mir Ihre Zeilen zuzusenden. Sollte es eine paradoxe Intervention gewesen sein? Wollen Sie mich provozieren? Immerhin weiß ich längst, woher der Text stammt. Ich erinnere mich. Es ist ein Auszug aus Ihrem Roman Altneuland, mit dem Sie mich heimsuchen.

Wenn es Ihnen letztlich darum ging, mich damit zu überraschen und nachdenklich zu stimmen, dann ist Ihnen das recht gut gelungen.

Ich bin mir nicht sicher, ob Sie damals nicht ahnten, welches Risiko Sie eingingen, als Sie vom Wiederaufbau des Tempels erzählten? Sie müssen doch gefühlt haben, welche Geister sie da riefen ‌… Oder war die Religion Ihnen gar nicht einmal so fremd? Gehörte sie zu Ihnen – wie der blinde Fleck im Auge des Sehenden?

Aber viel wichtiger noch ist für mich, was Sie von all dem halten, das Sie einst erdachten. Erinnern Sie sich denn nicht? Sie hofften auf einen Judenstaat, um den Antisemitismus endlich überwinden zu können. Ist dieser Antisemitismus denn wirklich bezwungen? Kann nicht eher behauptet werden, es gäbe einen Antisemitismus nicht trotz, sondern sogar wegen und gegen Israel?

Sie werden einwenden – und zu Recht –, ich wüsste nicht, wovon ich rede. Ich hätte nicht erlebt, was es bedeutet, ein Außenseiter zu sein, ein immerzu Anderer, ein ewiger Jude. Im Wien Ihrer Zeit war die Hetze gegen die Juden ein politischer Konsens. In östlicheren Ländern war das Pogrom allgegenwärtig. Das offene Ressentiment gehörte zum guten Ton. Wer den Radaurassisten ablehnte, begnügte sich zumindest mit einem Kulturdünkel gegen jene Fremdartigen, ob mit oder ohne Pejes und Kaftan. Wer hingegen den Israeliten nicht verabscheute, verachtete zumindest den Assimilanten. Wozu Ihnen das vortragen, der Sie das alles damals beschrieben?

Fraglos: Bevor Israel existierte, litten Juden unter einem Exil, das vor allem ein soziales und ein politisches war, auch in Zion. Sie waren diskriminiert, ob in Wien oder Jerusalem. Während jedoch einst Europa das unsicherste Gebiet für Juden war, ein Kontinent des Judenhasses, weswegen der Zionismus in den Orient auswich, ist heute der Nahe Osten das Zentrum der Feindschaft gegen Juden.

Nein, die Staaten der Welt schauen nicht voller Bewunderung nach Jerusalem. Ganz im Gegenteil. Leider.

Ich hoffe, Sie lieber Herzl, nehmen mir nicht übel, wenn ich den Soziologen Natan Sznaider, Professor in Tel Aviv, in cc setze. Es ist ja nichts Intimes, was wir uns schreiben. Er ist ein Freund, der das, wovon wir nur theoretisch reden, alltäglich lebt. Ich halte so eine israelische Sicht für wichtig. Sonst wird unser Austausch zum bloßen Wiener Kaffeehausgerede.

 

LG

Doron Rabinovici

Von: teddyherzl@altneuland.com

Betreff: Herzl reloaded

Datum: 14. ‌12. ‌14 10:03
An: doron.rabinovici@liter.at

Cc: natan.sznaider@subt.il

Sehr geehrte Herren!

 

Ich bin 1860 in Budapest geboren, nahe der Synagoge, in der mich der Rabbi jüngst mit den strengsten Worten anklagte, weil ich – wirklich und wahrhaftig – weil ich für die Juden mehr Ehre und Freiheit, als sie gegenwärtig genießen, zu erlangen versuche. Aber an der Vordertür des Hauses in der Tabakgasse, wo ich das Licht der Welt erblickte, wird nach 20 Jahren ein Zettel mit der Anzeige »Zu vermieten« zu lesen sein.

Ich kann nicht leugnen, daß ich in die Schule ging. Erst wurde ich in eine jüdische Vorschule geschickt, wo ich ein gewisses Ansehen genoß, weil mein Vater ein wohlhabender Kaufmann war. Meine früheste Erinnerung an diese Schule besteht in Prügeln, welche ich erhielt, weil ich die Einzelheiten des Auszugs der Juden aus Ägypten nicht wußte. Gegenwärtig möchten mich viele Schulmeister prügeln, weil ich mich zuviel an jenen Auszug aus Ägypten erinnere. Im Alter von zehn Jahren kam ich auf die Realschule, wo man im Gegensatz zu dem Gymnasium, welches das Schwergewicht auf die alten klassischen Sprachen legt, mehr das moderne Wissen betont. Lesseps war damals der Held des Tages, und ich faßte den Plan, den anderen Isthmus, den von Panama, zu durchstechen. Bald aber verlor ich meine bisherige Vorliebe für Logarithmen und Trigonometrie, weil damals eine ausgesprochene antisemitische Richtung auf der Realschule herrschte. Einer unserer Lehrer erklärte die Bedeutung des Wortes »Heiden«, indem er sagte: »Zu diesen gehören die Götzendiener, Mohammedaner und Juden.« Nach dieser merkwürdigen Erklärung hatte ich von der Realschule genug und wollte eine klassische Anstalt besuchen. Mein guter Vater zwängte mich für meine Studien nie in eine enge Bahn hinein, und so wurde ich Schüler eines Gymnasiums. Trotzdem war der Panamaplan für mich noch nicht ganz beseitigt. Viele Jahre später hatte ich als Pariser Korrespondent der Neuen Freien Presse (in Wien) die Pflicht, über die berüchtigten Vorkommnisse bei dieser skandalösen Episode der Geschichte Frankreichs zu schreiben.

Im »Evangelischen Gymnasium« bildeten die Juden die Mehrzahl, und deshalb hatten wir uns nicht über irgendwelche Judenhetze zu beklagen. In der siebenten Klasse schrieb ich meinen ersten Zeitungsartikel, natürlich ohne Namen, sonst hätte ich Karzer bekommen. Während meines Aufenthaltes in der obersten Klasse des Gymnasiums starb meine einzige Schwester, ein Mädchen von 18 Jahren; meine gute Mutter wurde vor Kummer so schwermütig, daß wir 1878 nach Wien verzogen.

Während der Trauerwoche besuchte uns Rabbi Kohn und fragte mich, was meine Pläne für die Zukunft wären. Ich sagte ihm, daß ich ein Schriftsteller werden wollte, worauf der Rabbi seinen Kopf ebenso unzufrieden schüttelte, wie er später den Zionismus mißbilligte. Eine Schriftstellerlaufbahn ist kein eigentlicher Beruf, schloß der unzufriedene Rabbi.

In Wien studierte ich die Rechte, nahm an allen Studententorheiten teil und trug die bunte Mütze einer Verbindung, bis diese eines Tages den Beschluß faßte, daß fortan keine Juden mehr als Mitglieder aufgenommen werden sollten. Die es schon waren, erhielten die freundliche Erlaubnis, in der Verbindung zu bleiben. Ich sagte den edlen jungen Leuten Lebewohl und fing nun an, mich ernstlich an die Arbeit zu setzen. 1884 wurde ich Dr. juris und trat als unbesoldeter Beamter unter Leitung eines Richters in die Gerichtspraxis ein. Ich fand Verwendung beim Gerichte in Wien und in Salzburg. In Salzburg erschien mir die Arbeit anziehender; die Szenerie um die Stadt ist bekanntlich eine besonders schöne. Mein Amtszimmer war in einem alten Festungsturme gerade unter dem Glockenstuhle, und täglich dreimal tönte mir das Geläute recht hübsch in die Ohren.

Natürlich schrieb ich mehr für das Theater als für das Gericht. In Salzburg brachte ich einige der glücklichsten Stunden meines Lebens zu. Ich wäre auch gerne in der schönen Stadt geblieben; aber als Jude wäre ich nie zur Stellung eines Richters befördert worden. Deshalb nahm ich damals von Salzburg und der Rechtsgelehrsamkeit Abschied.

Wieder bereitete ich dem Rabbi von Budapest großen Ärger; denn, anstatt mich um einen wirklichen Beruf oder ein Amt umzusehen, fing ich an zu reisen und für das Theater und für Zeitungen zu schreiben. Viele meiner Stücke wurden auf verschiedenen Theatern aufgeführt: einige mit vielem Beifall, andere mit geringem Erfolg. Bis zu diesem Augenblicke kann ich nicht verstehen, warum einige meiner Stücke Beifall fanden, andere ausgepfiffen wurden. Diese Verschiedenheit der Aufnahme meiner Stücke lehrte mich jedoch, es nicht zu beachten, ob das Publikum mein Werk beklatschte oder auspfiff. Man muss es sich selbst recht machen; alles andere ist gleichgültig. Ich verwerfe gegenwärtig alle meine Stücke, selbst die, welche noch am Kaiserlichen Burgtheater in Wien Beifall finden und kümmere mich nicht länger um sie. Im Jahre 1889 heiratete ich und habe drei Kinder, einen Knaben und zwei Mädchen. Nach meiner Meinung sind meine Kinder weder hässlich noch dumm. Aber natürlich kann ich mich täuschen.

Während meiner Reise in Spanien, 1891, machte mir das Wiener Blatt Neue Freie Presse das Anerbieten, sein Korrespondent in Paris zu werden. Ich nahm diese Stellung an, obgleich ich bis zu der Zeit die Politik verachtet und verabscheut hatte. In Paris hatte ich Gelegenheit, zu erfahren, was die Welt unter Politik versteht, und ich sprach meine Ansichten in meinem kleinen Buch Das Palais Bourbon aus. 1895 hatte ich genug an Paris und kehrte nach Wien zurück.

Während der letzten zwei Monate meines Aufenthaltes in Paris schrieb ich das Buch Der Judenstaat. Ich erinnere mich nicht, je etwas in so erhabener Gemütsstimmung wie dieses Buch geschrieben zu haben. Heine sagt, daß er die Schwingen eines Adlers über seinem Haupte rauschen hörte, als er gewisse Verse niederschrieb. Ich glaubte auch an so etwas wie ein Rauschen über meinem Haupte, als ich dieses Buch schrieb. Ich arbeitete an ihm täglich, bis ich ganz erschöpft war; meine einzige Erholung am Abend bestand darin, daß ich Wagnerscher Musik zuhörte, besonders dem Tannhäuser, eine Oper, welche ich so oft hörte, als sie gegeben wurde. Nur an den Abenden, wo keine Oper aufgeführt wurde, fühlte ich Zweifel an der Richtigkeit meiner Gedanken.

Zuerst hatte ich den Gedanken gehabt, diese meine kleine Schrift über die Lösung der Judenfrage nur privatim unter meinen Freunden umlaufen zu lassen. Die Veröffentlichung dieser Ansichten habe ich erst später ins Auge gefaßt; ich hatte nicht die Absicht, eine persönliche Agitation für die jüdische Sache zu beginnen. Die meisten Leser werden erstaunt sein, wenn sie von diesem früheren Widerstreben hören. Ich betrachtete die ganze Sache nur als solche, in der man handeln, nicht aber disputieren müsse. Öffentliche Agitation sollte nur mein letztes Auskunftsmittel werden, wenn man meinen privat gegebenen Rat nicht anhörte oder nicht befolgte.

Als ich mein Buch beendigt hatte, bat ich einen meiner ältesten und besten Freunde, das Manuskript zu lesen. Während er es las, fing er plötzlich an zu weinen. Ich fand diese Erregung ganz natürlich, da er ein Jude war; ich hatte ja auch manchmal beim Schreiben geweint. Aber zu meiner Bestürzung gab er einen ganz anderen Grund für seine Tränen an. Er dachte, ich wäre irrsinnig geworden, und da er mein Freund war, machte ihn mein Unglück sehr traurig. Er lief weg, ohne ein anderes Wort zu sagen. Nach einer schlaflosen Nacht kam er zurück und drang in mich, die Sache zu lassen, da mich jeder für irre halten würde. Er war so erregt, daß ich ihm alles versprach, um ihn zu beruhigen. Dann riet er mir, Max Nordau um Rat zu fragen, ob mein Plan der Gedanke eines zurechnungsfähigen Menschen sei. »Ich werde niemand fragen«, war meine Antwort, »wenn meine Gedanken einen solchen Eindruck auf einen gebildeten und treuen Freund machen, werde ich den Plan aufgeben.«

Ich hatte dann eine sehr ernste Krisis durchzumachen; ich kann sie nur damit vergleichen, wenn man einen rotglühenden Körper in kaltes Wasser wirft. Freilich, wenn dieser Körper zufällig Eisen ist, wird er Stahl.

Mein Freund, von dem ich oben gesprochen habe, hatte meine Ausgaben für Telegramme zusammenzuzählen. Als er mir die Rechnung gab, die aus einer sehr großen Reihe von Posten bestand, sah ich auf den ersten Blick, dass er ungenau zusammengezählt hatte. Ich richtete seine Aufmerksamkeit darauf, und er zählte noch einmal zusammen; aber erst beim dritten oder vierten Male stimmten seine Summen mit den meinigen. Dieser kleine Vorfall gab mir mein Selbstvertrauen zurück. Ich war doch imstande, genauer zusammenzuzählen als er: meine Vernunft musste mich also nicht gänzlich verlassen haben.

An jenem Tage begannen meine Beunruhigungen betreffs des Judenstaates. Während der zwei und mehr folgenden Jahre habe ich viele, viele traurige Tage erlebt, und ich fürchte, dass noch mehr traurige Tage folgen werden. 1895 begann ich ein Tagebuch zu führen.

Aber eines betrachtete ich als gewiss und über allem Zweifel erhaben: die Bewegung wird anhalten. Ich weiß nicht, wann ich sterben werde, aber der Zionismus wird nie sterben.

 

Mit vorzüglicher Hochachtung

Ihr Theodor Herzl

Von: doron.rabinovici@liter.at

Betreff: Herzl reloaded

Datum: 14. ‌12. ‌14 15:53
An: teddyherzl@altneuland.com

Cc: natan.sznaider@subt.il

Sehr geehrter Herr Doktor Herzl,

 

selbst Ihre Gegner würden Ihnen sofort zustimmen, wenn Sie meinen, der Zionismus lebe weiter und vor allem die Palästinenser wissen davon ein Lied zu singen.

Ich wurde in jenem Staat geboren, den Sie erträumten. Ich lebe seit meinem dritten Lebensjahr in Österreich. Der Satz, den Sie, lieber Theodor Herzl, schrieben: »In Salzburg brachte ich einige der glücklichsten Stunden meines Lebens zu«, wurde übrigens im Jahr 2001 von der Stadt Salzburg am Landgericht auf einer Marmortafel zitiert. Es fehlten indes Ihre weiteren Worte: »Ich wäre auch gerne in dieser schönen Stadt geblieben, aber als Jude wäre ich nie zur Stellung eines Richters befördert worden.« Die Künstler Wolfram P. Kastner und Martin Krenn vervollständigten hierauf gemeinsam mit ihren Studierenden an der Sommerakademie für Bildende Kunst das Zitat. Sie hofften, die Verantwortlichen würden daraufhin ihren Fehler ausbessern. Stattdessen wurde ein Strafverfahren gegen sie eröffnet.

 

LG,

Doron Rabinovici