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Dank

Ich möchte mich sehr herzlich bedanken: bei Magnus Chrapkowski für ein erstes Lektorat von unerreichbarer Gründlichkeit und für seine wertvolle Beratung; bei Gerhard Stadelmaier, Shinu Ottenburger, Achim Stanislawski, Christina Striewski, Christian Groß-Strahlenbach und Angelo Vannini für ihre lieben Vermittlungsbemühungen; bei Simon Schnorr und Susanne Unah für ihre Korrespondenz; bei Kristin Vardi für ihre Kommentare; und bei Pablo Posada Varela für sein Interesse und sein Angebot.

Ganz besonderer Dank gilt Dietmar Dath für seine sehr großzügige und hartnäckige Unterstützung, den Text in den richtigen Kanal zu leiten, und damit Jörg Sundermeier, der dessen Schleusen geöffnet hat.

Wie könnte ich mich je genug bedanken bei der Achse Paris –Wien, um die sich dieser Text in vielfältigster Weise bewegt und von der er bewegt wird.

Philipp Stadelmaier,

Paris im November 2015

Impressum und Copyright

Erste Auflage

© Verbrecher Verlag 2016

www.verbrecherei.de

Satz und Ebook: Christian Walter

ISBN Print: 978-3-95732-155-8

ISBN Epub: 978-3-95732-169-5

ISBN Mobipocket: 978-3-95732-170-1

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Philipp Stadelmaier

Die mittleren Regionen

Über Terror und Meinung

He entered. Pure chaos surrounded him.

»Pasolini« von Abel Ferrara (2014)

Paris, November 2015

Erste Reaktion: Das ist ein Scherz. Eine Karikatur. Aber da wurde man schon, wie immer, doppelt karikiert, karikaturisiert, da erneut terrorisiert, und karikiert in allem bisher Geschriebenen, in dem, was wir vom Terror verstanden haben wollten. Wollten wir uns nicht »ein wenig weniger überraschen lassen«? Auf das »Unvermeidbare« reagieren, weniger als auf ein »Ereignis«? Von wegen. Vielleicht nächstes Mal.

»Man wird zum Terror nie die richtige Nähe haben, er wird immer zu weit oder zu nah gewesen sein, man wird immer näher oder weiter weg von ihm gewesen sein können.« Wenigstens das stimmte. Vor dem Terror und dem Terror der Reaktionen bleibt nur das ungeheure Bedürfnis zu schweigen, keine Nachrichten zu sehen und vor allem nichts zu schreiben zu all dem, nie wieder. Die Lust zu schreiben stellt sich nicht mehr ein, nicht direkt danach, nicht später. Was gibt es noch zu sagen? Etwa zur ungeheuren Nähe dessen, was passiert ist? Waren wir vor einem Jahr in den mittleren Regionen, so sind wir es nun mehr denn je – aber diese treten immer mehr ins Offene, heraus auf die Straße, als hätten Redaktionsräume von Karikaturisten oder ein koscherer Supermarkt ihn nur für einen kurzen Moment sequestriert. Der Terror kommt näher; aber je näher er kommt oder man ihm, desto näher kommt man zu der absoluten Ferne, der absoluten Differenz zwischen »in ihm sein« und »nicht in ihm sein«, wird man sich bewusst, wie sehr man nicht dort war, wo jene waren, die tot, verletzt oder einfach Zeugen sind, und wie sehr man nicht dort ist, wo nun die sind, die ihnen nahe sind oder waren. Und die Tatsache, nicht dort gewesen zu sein oder zu sein, erscheint lächerlich im Vergleich zur Möglichkeit, dass es hätte anders kommen können.

An diesem Punkt sind die intime und die politische oder öffentliche Ebene nicht mehr zu trennen, während sie getrennt werden müssen, um zu sehen, wo sie sich oft heillos miteinander vermischen, zu jenem grausigen moralischen Schlamm vermischen, von dem unsere armen mittleren Regionen immer mehr ergriffen wurden.

Menschen verlieren Menschen und trauern, oder sie trauern mit den Trauernden, die ihnen nahestehen oder denen sie sich nahe fühlen. Wie könnte man ernsthaft jemandem daraus einen Vorwurf machen? Wie brutal und mitleidslos müsste man sein, um jemandem vorzuwerfen: Du trauerst mit denen in Paris, warum nicht mit jenen in Beirut, wo am selben 13. November vierzig Menschen starben? Wie kann man jemandem seine Trauer vorwerfen?

Etwas völlig anderes aber (und hier beginnt das Politische) ist es zu sagen, dass jene Nähe zum Terror doch eine ist, die in anderen Teilen der Welt – wie in Beirut – noch eine andere Alltäglichkeit hat. An dem Punkt, an dem einem das möglich ist und der Schmerz einen nicht zu sehr knechtet und sprachlos macht; an dem Punkt, an dem man also theoretisieren oder pseudotheoretisieren und sagen kann: Ob man nun jemandem bei einem Terrorakt verliert, bei einem Flugzeugabsturz oder einem anderen äußeren Ereignis ist weniger relevant als die Tat­sache seines Verlustes; an diesem Punkt wird es möglich zu erkennen, dass man in seiner Trauer schon eine andere, eine ferne teilt, dass andere trauern, überall, und dass dies heute auch einer der Effekte des Terrors ist, der die mittleren Regionen an allen Ecken und Enden heimsucht.

Dies ist für einige, vor dem Hintergrund der Berichterstattung über die Anschläge, nun Moralismus, verlogene »Trauer-Erbsenzählerei«, Distinktionsgetue. Es gehe diesen »Moralisten« nicht wirklich um Trauer um Menschen aus anderen Teilen der Welt.* Als seien diese es auch gar nicht wert, dafür in Be­tracht zu kommen, dass es um sie ginge. Als sei der Vorwurf moralischer Erbsenzählerei nicht ebenso moralisch wie die Moral, die er anklagt.

Beiden Moralisten, welche das Ferne gegen das Nächste oder das Nächste gegen die Ferne ausspielen, kann man nur Gilles Deleuze entgegenhalten. Der spricht in einer Radio­sendung 1956 von David Humes Konzeption der menschlichen Sympathie.** Die Sympathie übersteigt den Egoismus, ist aber auf natürliche Weise limitiert. Diese Limitierung besteht darin, dass sie sich aus sich selbst heraus nicht erfüllen, nicht beenden kann. Die Sympathie ist also endlich, beschränkt, weil sie kein fixes Ende kennt. Damit ist sie sowohl Voreingenommenheit (sie sorgt sich um Nächste und Geliebte), als auch schon Appell, diese Sorge auf die Dimension der Welt auszudehnen. Durch ihre Endlichkeit erhebt sie nun eine moralische Forderung nach ihrer künstlichen Beschränkung, welche die Sympathie aus sich heraus aber niemals erfüllen kann: Die Moral, die sie selbst fordert, bleibt der Sympathie nie genug. Moral und Sympathie sind also, ebenso wie die Politik und das Intime, zwar untrennbar (und es gibt keine Sympathie, die nicht von Anfang an schon konditioniert und kultiviert wäre), aber nie zu vermischen. Die Moral mag die Sympathie auf die Opfer in Paris oder jene in Beirut festsetzen, mag sie künstlich einschränken oder entgrenzen – die Sympathie wäre doch nur künstlich, aber nie »natürlicherweise« beendet. Denen, die anderen ihre Trauer mit den »Nächsten« vorwerfen, und jenen, die anderen vor­werfen, sich für Menschen in Beirut zu interessieren, wäre allein das entgegenzuhalten: Die Solidarität kommt erst noch, sie bleibt eine Möglichkeit. Weil die Sympathie als Übertretung allen Egoismus immer schon eine Teilung und also eine mit allen anderen geteilte Teilung ist, vor jeglicher moralischen Restrik­tion. Der Skandal (nie etwas für Moralisten, natürlich), sich in seiner beschränkten Trauer von deren Geteiltheit mit anderen, also von der beschränkten Trauer anderer bewegen zu lassen, träge den Namen einer wirklich sympathischen Solidarität, der Hoffnung oder der mittleren Regionen, in denen das Nahe und das Ferne ständig neu verhandelt wird, ohne je »bestimmt« werden zu können. Wer den IS killen will, der »den Westen« und »den Islam« gegeneinander auf­wiegeln und radikalisieren will, täte gut daran, diese Möglichkeit der Solida­rität zu bedenken, die gerade dort beginnt, wo bestimmte Tote einem immer wichtiger sind als andere, und dass es genau dies ist, was man mit allen anderen teilt.

Ansonsten kann man nur konstatieren, dass die Positionen im vergangenen Jahr und bis nach dem 13. November immer geheimnisloser und trauriger geworden sind. Ein Tagebuch des letzten Jahres wäre ziemlich langweilig in dieser Hinsicht. Über die »Meinung« sind wir, nach den Anschlägen auf Charlie Hebdo, nun bei der Trauer angelangt, und das verhandelt sich noch weniger: Man wird doch wohl noch trauern dürfen! Und was zuvor eher noch »der Islam« war, wird nun vor allem an den Flüchtlingen, vor allem denen aus dem Nahen Osten, ausgelassen (ohne natürlich auf die Verbindung zu Islam zu verzichten!), die sich zu Millionen auf dem Weg nach Europa befinden und, natürlich, vor dem Terror fliehen. (Wenn die Anschläge in Paris und etwa Beirut nicht aufzuwiegen sind, dann auch deshalb, weil man nach wie vor nichts riskiert, um in Paris ein Glas Champagner auf der Terrasse eines Cafés zu trinken, während in anderen Städten Leute nicht aus dem Haus gehen können, ohne sich in Gefahr zu bringen, und weil das: »Jetzt müssen wir erst recht unseren westlichen Lifestyle feiern« – in dem sich die Meinung diesmal als angegriffene wieder­erkennt – »und am besten richtig viel Schampus saufen!« einem jeglichen Glauben daran nimmt, dass Klein­mütigkeit und Selbstobsession auch nur um ein Jota gewichen sind seit Januar. »Sie haben Waffen, wir Champagner«, titelt Charlie Hebdo nach den Anschlägen, und selbst wenn dies eine Solidaritätskarikatur ist, bleibt diese eine Karikatur und ist also karikiert. Man soll trauern, man soll Champagner trinken. Man sollte das nur nicht mit Politik, Moral oder irgendeinem »Widerstand gegen irgendwas« vermischen. Tut man es doch, hat man einfach noch nicht genug getrunken.) Nicht alle Flüchtlinge sind Terroristen, aber jeder Terrorist immer auch ein Flüchtling? Einige glauben das gerne, und ich erspare mir das Elend, sie hier zu nennen oder auf das perfide Kalkül hin­zuweisen, mit dem der IS eine Beziehung zwischen Flüchtlingen und Terror inszeniert (sie sind schon gut, diese meinungs­losen Terroristen: Immer lassen sie sich von den Terrorisierten interpretieren) ebenso wie ihre eigene Beziehung zum Islam (»Allahu Akbar« geschrien im Bataclan, so what? Die An­schläge zeugen von einem solchen Nihilismus, dass sie auch hätten rufen können: »Für Thorsten und Jutta!«). Zäune, Lager und, am ganz rechten Rand aller »Alternativen«, Schießbefehle: Das ist das verängstigte und verbarrikadierte, provinzielle und unmondäne, reaktionäre und hasserfüllte Vor- und Schrebergartenniveau, auf dem wir mittlerweile angekommen sind. Ansonsten fordern die Leitartikelschreiber großer deutscher Tageszeitungen mit Sitz in Städten wie jener mit dem humanistischsten und anti-rassistischsten Pasolini-Publikum der Welt gerade nach dem 13. November harte Führungsgesichter und betonen, dass es keinen Zusammenhang gäbe zwischen Flüchtlingen und Terroristen, aber man dennoch diesen Zusammenhang sehen müsse. Bei Freud hieß das Verneinung. Und das heißt nichts Gutes.

Ein wenig Psychoanalyse kann nie schaden. Aber gleich­zeitig verliert all das sein Geheimnis, und wenn die Analyse immer eine unendliche ist, dann sagt man sich mittlerweile, dass man ebenso gut auf sie verzichten kann. Wenn Leute mit Meinungen Leidende sind und man sie von ihr vielleicht ein wenig heilen kann, dann lautet heute die Frage: Wozu noch die Mühen? Nach Charlie Hebdo musste man die Meinungen noch suchen, versuchen, sie zu verstehen, sie ausfindig machen, um sie wieder zu verlieren und erneut zu verfolgen. Es scheint, dass dieses Spiel sich dem Ende zuneigt. Vielleicht auch, weil die Wiederholung des Terrors, seine vorhersehbare Unvorhersehbarkeit, diesmal einen völlig unvorhersehbaren Anachronismus erzeugt hat, den man nicht für möglich halten konnte: War on Terror, Ausnahmezustand, Frankreich zieht in den »Krieg«. Auf einmal kommen sie ein wenig zurück, die guten alten Bilder aus den »guten alten Zeiten«, die Derrida nach dem 11. September verabschiedet hatte. Wenn das Charlie-Attentat »ohne Bilder« blieb, dann bemüht man sich nun, dies nachzuholen.

Krieg wie nach 9/11? Die Notwendigkeit, den IS militärisch zu bekämpfen, ist allen klar; dass Bomben und Drohnen neuen Terrorismus produzieren, ebenfalls; und auch, dass die »Vernichtung des IS« keine Vernichtung des Terrors sein wird. Anachronismus und Schwindel der mittleren Regionen: Die Geschichte läuft im Schleudergang, dreht sich in Spiralen und kommt kein Stück weiter.

Was tun, ohne in das moralische Kriegs-, Flüchtlings- und Champagnergeschrei einzustimmen? Man kann zwischen Trauer und Politik unterscheiden. Man kann die Genese und Struktur des IS nachvollziehen. Sich überlegen, wie er sich bekämpfen lässt. Man muss auch herausstellen, dass es damit nicht getan ist. Dass es einen Zusammenhang zwischen islamistischem Terrorismus und fundamentalem ökonomischen Liberalismus gibt, wie Bernard Stiegler und Jean-Luc Nancy das deutlich machen.*** Es geht (für Stiegler) nicht um Religion und letztlich auch weniger um einen »Krieg« gegen Daesh, als vielmehr um wirtschaftliche Perspektivlosigkeit, um Verzweiflung in einer Welt, die von der Innovationsbeschleunigung bei der Technologisierung aller Lebensbereiche beherrscht wird. Man kann also versuchen zu verlangsamen, was zu schnell geht, sich über die Geschichte der mittleren Regionen und ihre spiral­förmigen Sackgassen beugen, leisen sprechen, analysieren, noch leiser werden. Um den gleichen stillen Kommentar hörbar zu machen: Es gibt keine Zukunft, keine Hoffnung. Man würde lieber schweigen, schreibt Nancy in einem Kommentar und endet mit der Frage: »Wo ist nun der Geist, der aus der Be­drückt­heit hervorgehen muss?« Und was wäre Stieglers »veritable Zukunft« von dauerhaften, nachhaltigen, wirtschaftlichen Werten, jenseits einer ruinösen Datenökonomie? Ist Letztere nicht auch schon jene ruinöse Beschleunigung der ständigen Erfindung von Meinungen? Wie baut man eine veritable Zukunft in den mittleren Regionen? Wie ruiniert man eine ruinöse Daten- und Meinungsökonomie?

Keine Lust mehr zu schreiben. S. (nicht der aus Frankfurt, die andere) auch nicht. Trotzdem schreibt sie, und trotz allem Elend kann man es noch immer nicht schöner und luzider formulieren als sie: »Wir würden dem Politischen als solchem den größten Dienst erweisen, wenn wir es über uns bringen würden, zumindest ein paar Minuten lang Trauer als Trauer, Fragen als Fragen und Ekel als Ekel zu fühlen.« Und weiter: »Es gibt viele, unfassbar viele, die nicht mit Sorgen in die Zukunft blicken oder etwas Derartiges – nein, sie haben sich irgendwo, irgendwie inmitten ihres abendländischen Wohlstands mit der Angst, Urangst vor dem Ende des Friedens angesteckt. Was ist dazu zu sagen? Wenn diese Tür sich in jemandem öffnet, hat er an etwas teil, das wahrscheinlich bereits sehr tief in unsere Körper eingeschrieben ist: Things fall apart. Was ist zu sagen, wenn man irgendwann begreift: Die haben sich eingelassen auf diese Perspektive, dass alles Schöne oder auch nur irgendwie Leb­bare sich auf einer winzigen, vom Untergang bedrohten Insel befindet? Und jetzt kommen sie nicht mehr los davon. Man sollte meinen, die Liebe würde es einem verbieten, in solchen Gedanken Fuß zu fassen. Müssen Liebende nicht Er­bauer sein, Gärtner, Optimisten, die genau hier, genau jetzt die Dinge und Menschen pflegen, die ihnen am Herzen liegen? Es ist halt oft nicht so. An die Stelle des Tuns vom eigenen Körper aus, an die Stelle der Schönheit und Banalität des Eigenen und der Unentwirrbarkeit des Ganzen kann die Energie der Voll­streckung treten, die sogenannte Geschichte, von der wir alle deep down wissen, sie ist gegen uns.«

In den mittleren Regionen haben es Liebende in letzter Zeit schwer. Vor allem wenn sie Erbauer, Gärtner und Optimisten sind, und jene Menschen pflegen, die ihnen am Herzen liegen. Sie fühlen sich von ihrer Zeit entfremdet, und die Geschichte arbeitet gegen sie. Vor ihnen liegt viel Arbeit. Zumindest sind sie nicht allein.

* Zum Beispiel hier: http://www.welt.de/kultur/article148920358/Lasst-doch-die-verlogene-Trauer-Erbsenzaehlerei.html, abgerufen am 26. November 2015.

** http://www.ina.fr/audio/PHD86018785/la-nature-humaine-selon-david-hume-audio.html, ca. ab Min. 9:50, abgerufen am 26. November 2015, entdeckt dank eines Facebook-Posts von Emmanuel Burdeau.

*** Zu lesen hier: http://www.lemonde.fr/emploi/article/2015/11/19/bernard-stiegler-ce-n-est-qu-en-projetant-un-veritable-avenir-qu-on-pourra-com​battre-daech_4813660_1698637.html sowie hier: https://nicolas​dutent.​word​press.com/2015/11/20/le-poids-de-notre-histoire/, beide Seiten abgerufen am 26.11.2015.

Paris, 7. Januar 2015, 11:48 h

Terrorisiert.

23:57 h

»La rançon de la gloire« gesehen, heute gestartet, im Cinéma des Cinéastes. Vier Leute im Publikum. Benoît Poelvoorde wird aus dem Gefängnis entlassen und hat die Idee, die Leiche von Charles Chaplin zu klauen, um mit dem Lösegeld seinem muslimischen Freund (Roschdy Zem) zu helfen und die Kranken­hausrechnung für dessen Frau zu bezahlen. Was kann man heute noch mit der Leiche von Chaplin anfangen, mit Chaplins Humanismus, mit dem Geist von Chaplins Humanismus? Was kriegt man heute noch für einen Chaplin?

Idiotischer Wunsch, dass alle an diesem Abend ins Kino gehen sollten, um diesen Film zu sehen; um sich zu fragen, was man heute noch mit Chaplin und seiner Leiche anfangen kann oder auch nicht; mit dem, was von Chaplin übrig bleibt – in diesen wunderbaren Einstellungen von Xavier Beauvois, die stets zwei Bereiche zusammenhalten und den Abstand zwischen ihnen öffnen: zwischen dem Bereich des Sakralen und dem des Profanen, zwischen Chaplins Geist und seinem schweren Körper, zwischen der Musik von Michel Legrand und dem flapsigen Dialog von Poelvoorde bleibt die Frage, wer sich von Chaplin heute angeschaut fühlt. Dass es jener Blick Chaplins auf sein Publikum ist, das er nie sehen kann, das ein abwesendes und noch zu kommendes ist, das also stets riskiert, ihn schon nicht mehr oder noch nicht zu sehen, und also ein – noch – blindes Publikum ist, wissen wir seit dem Ende von »City Lights« (und seit der Kritik von Serge Daney zu »Limelight«*), wo das vorher blinde Mädchen am Ende des Films Charlot zum ersten Mal sieht. Also ist es Chaplin selbst, der stets riskiert, an seinem Platz zu fehlen, »sein« Publikum nicht zu sehen oder von diesem (abwesenden) nicht gesehen werden zu können: eine Leiche zu sein.

Jenseits des Ruhms von Chaplin, jenseits dessen, was diese Filme je einspielen werden oder was man für sie ausgibt, ist Chaplin unbezahlbar, gibt es immer noch einen Rest, eine Reserve an Chaplin, die nicht bezahlt und nicht ausgelöst werden kann. Etwas, was von diesen Filmen ewig »gegeben« werden wird, wie ein ewiges Geschenk, sodass es nie genug geben kann, die es annehmen, und nie genug, die den Film sehen. Denn der immense Ruhm von Chaplins Filmen hat seinen Preis: Er ist nie groß genug, denn er ist unbezahlbar. Sein Preis ist die schiere Undankbarkeit:ReserveReserve