Umschlag

Ina May wurde in Kempten im Allgäu geboren, verbrachte die ersten sechs Lebensjahre in Nesselwang und einen Teil ihrer Jugend in San Antonio im US-Bundesstaat Texas. Sie absolvierte ein Sprachenstudium und arbeitete als Fremdsprachen- und Handelskorrespondentin für amerikanische Konzerne. Heute lebt die freischaffende Autorin mit ihrer Familie am Chiemsee.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2016 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: Daniel Schoenen/LOOK-foto
Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch
eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-96041-007-2
Allgäu Krimi
Originalausgabe

Unser Newsletter informiert Sie regelmäßig über Neues von emons:
Kostenlos bestellen unter www.emons-verlag.de

Erster Teil

Vierunddreißig Jahre Schweigen

Prolog

Sie sah es nicht kommen. Dass diese spöttische Antwort auch ihre letzte sein würde. Ich konnte nicht mehr, wollte nicht mehr. Nicht so.

Sie hatte zu viel riskiert, doch wie immer dafür kein Gespür gehabt. Wir waren doch eins, waren uns nah und vertraut gewesen. Was hatte sie dazu gebracht, so etwas zu sagen? So verletzend und so böswillig.

Nicht ihre Lockerheit, die Geringschätzung war der Auslöser gewesen, und sie lachte noch, als die scharfen Spitzen in ihre Brust eindrangen.

Es dauerte, bis sie verstand, was passierte. Sie war tatsächlich erstaunt. »Aber warum? Du kannst mich doch gar nicht hassen.« Ihre eingeschränkte Sicht erlaubte das nicht, die Überraschung war echt.

Ich hatte lange Zeit nie etwas anderes getan, als sie zu lieben. Bis sie mich dazu gebracht hatte, sie zu hassen – abgrundtief.

Sie schluckte verzweifelt, Blut tropfte von ihren Lippen, eine Hand suchte die Wunde, die andere ihren Mund. »Neeein.« Das hübsche Gesicht verzog sich hässlich vom Schmerz, in ihren Augen standen Tränen.

»Es tut mir nicht leid.«

Wahrscheinlich hörte sie mein Flüstern nicht mehr, ihr Blick brach, und sie kippte nach hinten. Das im Dunkeln schwarz glänzende Wasser des Kögelweihers umfing Renate Täubl mit offenen Armen.

1

Ma sieht it in d’ Leit nei, bloß nah dra
Oder: Man kann den Leuten nur bis vor den Kopf schauen

Evelyn hatte zwei Seminartage der Bayerischen Akademie für Verwaltungsmanagement für Bürgermeister und Bürgermeisterinnen überstanden, zuhörend und schreibend, und sich in ihre Schulzeit zurückversetzt gefühlt.

Wie eine Managerin kam sich Nesselwangs Erste Bürgermeisterin trotzdem meist nicht vor. Sie mochte die Landeshauptstadt, aber im Auto erschien ihr München wie ein böswilliger Gegner, der ständig neue Überraschungen parat hatte. Sie hatte keinen Nerv für endloses Rumgefahre gehabt und sich für den Bus entschieden. Als sie endlich an der Kurapotheke in Nesselwang ausstieg, kündigte sich ein gutes Gefühl an: fast daheim.

Wie auf einem Gemälde schichteten sich die Bergketten von den Allgäuer Alpen bis zur Zugspitze hintereinander auf, jedes Detail war deutlich zu sehen, die Luft warm und klar. Was Föhn bedeutete. Etwas in der Art herrschte auch in ihrem Kopf, nur mit weniger Klarheit. Evelyn freute sich auf Ruhe, darauf, die Eindrücke, die endlosen Gespräche und den massiven Input hinter sich zu lassen. Im V-Markt würde sie schnell noch eine Kleinigkeit zu essen einkaufen und alles Weitere auf später verschieben.

Evelyn deutete in der dem Supermarkt angegliederten Bäckerei gerade auf eine belegte Semmel, um sie sich einpacken zu lassen, als sie ihn bemerkte. Das Unerwartete hatte sie schon des Öfteren verblüfft, doch selten war es derart eindrucksvoll gewesen.

Die Überraschung kam direkt aus dem Grab.

Er stand an einer der Kassen, kramte in seinem Geldbeutel nach kleinen Münzen und lächelte die Kassiererin entschuldigend an. »Ich hab’s gleich.«

Evelyn stockte der Atem. Sie starrte ihn unhöflich an, obwohl sie doch ein paar Jahre zu alt zum Starren war. Für einen Augenblick stand alles still.

Jörg Heider war zurückgekommen.

Sie lief die Treppe zu ihrer Wohnung hinauf, drehte den Schlüssel im Schloss und stellte die kleine Reisetasche im Gang ab. Sie hatte keinen Appetit mehr, sie war sich sicher, keinen Bissen hinunterzubringen.

Die Eindrücke ließen sich nicht einfach abschütteln. Wenn sie ihn gesehen hatte, mussten es auch andere getan haben. Aber hatte sie ihn tatsächlich gesehen? Sie streifte sich ihre Schuhe ab und ließ sich aufs Bett sinken.

Du hast ein echtes Problem mit der Wirklichkeit.

Evelyn musste zugeben, dass sie manches Mal unleugbar ein Problem hatte zu erkennen, woraus die Realität bestand.

»Jörg ist tot.« Ihr eigenes Flüstern erschreckte sie. Oder hatte sich ihre Erinnerung die Bilder nur geborgt? Seit ihrem Unfall wies ihr Gedächtnis große Lücken auf, und an Jörg Heider hatte sie lange nicht mehr gedacht, nicht denken wollen.

Die Kirchenglocken läuteten. Zwei Mal, Pause, dann setzten sie wieder ein. Jemand war gestorben. Irgendwo klingelte ein Handy. Und klingelte, klingelte. Der Ton kam ihr vertraut vor.

Ihr Handy! Evelyn stöhnte, rieb sich die Augen. Als sie ihre Finger hinterher betrachtete, waren deren Kuppen schwarz. Sie war eingeschlafen, ohne sich abzuschminken. Vollständig angezogen lag sie auf ihrem Bett, die leichten Vorhänge wehten in der spätsommerlichen Brise. Auf dem Holzfußboden tanzten Sonnenstrahlen. Sie warf einen Blick auf die Uhr auf dem Nachttisch, es war früher Nachmittag. Hatte sie heute noch etwas vorgehabt? Sie wusste es nicht.

»Eberius«, meldete sie sich und hoffte, dass sie nichts vergessen hatte. Kurz dachte sie an den Mann an der Kasse im Supermarkt und atmete tief ein. Komme, was da wolle, sie war gewappnet.

»Wieder zurück aus der großen Welt? Gerade rechtzeitig, so scheint es mir. Frau Bürgermeister, ich hab zwei schlechte Nachrichten«, verkündete Peter Pamel, der Hauptamtsleiter der Marktgemeinde Nesselwang.

Sie hatte dessen Nummer gespeichert, und er wusste sicher, wen er anrief, also unnötig, sich mit Namen zu melden. »Es waren nur zwei Tage«, sagte Evelyn. »Und bloß kein Neid, von der großen Welt hab ich wenig mitbekommen.« Leider hatte sie den Zweiten Bürgermeister nicht darum bitten können, den Seminartermin für sie zu übernehmen, weil es keinen Zweiten Bürgermeister gab. Auch ihren Hauptamtsleiter hätte sie gern hingeschickt, aber er wäre nicht die Zielgruppe gewesen.

»Ich mag in München nur den Fischbrunnen am Marienplatz. An dem kann sich der Stadtkämmerer was wünschen«, sagte Pamel.

»Aber auch nur am Aschermittwoch«, erwiderte Evelyn. Die Tradition nannte sich Geldbeutelwaschen. Doch Pamel wollte sicher etwas völlig anderes von ihr, nur was? »Ich bin noch nicht ganz da«, sagte sie, wusste aber, dass die Hoffnung, der rege Hauptamtsleiter würde sie schonen, vergeblich war.

»Wir haben einen neuen Toten, und Pfarrer Winkler ist abgehauen«, grummelte Pamel. »Niemand da, der die Seele dem Himmel übergibt.«

Evelyn schmunzelte. Peter Pamel und seine unnachahmlich plastische Sicht auf die Dinge. Die Nachricht vom verschwundenen Pfarrer war nicht wirklich betrüblich, der Mann hatte sich bei vielen in der Gemeinde unbeliebt gemacht. Für den neuen Toten dürfte das keine Bedeutung haben, er würde es nicht mehr bemerken. Die Angehörigen schon.

»Dann fragen wir eben in Pfronten nach, ob uns jemand aushilft«, schlug Evelyn vor. Pfronten war eine Dreizehn-Dörfer-Gemeinde, und in einem davon würde es bestimmt auch einen manierlichen katholischen Pfarrer geben, der die Gottesdienste und die Beerdigungen in Nesselwang übernehmen konnte. Inzwischen war es drei Uhr, wie die Kirchenglocke von St. Andreas eben verkündet hatte.

»Nein«, wischte Pamel ihren Vorschlag weg. »Darauf sollten wir besser verzichten, sonst können wir uns das ewig aufs Butterbrot schmieren lassen.«

Evelyn sah Pamel vor sich, wie er überlegte. Dann zupfte er abwesend mal an seiner Nase, mal am linken Ohr. Sie ahnte, dass gleich noch etwas kommen würde.

»Wir fragen den Pfarrer vom Altenheim«, schlug Pamel vor. »Im Gegensatz zum eigenwilligen Winkler ist der immer angenehm, freundlich und zugänglich. Rudi Schäfer versteht es, mit den Leuten umzugehen, die meisten kennt er ja seit ihrer Geburt. Ich werde ihn fragen«, lautete sein Angebot.

Schäfer, der genauso wie sein Namenspatron auf seine Schäfchen achtgab, war schon etwas in die Jahre gekommen. Er lebte in einer Wohnung im Anbau des Seniorenheims in Nesselwang und hielt in der kleinen Kapelle noch immer den Gottesdienst ab. Evelyn mochte den alten Pfarrer, er hatte immer ein offenes Ohr für Probleme aller Art.

Für ihr persönlichstes Problem müsste sie allerdings selbst eine Lösung finden. Doch sie fürchtete sich davor, die Antwort tief in ihrem Innersten zu entdecken. Es schien überhaupt, als fürchtete sie sich vor so manchem, seit sie die fünfzig vor gut über einem Jahr überschritten hatte.

Vorhin, als sie kurz weggedämmert war, waren die Bilder auf sie eingestürmt. Jörg Heider, der sie im Arm hielt. Er brauchte ihr nicht zu sagen, dass sich nicht wiederholen würde, was sie getan hatten. Die Zeit würde weiterlaufen und Evelyn mit ihr. Ohne ihn.

Ihr Gedankendurcheinander würde sich nicht so einfach wieder auflösen lassen wie diese Szene, die nicht ihrem Traum, sondern der Erinnerung entsprungen war.

Sie setzte sich im Bett auf und warf einen Blick in den Spiegel über der Kommode. Dunkle Ränder unter den grünen Augen, ein hübsch hässliches Geschmiere. Sie verzog den Mund und sank zurück in die Kissen.

»Frau Bürgermeister?«

Peter Pamel wartete offenbar auf eine Antwort. Aber auf welche Frage? Evelyn konnte sich nicht erinnern. »Alles gut«, sagte sie.

»Prima. Unser Karlheinz ist am Nachmittag draußen bei den Toten, es muss noch einiges hergerichtet werden. Bestimmt geht ihm die Dachser wieder an die Kehle, aber du machst das schon.«

Lässig serviert. Das hatte sie jetzt von ihrem »Alles gut«. Karlheinz Meier war Nesselwangs Friedhofswärter, ein gelassener, angenehmer Mensch. Die erwähnte Pfarrsekretärin mit Namen Dachser war da schon um einiges anstrengender gestrickt. Evelyn biss sich auf die Unterlippe. Sie war Pamel in die Falle gegangen.

»Und dann haben wir da noch …« Der Hauptamtsleiter zerriss offenbar eine Notiz und schnalzte mit der Zunge. »Ich muss es ja ansprechen, aber es ist schon ziemlich … äh, speziell.« Aufgekratztes Kichern. »Das Ding ist schon wieder weg. Wir können nicht erwarten, dass die ein neues schicken, wer weiß denn außerdem, was da dann draufsteht. Also müssen wir es selbst in die Hand nehmen.« Er prustete, verschluckte sich, hustete.

»Selbst in die Hand nehmen?«, fragte sie.

»Du doch nicht, Frau Bürgermeister.« Ein erneuter Lachanfall. »Es geht um das geklaute Ortsschild. Die Engländer haben versprochen, es zu ersetzen.«

Zum wievielten Mal? Evelyn verdrehte die Augen. Also hatte eine englische Reisegruppe mal wieder das Ortsschild von Wank abmontiert, einem kleinen Weiler, der zu Nesselwang gehörte. Evelyn hatte die Worte ihres jetzt fünfzehnjährigen Enkels bei dem ersten Vorfall dieser Art noch im Ohr: »Das ist echt der Brüller, Oma. Die verdammten Wichser.« Sie hatte ihn darauf hingewiesen, keine ordinären Ausdrücke zu verwenden, sich im Stillen aber darüber gewundert, dass andere Leute schon ähnliche Witze darüber gerissen hatten. Erst das Englischlexikon im Internet hatte Evelyn darüber aufgeklärt, dass »to wank« im Englischen genau den von Paulinus verwendeten Ausdruck meinte.

»Ersetzen bezieht sich auf die Kosten?«, fragte Evelyn.

»Klar«, grunzte Pamel. »Hast du eine Ahnung, wohin sich Pfarrer Winkler verdrückt haben könnte?«, wechselte er das Thema. »Jemand von der Zeitung hat mich gefragt, und ich kann ja schlecht sagen, dass er ein Typ ist, der gern stänkert und sich damit Ärger einhandelt, und sich vermutlich deshalb in Luft aufgelöst hat.«

»Die Wege des Herrn und so weiter … Nein, ich habe wirklich keine Idee«, sagte Evelyn und tupfte mit dem Zeigefinger an ihrem Unterlid herum.

»Der hat mit dem Rübenkopf Winkler nichts zu tun«, war Pamel überzeugt. Er war angefressen. Vor Kurzem war seine Mutter gestorben, und Pfarrer Winkler hatte vorgeschlagen, den Leichenschmaus vorzuziehen und den Gottesdienst und die Beerdigung erst anschließend abzuhalten. Anders würde es ihm nur schlecht passen. Einer der skurrilsten Vorschläge des wunderlichen Herrn Pfarrer, aber der, der das Fass in Pamels Augen zum Überlaufen gebracht hatte.

»Vielleicht hat ihm jemand eins ausgewischt«, entfuhr es Evelyn.

»Ich glaube nicht, dass ich es war«, sagte Pamel. Der Hauptamtsleiter war hintersinnig veranlagt.

Hoffentlich war es auch niemand sonst, dachte Evelyn. Nesselwang war zumeist eine ruhige Gemeinde, es sei denn, jemand tauchte auf und beunruhigte die Leute.

»Da ist noch was anderes.« Pamel schnaufte. »Cilly Eisenhut hat im Kreis einiger Mitbewohnerinnen im Altenheim ›beim Fidle des Bürgermoischtr gschwora‹, gehört zu haben, wie ihre Zimmernachbarin sich dem Pfarrer unziemlich angeboten hat.«

»Geht’s vielleicht auch weniger dramatisch?« Evelyns Augen brannten jetzt wie Feuer, sie nahm den Zipfel ihrer dunkelblauen Bluse zum Reiben zu Hilfe.

»Das war zum Teil O-Ton«, sagte Pamel. »Statt unziemlich hat sie was mit Titten und so weiter gesagt, du kannst es dir denken. Die Eisenhut ist eine vulgäre alte Henne. Aber diese Pfarrer-Story konnte ich dem Zeitungsmenschen natürlich auch nicht anbieten.«

Was hatte Pamel dem Journalisten dann erzählt?, fragte sich Evelyn, wollte es aber eigentlich gar nicht wissen. »Können wir bitte über was anderes reden? Sonst träume ich heute Nacht noch von nackten alten Frauen, faltigen Brüsten und … Nein.« Sie schüttelte sich.

»Na gut, dann reden wir eben darüber, ob ich im Kindergarten den Zauberer geben darf.« Pamel räusperte sich umständlich. »Das wollte ich schon immer mal und habe auch ganz fürchterlich geübt. Ich bin jetzt richtig gut.«

Evelyn stellte sich vor, dass Pamel vor sich hin nickte. Von seinen Zaubereien hatte sie bisher nichts gewusst. Vielleicht ein verborgenes Talent? »Das wäre mit der Leiterin abzuklären«, sagte Evelyn. »Natürlich solltest du auf Feuerwerk verzichten, aber wäre ich ein Kindergartenkind, würde ich mich über deinen Besuch freuen.« Doch würde sie das wirklich? Natürlich, ja. Auch in ihrer Kindergartenzeit war ein Zauberer aufgetreten, und sie konnte sich daran noch erinnern. Also musste es ein denkwürdiges Ereignis gewesen sein.

»Ist schon lange mein Traum«, verriet ihr Pamel und klang, als wäre es bislang sein wohlgehütetes Geheimnis. »Zaubertricks vorführen, natürlich unterstützt von kräftigem Applaus.«

Träume, dachte Evelyn. Manche lösten sich auf, ohne sich erfüllt zu haben. Von anderen wünschte man sich hingegen, dass sie sich nie erfüllten.

Wieder hatte Evelyn das Gesicht des Mannes vor Augen, die Hände, die im Geldbeutel nach Kleingeld fischten, dazu das Lächeln.

Aber du hast von deiner alten Liebe geträumt, nicht davon, dass jemand an einer Supermarktkasse bezahlt.

Sicher, dachte sie, von so etwas träumte man ja auch nicht. »Hast du in den letzten Tagen vielleicht jemanden im Ort gesehen, der Aufsehen erregt hat?«

»Warum?«, fragte Peter Pamel. Nach dem Warum machte er eine Pause, das Fragezeichen kam erst im Anschluss.

Toll, Evelyn! Ganz toll. Na ja, ich dachte bloß, ich hätte Jörg Heider gesehen. Du weißt schon, der, der damals draußen am Kögelweiher Renate Täubl getötet und sich dann im Gefängnis erhängt hat.

»Ach, es war nur so eine … Ahnung«, sagte sie.

2

Dr Adam im Paradies hot mit seinr Fressluscht verreicht, dass eis des Übl huit no gluschded
Oder: Genauso wie den Adam im Paradies führt uns das Übel auch heute noch in Versuchung

Der Kögelweiher war ein See mit Vergangenheit. Renate Täubl war in einer Sommernacht an seinem Ufer gestorben.

Es gab eigentlich keinen Grund für Evelyns Vorhaben – und es gab ihn doch. Jörg Heider, ob nun tatsächlich oder eingebildet, hatte dafür gesorgt, dass sie diese kleine Reise in die Vergangenheit unternehmen musste. Aber Evelyn schuldete sich selbst eine Antwort. Sie war lange nicht mehr am Kögelweiher gewesen.

In den letzten Tagen verabschiedete sich der Sommer, die Alpspitze und der Edelsberg waren ab und an verhangen, die Luft manches Mal schon ein wenig feucht. Ein herbstlicher Wind schob kleine Wolken vor sich her.

Die Erste Bürgermeisterin schwang sich auf ihr Fahrrad, ließ es den Böck-Pass hinunterrollen – im Winter ein Pass im wahrsten Sinn des Wortes, ansonsten nur eine Steigung. Evelyn bog nach rechts ab, fuhr am Sägewerk vorbei. Gegenüber lagen der kleine Bahnhof und ein Kiosk, für den sich seit Jahren kein Pächter mehr fand. Hinter der »Pension Schürer« stieg Evelyn vom Rad ab und schob es den Villaberg hinauf.

An der Straße gab es ein ausgebautes Stück mit eigenem Radweg, aber den Berg hinauf ging es da trotzdem, und sie würde genauso schieben müssen. Ihr behagte dieser kleinere Weg, der sie seitlich am riesigen Grund der alten Villa entlangführte, um einiges mehr, und das nicht erst, seit sie auf der Marktoberdorfer Straße ein Stück ihrer Erinnerung eingebüßt hatte.

Sie war achtzehn gewesen und hatte sich unkaputtbar gefühlt, bis die Linkskurve plötzlich eng und schmal wurde und das Bremspedal so winzige Ausmaße annahm, dass sie dachte, jemand habe es geschrumpft. Der Wagen riss die Leitplanke aus dem Boden, und die Fahrerin schoss den Hang hinunter, bevor sie zwischen den Bäumen hängen blieb. Die Tannen ächzten genauso wie das Blech der Karosserie. In Evelyns Ohren rauschte das Blut, irgendwann herrschte Stille und danach nur noch ein schwarzes Nichts. Teile dieses Nichts begleiteten Evelyn bis heute.

Später war sie in einem Klinikbett aufgewacht, und jemand in einem weißen Kittel hatte mit besorgtem Blick gesagt, sie hätte einen schweren Unfall und großes Glück gehabt. Als sie einen Blick auf den Kalender an der Wand geworfen hatte, hatte sie zuerst gedacht, jemand hätte aus Versehen ein Blatt zu viel abgerissen. Fast ein ganzer Monat war vergangen.

Koma, so nannten es die Ärzte. Es sei ein kleines Wunder, dass sie wieder zurück war.

Evelyn war damals tatsächlich zurückgekommen. Doch Jörg Heider konnte es heute doch unmöglich sein, oder? Auch ihr Unfall damals hatte etwas mit ihm zu tun gehabt.

Und was glaubte sie denn, dort draußen am See zu entdecken? Sie hatte sich all die Jahre nicht erinnert, warum also sollte sie es jetzt tun?

Du musst aufhören, die unangenehmen Dinge wegzuschieben.

Ihre Gedanken hatten begonnen, sich selbstständig zu machen. Es fühlte sich an, als würde ihre Erinnerung nicht gerade sanft bei ihr anklopfen.

Evelyn durchquerte Thal Richtung Hertingen, wich ein paar Hühnern aus und zog den Unwillen eines Mischlings auf sich, der ihr bellend folgte. Ein scharfer Pfiff stoppte den Hund, die Entschuldigung wurde hinterhergerufen.

Die kleinen Weiler waren Evelyns alte Bekannte, ihr vertraut. Der Lauf der Zeit hatte hier wenig geändert, nur die Bewohner der Höfe und Häuser waren älter geworden. Allerdings hatte es in der Gegend auch einige Tragödien gegeben, hinter den Türen hatte sich so manches Drama abgespielt. Der geheimnisvolle Kögelweiher hatte dabei oftmals eine Rolle gespielt, und Evelyn glaubte nicht, dass die Anwohner Renate Täubl vergessen hatten. Genauso wenig wie die anderen Opfer des Sees – die durch Schlingpflanzen als Täter umgekommen waren.

Bei den zwei großen Tannen bog sie links ab, fuhr ein kurzes Stück auf der Teerstraße, die bald zu einem Feldweg wurde. Im Wald wurde der Trampelpfad schmal und steinig, wieder stieg sie ab und schob das Rad. Zu beiden Seiten wuchs das Gras hoch und kitzelte sie an den Beinen. Es gab mehrere Wege zum See, Evelyn hatte sich, wie es schien, den ursprünglichsten ausgesucht.

Die Sonnenstrahlen durchdrangen kaum die Wolken. Mit Badenden war nicht zu rechnen, die Wassertemperatur dürfte seit dem Hochsommer stark gesunken sein. Zudem war der Kögelweiher kein ausgesprochener Badesee. Sein Ufer war stark bewachsen, es gab nur einige Stellen, an denen man ins klare Wasser gehen konnte. Und unter seiner Oberfläche vermehrte sich in der Tiefe unsichtbares tückisches Gewächs.

Irgendwo auf der Seite, von der Evelyn sich näherte, zweigte seitlich ein Pfad zu einem Parkplatz ab. Auf ihm käme sie durch den Wald zu einer kleinen versteckten Bucht. Früher hatten sie dort an den Sommerwochenenden am Lagerfeuer gegrillt und Musik gehört.

Neben ihr im Gebüsch raschelte es. Evelyn blickte sich suchend um und kurz darauf in ein bekanntes Gesicht.

»Frau Bürgermeister«, grüßte Justus Abeling.

Evelyn war unentschieden, ob er erstaunt oder ertappt aussah. »Was machst du hier draußen?«, fragte sie den Polizeipressesprecher.

Er fuhr sich durch das kurze Haar, das erste graue Ansätze erkennen ließ.

Er sieht gut aus, fiel ihr auf. Wenn sie sich normalerweise begegneten, trug er meist Anzug und Schlips, aber die schwarze Badehose stand ihm auch nicht schlecht. Evelyns Hände schnippten in Gedanken an deren Gummizug.

»Sieht man doch«, antwortete er kurz angebunden und deutete vage und vor allem nichtssagend hinter sich.

Sie lehnte ihr Rad an einen Baum, machte ein paar Schritte in den Wald und erblickte eine Decke und einen Picknickkorb. Aber niemand picknickt allein, wunderte sich Evelyn. Und vor allem nicht im Schatten; die Bucht lag noch ein Stück weit entfernt.

Justus Abeling schaute sich um, als wäre noch jemand anwesend und Evelyn ihm höchst unwillkommen.

Oder bildete sie sich das ein? Justus zog sie auf die Decke, und sie hätte sich in der Situation so einiges vorstellen können. Doch seine Augen sagten nichts von Picknick und auch nichts davon, was man an einem abgelegenen Platz wie diesem auf einer Decke sonst noch tun könnte, auch wenn es das war, woran Evelyn gerade dachte.

Plötzlich war die Erinnerung da, wie aus dem Nichts aufgetaucht. Evelyn sah sich, wie sie langsam das T-Shirt über Jörg Heiders Kopf zog. Auf Jörgs nackter Brust lag eine Kette mit zwei ineinander verschlungenen Herzen. Sie streckte eine Hand aus, die Vergangenheit löste sich auf, und Evelyn berührte Justus Abelings Brust.

»Eve …«, sagte Justus.

Ihr ging auf, wonach das aussehen musste, und sie entschuldigte sich sofort. »Ich wollte … ganz was anderes. Es war nicht das …« Sie probierte ein Lachen. Es gelang ihr nicht sonderlich gut.

»Pscht«, sagte er. Seine braunen Augen ließen sie nicht los, seine Hand streichelte ihre Wange. »Aber gerade kann ich leider nicht.«

Glaubte er wirklich, sie wollte ihn? Hatte sie so geklungen? Die Möglichkeit bestand, auch wenn ihre Gedanken bei einem anderen Mann gewesen waren. Für ein paar Augenblicke hatte sie sich in die Vergangenheit zurückversetzt gefühlt. Hatte sie Jörg die Herzkette abgenommen, oder hatte er es selbst getan? Evelyn wandte den Kopf von Justus ab, bevor sie noch mehr unbedachte Dinge von sich geben, bevor in ihren Augen etwas auftauchen könnte, das zu viel verriet.

Eine laute Stimme war zu hören. »Justus? Hast du nicht gesehen? Da ist jemand mit einer Tüte, Einkäufe sind es nicht. Das ist dann die zweite, wahrscheinlich von derselben Person versenkt wie die, die der Angler rausgeholt hat. Verdammt. Da soll mich doch, da soll mich doch … Wir sind am falschen Ende von dem verdammten See.« Ein Mann. Ein wütender Mann.

»Der See hat kein Ende«, sagte Evelyn. Sie und Justus schauten sich an, als würden sie sich zum ersten Mal tatsächlich sehen. Wie elektrisiert, im Atem des Augenblicks gefangen.

Sie kannten sich seit ihrer Jugend, aber Evelyn wusste eigentlich nichts über ihn. Sie hatte ihn innerhalb der Clique nie großartig beachtet. Er war keiner von den Lauten gewesen, keiner von denen, die ihren Autos mehr Aufmerksamkeit geschenkt hatten als ihrem Mädchen. Hatte er überhaupt ein Mädchen gehabt?

»Kann sein, dass einer von uns tauchen muss«, fuhr die Stimme fort. »Und der eine bist natürlich du.« Ein Auflachen.

Justus stöhnte.

»Ich habe auch noch einiges zu erledigen«, sagte Evelyn, und das war kaum geschummelt, wenn auch »erledigen« nicht ganz den Kern der Sache traf. Sie hatte einen dezenten Blick in Justus’ Picknickkorb geworfen, der Polizeipressesprecher hatte ihn bemerkt und Evelyn das Fernglas. Darum also hatte er sie so schnell auf die Decke gezogen. Er beobachtete etwas oder jemanden, und sie sollte nicht gesehen werden. »Ein Polizeieinsatz?«, fragte Evelyn.

»Auf eine Art schon«, ließ er sie im Ungewissen. »Und was machst du am See? Du bist sicher nicht zum Baden gekommen, ist schon viel zu kalt dafür.«

»Ich will mich erinnern. Sagt dir der Name Renate Täubl noch etwas?« Sie bemerkte, wie der Körper von Justus Abeling sich plötzlich anspannte.

»Renate Täubl«, wiederholte er, seine Stimme klang rau. »Das ist lange her.« Er legte den Kopf schief. »Warum willst du dich an sie erinnern?«

»Vielleicht weniger an sie und umso mehr an Jörg Heider«, sagte Evelyn.

»Aha, Jörg Heider.« Die Augenbrauen wanderten nach oben.

Evelyn sah die störrische Falte, die nahe seinem Mund erschien.

»Schmucker Typ, absolut erinnerungswürdig.« Seine Miene verschloss sich.

»Schmuck und vergeben«, sagte Evelyn und wusste schon im selben Moment, dass Justus nichts mehr von ihm hören wollte.

»Hat dich das interessiert, dass er vergeben war?« Die Frage wurde abgeschossen wie ein Pfeil. Eine Antwort war nicht erwünscht. Justus Abeling begann, demonstrativ im Picknickkorb herumzukramen. »Wir sehen uns dann, Frau Bürgermeister.« Die Stimmung hatte sich verändert. Die Erwähnung von Jörg Heider hatte sie abgekühlt.

»Bist du taub, Justus? Mach dich nass, bevor alles in der Tüte durchgeweicht ist«, hallte es über den See.

Evelyn stand langsam auf, strich ihren Rock glatt, wünschte Justus einen erfolgreichen Tauchgang, drehte sich um, lief die paar Schritte durch den Wald zu ihrem Fahrrad und schob es auf den Weg zurück.

Zwei Männer auf der Jagd nach einer Tüte im See. Viel Spaß.

Natürlich würden Evelyn und der Polizeipressesprecher sich bald wiedersehen, der nächste offizielle Termin stand womöglich schon in ihrem Terminkalender. Aber hatte er sein Interesse an ihr gerade nur vorgespielt, weil er befürchtete, Frau Bürgermeister würde ansonsten auf die Idee kommen, unangebrachte Fragen zu stellen?

Verdammt, Justus Abeling. Raus aus meinen Gedanken!

Als würde ihr das Schicksal bei der Erfüllung dieses Wunsches behilflich sein wollen, kam ihr eine Frau auf einem etwas klapprigen Rad von der anderen Seite des Kögelweihers entgegen und bog auf den Rindegger Weg ein. Sie senkte den Kopf, war aber nicht schnell genug. Evelyn hatte sie erkannt und Margarete Täubl im umgekehrten Fall die Erste Bürgermeisterin Nesselwangs wahrscheinlich auch.

Renates Mutter wohnte im örtlichen Seniorenheim, einige sagten von ihr, sie sei ein wenig verwirrt. Pures Hörensagen, weil Evelyn Margarete nicht kannte. Gerade hatte die ältere Frau auf Evelyn einen ziemlich orientierten, normalen Eindruck gemacht. Gleich darauf war sie verschwunden, wahrscheinlich hatte sie einen kürzeren Weg zurück zum Seniorenheim genommen. Sie war Wirklichkeit gewesen, kein Trugbild.

Der leichte Wind fuhr durch Evelyns Kurzhaarfrisur. Sie ließ die winzigen Ortschaften hinter sich und passierte bald das Ortsschild von Nesselwang. Bergab nahm sie diesmal den Radweg an der Straße und wählte dann die Abkürzung in Richtung Friedhof.

Wieder schob sie das Fahrrad, diesmal über Stock und Stein, einen Feldweg entlang, über einen improvisierten schmalen Steg aus längst nicht mehr glänzendem Aluminium. Seitlich über ihr verliefen die Bahngleise. Wenn ein Zug darüberbretterte, sollte man sich besser woanders befinden. Aber gerade bretterte nichts. Es war still, auf der gegenüberliegenden großen Wiese stand eine neugierige Kuhherde hinter einem Weidezaun.

Evelyn hatte die Rückseite der Friedhofskapelle des Heiligen Michael im Blick, bevor sie, oben am hinteren Friedhofstor angekommen, das Rad an die Mauer stellte. Aus ihrer Handtasche kramte sie den kleinen Schminkspiegel. Auf ihrem Kopf herrschte ein blondes Durcheinander, aber wenigstens klebte die Wimperntusche noch da, wo sie hingehörte, und nicht unter ihren Augen.

Als sie durch die kleine Kapellenpforte ging, drangen ihr laute Stimmen entgegen.

Im Aussegnungsraum standen zwei Särge nebeneinander. Die Verstorbenen sahen auf ihren Satinkissen mit den über der Brust gefalteten Händen friedlich aus, während die aufgebrachten Angehörigen polterten und schimpften. Die Ehefrau des Mannes meinte, so ginge das nicht, die Dame müsse raus. Die Bezeichnung der zweiten Toten klang aus ihrem Mund wie ein Schimpfwort. Der Ehemann derselben strich ihr zärtlich über das Haar und hielt dagegen, seine Leni sei zeitlebens eine wunderbare Frau gewesen, aber der Joschi habe sich einiges rausgenommen. Wenn überhaupt einer, dann müsse er den Raum verlassen. Ein ausgestreckter Wurstfinger und ein bitterböser Blick unterstrichen die Forderung.

Evelyn betrachtete die Szene aus der Distanz. Zwei Ehepartner fochten einen Kampf aus. Der Tod verhieß für diese nur selten das Ende. Was sich im Leben der Verstorbenen ereignet hatte, blieb für sie weiterhin präsent. Bis … niemand mehr übrig war?, fragte sich Evelyn. Aber das konnte dauern. Nicht selten übertrug sich ein Krieg mitsamt seiner Bitterkeit von einer Generation auf die nächste. Ein Erbe, das niemand brauchte und niemandem diente.

Ein bisschen Vernunft und keine auf die Goldwaage gelegten Worte täten gut.

Evelyn würde den Teufel tun und sich mit den beiden in der Kapelle auseinandersetzen.

Wenn sie ein Alibi für ihre Anwesenheit brauchte, hatte sie eins – das Familiengrab. Und ein paar Kannen Wasser würden ihm bestimmt auch nicht schaden.

Das Grab der Familie Eberius lag weiter unten auf dem Friedhof. Im oberen Abschnitt befanden sich die Grabstellen der ältesten Familien im Ort.

Diesmal waren keine überfallartigen Bilder der Auslöser, sondern ihre Begegnung mit Margarete, die Evelyn an das Grab mit dem Engel denken ließ.

Die Familie Täubl und die Firma »Täubl Maschinen und Metallbau« gab es noch immer. Der Name und eine alte Frau, die allen Unwägbarkeiten getrotzt hatte, waren geblieben. Und wie es aussah, trotzte Letztere noch immer.

Der Betrieb, den der Vater von Margarete Täubl, Renates Großvater, aufgebaut hatte, war schon immer einer der größten Arbeitgeber der Region gewesen. Irgendwann war die Firma, deren Gebäude sich früher im Ort befunden hatten, ins neu angelegte Industriegebiet umgezogen.

Der Mord am Kögelweiher hatte damals so einiges verändert. Renates Vater war nur wenige Jahre später gestorben, sein schwaches Herz, wurde behauptet. Besaß Margarete mehr Stärke? Und wie viel davon brauchte man, um den Tod eines Kindes zu verkraften?

Die Heiders waren fortgezogen. Ihr Sohn, ein Mörder. Sie hatten gewusst, dass das Gerede nie aufhören würde.

Evelyn stand vor dem Grab der Täubls. Ein Engel mit ausgebreiteten Flügeln, der über die Verstorbenen zu wachen schien. Irgendwann hatte ihn ein Blitz getroffen, und obwohl sich ein Riss über seine Wange zog, schaute er noch immer wohlwollend von seinem Sockel hinab. Die Engelsflügel warfen lange Schatten auf ein kleines verwildertes Grabgrundstück nahe der Mauer.

»Er ist zurückgekommen«, sagte jemand.

Evelyn zuckte zusammen. »Himmel.« Sie schnappte nach Luft.

Hinter ihr stand Karlheinz Meier, der Friedhofswärter. An seinem Arm baumelte ein Korb. Evelyn verkniff es sich, hineinzuschauen.

Meier machte stets einen gemütlichen Eindruck. Manche hielten ihn deshalb für etwas schwerfällig, aber Evelyn hatte den dicklichen Mann schon des Öfteren in einem der ausgehobenen Gräber herumhüpfen sehen. Der ehemalige Gärtner war flink und behände wie ein Eichhörnchen.

»Karlheinz, es sind auch schon Leute vor Schreck tot umgefallen«, beklagte sie sich.

»Nicht dass ich wüsste. Aber passieren könnte es. Ich hab ihn heute früh gesehen«, sagte er. »Obwohl Geister doch eigentlich keinen Morgennebel mögen. Vielleicht ist er ja doch real.«

Sie verstand kein Wort. »Wen hast du gesehen?«

»Den, der eigentlich da drin liegen sollte.« Meier deutete auf das kleine Grab. Der Stein war grau, unscheinbar, als wäre es dem, der ihn dorthin gesetzt hatte, lieber gewesen, er würde von niemandem bemerkt werden. Wenn da irgendwo ein Name stand, dann hatte der Zahn der Zeit mächtig an ihm genagt.

»In dem alten Grab?«

»Es ist so alt wie der Selbstmord, der dem grausigen Mord folgte.«

»Jörg Heider?«, fragte Evelyn. »Jörg Heider liegt auf unserem Friedhof?«

»Irgendwo muss er ja liegen. Seine Familie wohnte oben an der Riese.«

Evelyn erinnerte sich wieder daran. »Aber dass die beiden Gräber so nah beieinanderliegen.«

»Warum denn nicht?« Meiers Schulterzucken versetzte den Korb an seinem Arm in Bewegung. »Immerhin scheint für ihn nie die Sonne, dort gibt es nur Schatten.«

Wenn seine Worte philosophisch klingen sollten, ging der Plan auf. Evelyn fiel vor allem die Trostlosigkeit von Gras, Gestrüpp und einer Distel auf. Das alles sprach Bände: Diesen Toten wollte man vergessen. Sie aber wollte etwas anderes. Die Erste Bürgermeisterin hatte damit begonnen, in ihren Erinnerungen zu graben.

»Pfarrer Winkler war nicht zufällig da?«, fragte Evelyn. Über Geister im Morgennebel wollte sie nicht reden.

»Sollte der nie wieder auftauchen, würde es einigen Leuten in der Gemeinde gefallen.« Meier grinste breit. »Er hat sich hier nicht blicken lassen. Im Moment ist das auch nicht ratsam, im Aussegnungsraum beharken sich die Bachhuber und der Eichenseer, vielleicht läutet am Ende des Tages die Sterbeglocke noch für zwei andere. Was dann darauf zurückzuführen sein wird, dass die Verstorbene mit dem Verstorbenen eine Liebesbeziehung hatte. Die beiden wollten zusammen verschwinden. Nicht gestern«, erklärte Meier, »sondern vorvorgestern. Ist doch so, es wird erwartet, dass man sein Wort hält. Aber vorvorgestern war auch ein Eheversprechen noch eine Verpflichtung.«

Vor Evelyns geistigem Auge entstand ein gruseliges Bild, in dem die gesamte Dorfgemeinschaft die Wortbrüchigen mit Knüppeln und bösen Worten verfolgte, die Person, die das Amt des Bürgermeisters besetzte, an der Spitze der Flüchtenden.

»Du hast gar nicht erst geheiratet, oder?«, wollte Meier wissen.

»Ich?«, fragte Evelyn.

»Ja.« Er wartete auf ihre Reaktion. Meier wollte es genauer wissen.

Was war das heute? Der Tag der sprechenden Blicke? »Nein«, gab sie eilig zurück, bevor er noch ihre Gedanken erraten könnte. Was für ein Unsinn! »Ich habe keinen Mann, aber ein Kind. Undenkbar, und das ist nicht vorvorgestern passiert«, sagte sie. »Ben ist bei einem Unfall gestorben, zum Heiraten sind wir nicht mehr gekommen.« Eine Lüge, die ihr mittlerweile leichtfiel, sie hatte sie schon oft erzählt. Ben hatte ihr die Frage nie gestellt, auch keine andere, was sie betraf, und Evelyn hatte keine Gelegenheit mehr gehabt, die Wahrheit herauszufinden.

3

Wenn no alle Leit wäret, wie i sei sott
Oder: Wenn nur alle Leute wären, wie ich sein sollte

Wenn Evelyn Eberius nicht gekommen wäre, hätte Justus Abeling alles mitverfolgen können. Dann wüsste er jetzt auch, wer die Tüten im Kögelweiher verschwinden lassen wollte. Justus vermutete, die Person würde vielleicht noch mehr entsorgen. Die erste Tüte war von einem Angler aus dem See geholt worden. Eine böse Überraschung. Völlig ahnungslos war Justus morgens in die Dienststelle gekommen, und jemand hatte etwas von einem komischen Anruf erzählt. Eine Person sollte Dinge in den Kögelweiher schmeißen.

Offenbar war ein Angler, der sich genug über die Verschmutzung des Sees ärgerte, in diesen gewatet und hatte ihnen das Corpus Delicti gleich ins Büro gebracht.

Die mit Steinen beschwerte, verschnürte Tüte, aus der noch immer der halbe Kögelweiher lief, wurde von einem zum anderen Beamten gereicht. Niemand interessierte sich besonders dafür, das Zeug war einfach nur nass und roch fischig.

Justus’ Schreibtisch war der letzte in der Reihe gewesen, auf ihm war die Tüte liegen geblieben. Schließlich hatte er die Umwicklung gelöst, sich Handschuhe übergestreift und hineingefasst. Zum Vorschein kamen Bilderrahmen, Zeitungsausschnitte und Fotografien. Ihm wurde kalt, als er die Gesichter darauf sah. Am liebsten hätte er alles wieder in die Tüte gestopft. Er wünschte sich, sie wäre unentdeckt geblieben. Aber nun lag sie vor ihm, und er wusste, dass er die Sachen nicht einfach in den Müll werfen konnte. Genauso wenig, wie das die Person gekonnt hatte, die sie dem See anvertraut hatte.

Justus würde alles mit nach Hause nehmen, so sein Entschluss, und den Kollegen etwas Passendes erzählen. Da die Tüte verschnürt gewesen war, dürfte niemand außer ihm einen Blick hineingeworfen haben.

Was stimmte, doch unglücklicherweise kam der Angler zurück, um sich zu erkundigen, was gefunden worden war und ob man etwas gegen diesen Dreckspatz unternehmen würde. Hatte der Mann vielleicht schon den Tüteninhalt inspiziert, nachdem er das Paket aus dem Wasser gefischt hatte?

Das sei Justus Abelings Fall, hieß es in der Dienststelle, begleitet vom Lachen der Kollegen. Der Angler kapierte den Witz nicht. Der Pressesprecher war ein reiner Kommunikationsbeauftragter. Normalerweise bestanden seine Fälle aus Mitteilungen, Stellungnahmen, Interviews. Er war am Einsatzort anwesend und hatte sich um die Öffentlichkeitsarbeit zu kümmern.

Wenn etwas in dieser Sache für Justus Abeling sprach, dann, dass der Kögelweiher zur Gemeinde Eisenberg gehörte. Der Pressesprecher hatte dort ein Apartment in einer Pension; mit Blick auf Schloss Neuschwanstein. Kein Blick zurück auf seine Scheidung.

Reden gehörte zu seinem Job, und die Kollegschaft war der Ansicht, er würde das mit dem aufgeregten Angler Erwin Päckler schon erledigen.

Zumindest konnte Justus den Mann beruhigen. Er erzählte ihm, wie wichtig Wachsamkeit sei und dass die Polizei ohne Mitbürger mit Eigeninitiative wie ihn keine Chance habe. Er schmierte dem Mann viel Honig um den Bart, den dieser nicht hatte. Aber irgendwann kniff sogar der misstrauisch die Augen zusammen, und Justus verstummte.

»Was war denn jetzt eigentlich in der Tüte?«, fragte er. »Ich hab ja bloß die Schnur gelockert und kurz reingespitzt.«

Neugier war nicht zu unterschätzen, »kurz reingespitzt« konnte alles Mögliche bedeuten. Justus beschloss, einigermaßen bei der Wahrheit zu bleiben, falls sich der Ausdruck nur als nette Umschreibung herausstellen sollte. »Jemand hat sein Leben entsorgt. Seine Erinnerungen. Für die Polizei nicht besonders interessant. Wir werden die Sachen wahrscheinlich zurückgeben, aber derjenige muss mit einem Bußgeld wegen unerlaubter Abfallentsorgung rechnen«, sagte er.

»Wusste derjenige denn nicht, dass das Wasser vom Weiher in jedem Spätherbst abgelassen wird?«

Eine berechtigte Frage, dachte Justus, aber zu dieser Jahreszeit hätten sich Schlamm und Schlick die Tüten mit einiger Sicherheit schon einverleibt.

»Ich bin ja nicht jeden Tag draußen, aber falls ich ihn noch was reinschmeißen sehe, soll ich etwas tun?« Die Augen des Anglers funkelten unternehmungslustig.

Aber gerade so jemanden wie Päckler konnte Justus nicht gebrauchen. Einen eifrigen Helfer. »Sollten Sie ihn beobachten, rufen Sie mich an.« Er kramte eine seiner Karten aus der Schreibtischschublade und versprach: »Wir kümmern uns darum.« Anschließend ging er mit dem Angler noch einmal alles durch. »Sie haben also gesehen, dass jemand etwas in den See geworfen hat, aber Sie haben die Person nicht erkannt?«

»Ja … nein. Meine Augen sind nicht mehr so gut, aber die orange-blaue Einkaufstüte war ja nicht zu übersehen. Ich sitze oft am Kögelweiher und halte mein Gerät ins Wasser. Manchmal beißt einer.«

Aua!, dachte sich Justus Abeling. Den Inhalt der Tüte, die da unversehens auf seinem Schreibtisch gelandet war, schaute er sich noch am gleichen Abend genauer an. Aufgeregt und ein wenig ängstlich, was da alles zum Vorschein kommen würde. Als hätte man ihn auf das Pferd eines Karussells gesetzt, das ihn in eine Zeit zurückgaloppierte, in der er sich abgemüht hatte, erwachsen zu werden.

Renates Lachen hatte Justus schon immer verrückt und glücklich gemacht. Doch sie hatte nichts an ihm gefunden und sich nach einem einzigen Kuss schon wieder anderweitig orientiert. Ein Kuss sollte eigentlich zu vergessen sein, aber das hatte er nie wirklich geschafft. Genauso wenig, wie er es geschafft hatte, über die Angelegenheit zu lachen.

Seine Hände zitterten, als er über ihr Gesicht auf dem Foto strich. Sollte er die Bilder zum Trocknen aufhängen? Aber den Gedanken ließ er gleich wieder fallen. Fanni Geiger, seine Pensionswirtin, schnüffelte zwar nicht herum, aber das wäre nicht einmal notwendig, wenn etwas sich so offensichtlich vor ihrer Nase befinden würde. Und das war seine Schuld: Justus hatte sie gebeten, hin und wieder einen Blick auf seine Pflanzen zu werfen, die ohne Fannis Pflege ganz sicher nicht mehr am Leben wären.

Die Schrift auf der Rückseite der Bilder war verwischt. Das Labor könnte die Worte sicher entziffern, aber Justus wollte sich nicht an sie erinnern.

Er entdeckte ein Bild, auf dem Renate seitlich hinter ihm stand, ihm frech die Zunge herausstreckte und auf etwas deutete. Ausgelassen. Wahrscheinlich hatte Heike Bayerlein, Renates beste Freundin, das Foto damals aufgenommen. Justus schaute direkt in die Kamera, hatte rote Flecken im Gesicht und sah blöd aus. Jetzt lachte er über seinen Anblick.

Er hatte lange gebraucht, um dieses Sie-will-mich-nicht-Gefühl abzustellen, um zu kapieren, dass sie nichts für ihn empfand. Es hatte gutgetan, Renate Täubl irgendwann einen der hinteren Plätze in seiner Erinnerung zuzuweisen. Sie war Gift gewesen, und Justus hatte das Gefühl gehabt, langsam an ihr zu sterben.

Er wusste, was er mit den Fotos machen würde – und diese Idee war um Welten besser, als sie zum Trocknen aufzuhängen. Er würde jedes davon mit einer scharfen Messerklinge unkenntlich machen, sodass nichts mehr darauf zu erkennen wäre. Was mit den Bildern letztlich passieren würde, ginge ihn dann nichts mehr an. Aber er hatte nicht erwartet, dass sich der Angler erneut mit der Nachricht melden würde, es gebe wieder so eine Tüte.

Am nächsten Tag hatte er am frühen Nachmittag auf Justus’ Handy angerufen. Seine Augen waren noch immer schlecht, sodass er diesmal nur ungefähr hatte sagen können, wo das Ding entsorgt worden war. Erich Hirschler hatte Justus angeboten, ihn zum See zu begleiten. Er hatte eine Woche Urlaub und wollte sowieso zum Fischen. So würden sie sich eben gemeinsam amüsieren, hatte der Kollege grinsend gesagt.

Als Evelyn Eberius am Kögelweiher auftauchte, lagen Hirschler und er schon den zweiten Tag auf der Lauer, um dem Übeltäter auf die Spur zu kommen. Sie hofften, die Person würde ein weiteres Mal etwas in den See schmeißen. Diesmal hatte Justus sogar an ein Fernglas gedacht.

Es wäre der Tag gewesen, an dem er das Gesicht der Person, die die Tüten entsorgte, hätte sehen können, doch die Erste Bürgermeisterin brachte ihn aus dem Konzept. Seine Empfindungen für sie waren widersprüchlich, aber vielleicht hatten ihn auch nur die verdammten Fotos so durcheinandergebracht.

Einerseits versuchte er Evelyn loszuwerden, andererseits wollte er sie festhalten. Justus versank statt in ihren Augen in dem See und genoss es. In seiner Vorstellung ging er noch weiter, und so, wie sie ihn anschaute, sie vielleicht auch.

Dann erwischte sie ihn kalt mit ihrer Frage nach Renate Täubl. Wusste sie etwas, und was hatte es mit ihren Bemerkungen über Jörg Heider auf sich?

Heiders Gesicht hatte Justus auf den Bildern sorgfältig mit dem Messer abgekratzt, seine Züge, vor allem sein Grinsen, beseitigt. Er war gut aussehend gewesen, mit einem Lächeln, das immer einen Hauch überheblich gewirkt hatte. Keiner der Spurlosen, sondern einer, der Eindruck hinterließ. Die Jungs hassten Heider dafür, die Mädchen versuchten es bei ihm und waren sauer, weil sie keine Chance hatten.

Justus wusste es nicht, doch was er in Evelyns Blick gesehen hatte, legte die Vermutung nahe, dass sie ihre Chance bekommen hatte. Er hatte auf diese Entdeckung empfindlich reagiert. Eigentlich unglaublich, Heider schaffte es selbst nach seinem Tod noch, dass Justus sich ungenügend vorkam.

Erst Hirschlers Schrei holte ihn in die Wirklichkeit zurück, und Evelyn verschwand schneller, als er reagieren konnte.

Er hätte sich in Bewegung setzen, sich vorher noch bei ihr entschuldigen und sie bitten sollen, mit ihm essen zu gehen. Er hätte irgendetwas tun sollen. Heider hatte doch längst verloren, oder?

Justus Abeling wusste nicht, was er unternehmen sollte, um Erich Hirschler wieder loszuwerden, aber er wusste genau, dass er heute nichts vom Seegrund an die Oberfläche befördern würde. Er würde die Luft anhalten und sich Gedanken machen; noch ein- oder zweimal hinuntertauchen. Die umherschwebenden Schlingpflanzen, die Hüter der orange-blauen Einkaufstüte, schienen ihn zu beobachten. Irgendwie passte alles. Renate war hier draußen gestorben. Doch wie viele Erinnerungen an sie wollte dieser Mensch entsorgen? Es machte ganz den Eindruck, als würde derjenige sich nur Stück für Stück von ihnen trennen wollen.

Justus hatte die zweite Tüte, von der der Angler berichtet hatte, noch nicht entdeckt. Und im Beisein des Kollegen Hirschler würde er sie auch ganz bestimmt nicht finden. Seine Finger griffen immer wieder in den Schlamm, wühlten den Boden auf, um irgendeine Aktion erkennen zu lassen.

Die Fotos, die sie bisher hatten, verrieten nicht allzu viel, Justus hätte mit ihnen gar nicht so gründlich umgehen müssen. Doch es gab etwas, das weit mehr Gewicht haben könnte: Renates Tagebuch.

Zum Glück hatte Renate ihre Gedanken nicht gern geteilt. Außer ihm und ihrer ehemals besten Freundin Heike wusste vielleicht niemand, dass ein solches Buch existierte.

Justus hatte zufällig einmal gesehen, wie sie etwas hineinschrieb. Vielleicht hatte er es seltsam gefunden, dass ausgerechnet Renate Tagebuch führte. Merkwürdig war ihm allerdings ihre Frage ein paar Tage später vorgekommen. Sie hatte wissen wollen, wann ein Gefühl stark genug sei, um zwei Menschen für den Rest ihres Lebens zusammenzuschweißen, und ob es dann auch für einen dritten reiche. Kein Lachen, sie war vollkommen ernst gewesen. Damals hatte er nicht verstanden, was sie eigentlich von ihm hatte wissen wollen. Einige Zeit später schon. Das war das Ende seiner Schwärmerei für Renate gewesen – und das erste Vorzeichen ihres Todes.

Das Wasser im Weiher war nach seiner Aktion ungefähr so trüb wie seine Gedanken. Befand sich das Buch in dieser Tüte? Er musste sie später unbedingt finden. Renate hatte mit Sicherheit auch über ihn geschrieben, nur was? Sollte jemand anderer die Notizen finden, könnte es für ihn eventuell unangenehm werden. Justus ging die Luft aus, er tauchte wieder auf.

»Und?«, fragte Erich Hirschler.

Der Kollege ging Justus so was von auf die Nerven. »Nichts«, sagte er zum x-ten Mal. Natürlich, denn er war gestern Abend schon am See gewesen, um allein nach der Tüte zu tauchen. Und warum interessierte sich Hirschler überhaupt dafür, hatte der nicht eigentlich nur gediegen fischen wollen?

4

Alte Vögel sind schwer rupfe
Oder: Alte Menschen können recht eigen sein

Sie lebte schon seit zwanzig Jahren im Seniorenheim, aber so kam es ihr nicht vor. Eher länger.

Inzwischen war sie zu einer alten Frau geworden. Zum Glück war sie nicht gebrechlich oder dement wie einige der anderen Bewohnerinnen. Margaretes Verstand war noch sehr beweglich, auch wenn sie hin und wieder etwas anderes vorgab.

Es hätte nicht Nesselwang sein müssen, sie hätte auch andere Möglichkeiten gehabt, aber sie war geblieben. Vielleicht, weil sie sich hier weniger fremd fühlte.

Margarete hielt die Hand der anderen Frau und drückte sie leicht. Gemeinsam saßen sie auf ihrer kleinen Terrasse, schauten auf den Garten und den sich anschließenden Park und tranken Eistee. Links von ihnen schaukelten ein paar Unterhemden an der dünnen Leine hin und her, die Halterung der ausziehbaren Wäscheleine quietschte leise. Margaretes Blick fiel lieber auf ihre Unterhemden, als dass sie sich von Nachbarn beobachten ließ.

Eigentlich wäre es auch egal gewesen, denn über Johanna wusste hier niemand Bescheid. Und das war auch gut so, denn ihre Freundschaft hätte keiner verstanden. Johanna war nach ihr eingezogen. Ihr Haar war dunkler, als Margarete es in Erinnerung hatte, ohne die früheren sonnigen Strähnen, das Gesicht farblos, ohne einen Hauch von Make-up, ihr Blick gehetzt, als wäre der Teufel hinter ihr her.

Margarete hatte sie selbst nach all den Jahren, die vergangen waren, sofort erkannt. Die Zeitungen waren schließlich voll von ihren Abbildungen gewesen. Einige Ausschnitte mit Fotos in körnigem Schwarz-Weiß hatte sie sogar aufgehoben, hatte sie aber nicht benötigt. Damals waren sie sich oft im Ort begegnet, doch gekannt hatten sie sich zu der Zeit nicht wirklich.

Margarete sah wieder vor sich, wie sie bei Johannas Anblick bewegungslos mitten auf dem Gang verharrt war. Dann hatte sie eine Hand gehoben und sie auf ihren Mund gedrückt, weil ein komisches Geräusch aus ihrer Kehle drang. Johanna war stehen geblieben, ihre Lippen hatten gezittert, aus ihren Augen waren Tränen gequollen. »Es tut mir so leid«, hatte sie geflüstert.