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Inhalt

Vorwort

Abschied vom Euroland (Deutschland / Polen / Tschechien / Österreich / Slowakei / Ungarn / Rumänien / Bulgarien)

Durch die asiatische Steppe (Türkei)

Zu Gast im Orient (Türkei / Syrien / Libanon)

Grenzübertritt ohne Spuren im Pass (Jordanien / Israel / Ägypten)

Rekordversuch im Passatwind (Ägypten)

Verhaftung unter Spionageverdacht (Sudan)

Als Hochzeitsgast bei den Oromo (Sudan / Äthiopien)

Buschcamp im Löwenrevier (Äthiopien / Kenia)

Mit dem Turban durch die Hitze (Indien)

Ein Seidenhändler als Kunstmäzen (Indien)

Bei Reisbauern im Himalaja (Indien / Nepal)

Tropendschungel und Geisterhäuschen (Thailand / Malaysia / Singapur)

Als Riese auf der Tropeninsel (Indonesien)

Zwischen UN-Jeeps und Bürgerkriegsflüchtlingen (Osttimor)

Motorisiert durchs Outback (Australien)

Weihnachten in der Wildnis (Australien)

Zwangspause in Ayacucho (Bolivien / Peru)

Überfall in den Anden (Peru)

Halsbrecherische Euphorie (Peru)

Zurück auf der Nordhalbkugel (Ecuador / Kolumbien)

Per Segeljacht durch die Karibik (Panama / Costa Rica)

Grenzposten im Dschungel (Nicaragua / El Salvador / Honduras / Belize / Guatemala / Mexiko)

»Welcome back to the western world« (USA)

Heimkehr in der Pferdekutsche (Großbritannien / Frankreich / Belgien / Niederlande / Deutschland)

 

Dank

Materialliste zum Zeichnen und Aquarellieren auf Reisen

Vorwort

Zwei Jahre nahm ich mir Zeit, mit den einfachsten Mitteln der Fortbewegung, Unterkunft und Dokumentation meiner Eindrücke die Welt näher kennenzulernen. Nach der Durchquerung von 42 Ländern und mit 25 000 Kilometern auf dem Fahrradtacho kehrte ich nach Deutschland zurück. Während dieser Weltumrundung entstanden etwa 200 Zeichnungen. Über ein Dutzend Reisetagebücher hatten sich mit Skizzen und Notizen gefüllt.

Die Gründe für dieses Abenteuer waren vielschichtig. Es reizte mich enorm, mich mittels eigener Körperkraft auf eine ruhige, respektvolle, ja beinahe bescheidene Art Fremdem zu nähern. Auch war ich überzeugt davon, dass es kaum möglich sei, authentischere Reiseerlebnisse zu erhalten als mit dem Fortbewegungsmittel Fahrrad. Gleichzeitig sollte die gleichförmige, ausdauernde Betätigung mir die Zeit und die Gelegenheit geben, darüber nachzudenken, welche Dinge mir im Leben wichtig sind, möglicherweise gewohnte Werte infrage zu stellen und neue Perspektiven zu entdecken. Wie auf früheren Reisen nahm ich auch für diese Tour Zeichenutensilien mit, um meine Eindrücke auf eine ebenfalls langsame und damit intensive Weise festhalten zu können. Ich startete nicht mit der Absicht, meine Reise in Form von Zeichnungen und Aquarellen zu dokumentieren. Auch hatte ich keine Internetseite, und selbst die kleine Digitalkamera kaufte ich mir erst unterwegs, nachdem ich von einem Zeitungsverlag gebeten worden war, regelmäßig Reiseberichte zu schicken.

Nach der Durchquerung Ungarns, Rumäniens und Bulgariens hatte ich mich an das Leben auf der Straße gewöhnt. Mein Selbstvertrauen wuchs mit jedem zurückgelegten Kilometer. Beeindruckt von der unendlichen Weite asiatischer Steppen und Wüsten, verließ ich immer öfter die befestigte Straße. Ich orientierte ich mich dann nur noch anhand meines Kompasses, vertraute Tag für Tag mehr meinen Instinkten und meiner Intuition und hörte auf meine innere Stimme.

Im Sudan versackten mir die Fahrradfelgen oft im weichen Sand der Sahara. Ich suchte nach sehr persönlichen Ausdrucksmöglichkeiten für die harten Hell-Dunkel-Kontraste dieser Mondlandschaft, der Kargheit aus Stein und Sand, und fertigte schließlich einen Zyklus von kleinformatigen Scherenschnitten. Um meinen Aufzeichnungen und Notizen ein einheitliches Taschenformat zu geben, schnitt ich mir vor Ort Papier zurecht und nähte daraus Notizbücher. Skizzen von pechschwarzen Nubiern in ihren schneeweißen Gewändern übertrug ich auf arabische Nummernschilder, die ich in der Wüste gefunden hatte.

Neben dem Schreiben eines Reisetagebuchs und dem Fotografieren von Gesehenem und Erlebtem wurde die künstlerische Dokumentation bald immer wichtiger für die Verarbeitung der permanent auf mich einströmenden Eindrücke.

Nach wenigen Monaten stellte sich ein fester Reiserhythmus ein. Während kurzer Radfahrstopps hielt ich die im Kopf entstandenen Bildideen in winzigen Kompositionszeichnungen fest und skizzierte interessante Details am Rande des Weges. Auch Gedanken notierte ich in Stichworten. Wenn sich nach ein paar Wochen solch ein Heft gefüllt hatte, zog ich mich für ein paar Tage in die Abgeschiedenheit eines Lagerplatzes zurück oder mietete mir in abgelegenen Städten ein Zimmer. Quasi hinter geschlossenen Türen übertrug ich die in meinem Kopfentstandenen bildhaften Erlebnisse auf den Aquarellkarton und setzte sie so in eine persönliche Bildsprache um. Mir war klar, dass das Malen mein Reisetempo weiter abbremsen würde, jedoch wollte ich die durchquerten Orte auf meine Art erleben und das Fremde mit allen Sinnen wahrnehmen. Mich für ein anderes Verständnis für Zeit zu öffnen war mir wichtig. Deshalb versuchte ich diese Entschleunigung bewusst wahrzunehmen, statt mit meinem Mountainbike Strecken- und Höhenrekorde brechen zu wollen.

Mit zunehmender Routine reiften während des gleichförmigen Tretens immer mehr Bildideen in mir, und so brauchte ich sie bald nur noch auf das Zeichenpapier zu übertragen. Ich fand es faszinierend, durch diese zeitlich aufwendige Methode in meinen Aufzeichnungen das Erlebte immer wieder auf das Wesentliche reduzieren zu müssen und mich so zu zwingen, Wichtiges von Unwichtigem zu trennen.

Recht spät, erst nach dem ersten Reisejahr, veröffentlichte ich mein Internettagebuch. Da ich ohne die Unterstützung durch Sponsoren gestartet war, freute ich mich, einen Teil der Reisekosten durch den Verkauf meiner Grafiken im Galerieteil der Internetseiten abdecken zu können. Nicht im Traum hatte ich beim Start der Weltumrundung an diese Art der Präsentation meiner Reise gedacht.

Vier Wochen nach Ankunft in meiner Heimatstadt wurden die ersten Ausstellungen von Aquarellen, die auf dieser Reise entstanden waren, in Norddeutschland eröffnet. Es war mir ein Bedürfnis, Schüler meiner ehemaligen Schule als Ehrengäste zum Vortrag über meine Reise ins Rathaus meiner Heimatstadt einzuladen.

Jens Hübner

Für meine liebe Karolin

Abschied vom Euroland

(Deutschland / Polen / Tschechien / Österreich / Slowakei / Ungarn / Rumänien / Bulgarien)

Es war schon ein eigenartiges Gefühl, kein Schlüsselbund mehr zu haben, Briefe per Codewort aus dem Kasten zu holen und die nächtliche Ruhe vor unliebsamen Zweiund Vierbeinern durch einen geeigneten Lagerplatz und durch Selbstvertrauen zu sichern. Ich war unterwegs, seit zwanzig Tagen. Gesund und munter wie ein Fisch im Wasser – durch das Radeln körperlich und seelisch gestärkt.

Ein Glücksgefühl durchströmte mich, als ich abends in der Sächsischen Schweiz die tschechische Grenze überquerte. Am nächsten Tag radelte ich gleich durch drei Länder: Tschechien –Deutschland – Polen. So klein ist die Welt …

Langsam gewöhnte ich mich an das Reisen. Ich lernte täglich, mit all der Ausrüstung umzugehen, die jetzt doch sehr strapaziert wurde. Am Kocher zum Beispiel wäre ich ein paar Tage zuvor fast verzweifelt. Einen ganzen Abend lang hatte ich ihn auseinander- und wieder zusammengebaut und nicht verstehen können, weshalb sich so eine störrische Gummilippe immer wieder vom Benzinpumpenkolben löste. Es war zum Haareraufen. Letztendlich fand ich heraus, wie sie dazu zu bringen war, in ihrer Position zu bleiben. Es war wohl doch keine fahrlässige Fehlkonstruktion des amerikanischen Herstellers, wie ich vorher in meiner Verzweiflung angenommen hatte.

Als ich, nachdem ich das tschechische Mittelgebirge hinter mir gelassen hatte, in Brunn im Hostel unter der Dusche stand, war ich richtig überrascht, was mir doch für Muskeln an den Beinen gewachsen waren. Die kannte ich sonst nur vom Anatomieunterricht während des Studiums oder von Rembrandts Rötelzeichnungen.

In das Radfahren hatte ich mich bald eingefuchst. Täglich kurbelte ich so zwischen siebzig und hundert Kilometer die tschechischen Berge rauf und runter und anschließend an der österreichischen und slowakischen Donau Richtung Südosten – oft gegen den Wind, ohne dass die Beine zu zittern anfingen. In den Bergen ging es häufig mit fünf Stundenkilometern den steilen Hang hinauf und mit über zehnfacher Geschwindigkeit wieder talwärts. Ab sechzig Stundenkilometern bremste ich auch bei übersichtlicher Strecke ab, denn die knapp drei Zentner ungefederter Masse konnten schnell zum Katapult werden, das mich in den Straßengraben befördern würde.

Mit dem Fahrrad war ich so weit ganz zufrieden. Einmal, an einem »Berg-Etappen-Tag«, wünschte ich mir nichts sehnlicher, als weniger Gewicht die Höhen heraufhieven zu müssen. »Wenn heute der heruntergefahrene, rissige Vorderradreifen seinen Geist aufgeben würde, wäre ich nicht böse«, dachte ich. »Da könnte ich einen der zwei neuen, ziemlich schweren Spezialreifen montieren und hätte weniger im Gepäck.« Mittags fing das Hinterrad an zu schlingern und signalisiertemir das baldige Ende des noch recht neuen, aber eben Nullachtfünfzehn-Mantels. Seither kutschierte ich nur noch einen Ersatzreifen in den Packtaschen durch die Weltgeschichte.

Der poröse Vorderradreifen versah weiterhin brav seinen Dienst. Ansonsten gab es täglich so unangenehme Kleinigkeiten wie die ungewollt springende Schaltung, knackende Pedalarme oder schleifende Bremsklötze. Ich wuchs innerlich immer ein kleines Stück, wenn ich das Problem richtig diagnostiziert und dann beseitigt hatte. Die Teilnahme am Fahrradreparaturkurs des Allgemeinen Deutschen Fahrradclubs hatte sich gelohnt. Uneingeschränktes Lob verdiente das Zelt. Egal ob es nachts im Gebirge empfindlich kühl wurde oder ich mir im Regen den Kaffee »indoor« kochen musste – es war praktisch, spartanisch und zuverlässig. Ich verließ mich voll darauf.

Eines Tages stellte ich es in einem ungarischen Sonnenblumenfeld auf. Als die Sonne untergegangen war und ich mich zum Schlafen legen wollte, stand plötzlich ein Jäger mit seinem Gewehr vor mir. Ich erschrak. Er sprach mich mit ernster Miene in der Landessprache an. Natürlich verstand ich kein Wort, lächelte ihn aber freundlich an und sagte: »Jó éjszakát!« Er nickte mir zu, antwortete mit »Jó éjszakát!« und ging. Ich war richtig verwundert darüber, dass er mich verstanden hatte. »Jó éjszakát!« heißt nämlich »Gute Nacht!«. Gut, dass ich während des Radelns etwas Ungarisch gelernt hatte.

Ein günstigerer Wind schob mich durch die ungarischen Mais- und Sonnenblumenfelder Richtung Südosten, und so konnte ich meinen eigenen Tagesrekord auf hundertfünfzig Kilometer pro Tag erhöhen. Bevor ich das Euroland mit den vertrauten Einkaufszentren von Lidl, Norma und OBI endgültig verließ, schlief ich auf einer tellerflachen Pusztawiese, die sich auch gut als Flugplatz geeignet hätte. Am nächsten Morgen überschritt ich an der Grenze zu Rumänien zum ersten Mal auf dieser Tour eine Zeitzone und bekam meinen ersten Einreisestempel.

Im Gegensatz zu den anderen Ländern, die ich bisher durchquert hatte, gibt es im Karpartenland noch uneingezäunte Pferde-, Kuh- und Schafherden. So manches Dorf mit all den Vierbeinern und dem Federvieh schien mir aus den russischen Märchenfilmen meiner Kindheit in die Realität versetzt worden zu sein: Pferdefuhrwerke, Ochsenkarren und sogar Schweinehirten gehörten zum Alltag, Ziehbrunnen waren in Benutzung und nicht touristische Dekoration. Klar, alle asiatischen und europäischen Autoproduzenten hatten neben dem einheimischen Hersteller Dacia auch ihre Produkte in Form von schicken, neuen Geländewagen und Mittelklasse-Limousinen übers Land verteilt, doch Pferde zu halten war hier noch nicht wie im Rest Europas zur kostspieligen Liebhaberei geworden.

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Überall in Osteuropa – wie hier in Rumänien – begegnen mir Menschen, die mit Pferd und Wagen durch die Lande ziehen; wie schon seit Generationen.

Das herrlich offene, weite Land mit den sich im Hintergrund ankündigenden Karpaten erinnerte mich an die kanadische Prärie bei Calgary, wo ich Anfang der 1990er-Jahre für ein Jahr studiert hatte. Einmal erlag ich der Versuchung, die Straße zu verlassen und einem ausgefahrenen Feldweg Richtung Süden durch das endlos scheinende Grasland zu folgen. So lernte ich schon an meinem ersten Tag in Transsilvanien die berüchtigten rumänischen Hütehunde kennen, denn der einsame Pfad endete an einem noch einsameren Anwesen. Ich sah Schweine, Hühner, Gänse und schloss daraus, dass dieses Gehöft bewohnt war.

»Wo in Rumänien Menschen sind, da sind auch Hunde«, schoss es mir noch durch den Kopf. Zu spät! Die Meute zottiger Hütehunde hatte mich entdeckt und stürzte bellend und zähnefletschend auf mich zu. Ich blieb wie angewurzelt stehen. Bevor der Größte des Rudels im Halbkreis um mich herumschleichen und sich in meine Radlerwaden vertiefen konnte, kamen zu meinem Glück Schäfer aus einer Hütte und pfiffen ihre vierbeinigen Wächter zurück. Wir stellten uns vor. John, der jüngere der beiden Männer, bewirtschaftete mit seinem Vater das Anwesen und hatte lange keine Gelegenheit gehabt, sein Schulenglisch praktisch anzuwenden. So begleitete er mich über Stunden und zeigte mir den Weg durch die Wiesen zum nächsten Dorf. Die Zeit verging schnell bei der Unterhaltung über die EU, Rumänien, unsere Familien. Zwei der kleineren Hunde, die er nach den beiden russischen Flüssen Wolga und Don benannte, folgten uns ausgelassen umhertollend.

Die kläffenden Vierbeiner hier fielen mir ziemlich auf die Nerven. Es gab kaum ein Dorf, in dem ich nicht von ihnen attackiert wurde. Manchmal war es eine ganze Meute von einem halben Dutzend bunt zusammengewürfelter Hundemischlinge, die mich wütend verfolgte. Deshalb hatte ich es mir zur Angewohnheit gemacht, vor der Einfahrt in kleine, abgelegene Ansiedlungen immer ein paar Steine für den Notfall bei mir zu haben.

Auf den Rat eines Bekannten hin besuchte ich einige Städte Siebenbürgens, wo zum Teil noch Deutsch gesprochen wird. In Hermannstadt, dem heutigen Sibiu, kaufte ich Ansichtskarten in der Friedrich-Schiller-Buchhandlung und erlebte ein beeindruckendes Mittelalterspektakel in der sanierten Altstadt. Bei der Annäherung an den Ort zeichnete sich das Respekt einflößende Fogarasch-Gebirge am Horizont ab, vor der Wende die ultimative Herausforderung für so manchen Trabbi-Fahrer, wie ein Freund mal bemerkte.

Nach einem entspannten Wochenende wollte ich meinen ersten wirklichen Pass auf dieser Reise in Angriff nehmen. 2047 Höhenmeter – ich war aufgeregt, konnte schlecht schlafen und wechselte noch einmal die verschlissenen Bremsbeläge. Da das linke Pedal trotz Öl nicht aufhören wollte, leichte Klick-Geräusche von sich zu geben, kaufte ich hochwertige Neuteile in einem der beiden sehr gut ausgestatteten Outdoor-Läden der Stadt. Die überaus freundliche, Englisch sprechende Verkäuferin war mir bei der Montage behilflich.

Tja, und dann brach ich im Morgengrauen, als in der Herberge noch alles schlief, auf. Der Junge an der Rezeption hatte mir am Abend zuvor noch geraten, bei der Bergrettung zu übernachten, falls ich in Schwierigkeiten geraten sollte. Mittags war ich am Fuß des Gebirges. Irgendwann begann es zu regnen. Ich radelte in den Wolken immer höher. Ein Schäfer, schon weit oben, zeigte auf mich und rief fragend: »German?« Ich nickte. Er schüttelte lächelnd den Kopf. Der kalte Regen wurde stärker. Da ich mich den Hang hinaufkämpfte und dabei emsig bewegte, fror ich nur wenig in meinen kurzen Radlerhosen und dem ärmellosen Trikot. Gegen sechs Uhr abends hatte ich unter der durch hochgehaltene Daumen gezeigten Bewunderung rumänischer Dacia-Fahrer den Pass erreicht.

Der darauffolgende Tunnel war durch die Nässe sehr rutschig, voller Schlaglöcher und vom spärlichen Licht der Fahrradlampe nicht zu erhellen. Ich versuchte, mich an den roten Lichtern vorausfahrender Fahrzeuge zu orientieren. Zum Glück war der Bergdurchbruch nur einen knappen Kilometer lang, und es ging bergab. Bei der Talfahrt aus über 2000 Metern Höhe und einer Temperatur um die sechs Grad Celsius wurden die Hände trotz übergestreifter Regenbekleidung vor Kälte bald steif. Es erschien mir zu riskant weiterzufahren. Deshalb entschloss ich mich, das Nachtquartier noch in der baumfreien Zone des Hochgebirges aufzuschlagen.

Mit der Aussicht auf ein fantastisches Panorama am kommenden Morgen und in der Hoffnung, dass die Wölfe und Bären, die es in den Karpaten zu Tausenden gibt, nachts eher im Wald umherstreifen würden, nahm ich die Packtaschen mit klammen Fingern vom Rad. Wenig später heizte der Benzinkocher das Zelt, und ich trank heißen Tee. Den abendlichen Regen löste ein nächtlicher Sturm ab, er bescherte mir eine unruhige Nacht. Zweimal prüfte ich mit der Taschenlampe im Dunkeln die Abspannung des Zeltes. Alles schien in Ordnung. Die Heringe steckten fest in der Grasnarbe, die Leinen zeigten keine Scheuerstellen, und auch die Nähte hielten dem Winddruck stand. Was würde ich machen, wenn mir der Sturm doch das Zelt zerriss? Wo war eigentlich die Bergwacht? Irgendwann schlief ich ein.

Als es dämmerte, ließ der Wind nach. Schnell packte ich alles zusammen, umins schützende Talzurollen. Plötzlichhörteichein Trommeln auf der Zeltplane. Doch ich konnte keine Regentropfen erkennen. Stattdessen weiße Eiskörner – Graupel! »Nichts wie weg hier, eh es mehr wird«, schoss es mir durch den Kopf, und ich schwang mich auf das Rad. Bald zeigte mein Fahrradcomputer eine Höhe von nur noch 1500 Metern an. Da sah ich von der Serpentinenkehre auf ein Hausdach mit einem aufgemalten roten Kreuz. Davor ein Hubschrauberlandeplatz. Die Bergretter hatten weit unter mir ihr Quartier. Ich winkte ihren erstaunten Gesichtern zu und sauste weiter ins Tal.

Von den Karpaten ging es durch die Erdölfelder in der Walachei, wo ich mich im Gras sitzend mit Zigeunern über das Woher und Wohin austauschte, nach Bukarest. Als ich ein paar Tage später an der Grenze zu Bulgarien einen Händler nach dem Weg zur Fähre über die Donau fragte, schenkte er mir zum Abschluss unseres kurzen Gesprächs eine Flasche Mineralwasser aus seiner Kühltruhe. Ich war sehr gerührt von diesem herzlichen Abschied. Von einem Land, das für uns in Deutschland doch eher mit nicht so positiven Dingen assoziiert wird.

In Varna, am Schwarzen Meer, mietete ich für zwei Nächte ein Zimmer bei einer sehr netten alten Dame. Ich wunderte mich nicht schlecht, als abends im engen Flur der Altbauwohnung zwei Mountainbikes standen. Am kommenden Morgen lernte ich Doris, eine frisch promovierte Biologin, und Stefan, einen Informatiker, kennen. Das Paar war auf dem Weg von Dresden nach Indien. Da wir in dieselbe Richtung wollten, beschlossen wir, bis Istanbul gemeinsam weiterzufahren.

Zu dritt radelten wir entlang der bergigen bulgarischen Küste, kämpften uns gemeinsam die Steigungen hinauf und badeten im Meer. Nachdem wir die türkische Grenze passiert hatten, ging es Richtung Süden in der Hoffnung, dass der starke Gegenwind nachlassen möge und die endlosen Hügelketten einer flachen Strandstraße entlang des Marmarameeres weichen würden. Allabendlich, kurz vor Sonnenuntergang, schoben wir erschöpft unsere Räder durch Dornengestrüpp, hartes, gelbes Gras oder staubigen, grauen Sand hinter windgeschützte Büsche zum nächtlichen Lagerplatz.

Die Landschaft war geprägt vom Gelb und Ocker verblühter Sonnenblumen- und erntereifer Maisfelder. Ich fragte mich, ob es an dem vergehenden Sommer lag oder dies schon der Übergang vom europäischen Grün zu einem asiatischen Gelb war. Immer mehr Pflanzen bekamen Dornen, die sich leider auch durch meinen Zeltboden bohrten. Kletten und Stacheln blieben ständig an der Kleidung hängen.

Durch die asiatische Steppe

(Türkei)

Kurz vor Istanbul musste ich das Flickzeug aus der Werkzeugtasche holen. Zwei Dornen hatten die Panne verursacht. Rasch demontierte ich mit Stefans Hilfe das Rad und behob den Schaden. Während dieser ungewollten Pause kam ein junger Imbissbetreiber aus der Nähe zu uns herüber, staunte über die drei bepackten Räder und fragte nach dem Woher und Wohin. Dann verschwand er zu seinem Stand, um kurze Zeit später wiederzukommen, uns drei Sitzhocker zu bringen und Tee zu servieren, ohne im Entferntesten eine Gegenleistung zu erwarten. Diese Gastfreundschaft erlebten wir in der Türkei oft. Ob wir jemanden nach dem Weg fragten oder um Hilfe beim Kauf der richtigen Telefonkarte baten, immer nahm man sich Zeit, war höflich und freundlich.

Tagelang waren wir auf den autoverstopften Schnellstraßen der Vororte gegen den Wind gestrampelt, jetzt kamen wir endlich in das Zentrum der sich immer mehr ausbreitenden Großstadt Istanbul. Die Reiseführer schwanken in der Angabe der Einwohnerzahl zwischen zehn und sechzehn Millionen.

Vom Flughafen holte ich meine Freundin Nicole ab. Sie blieb eine Woche, um gemeinsam mit mir die Metropole am Bosporus zu entdecken und meinen Geburtstag zu feiern. Außerdem hatte sie spezielle Trinkflaschenhalter für die bevorstehende Syriendurchquerung im Gepäck.

Orte wie Istanbul sind so reich an Sehenswürdigkeiten, dass einige einfach zum Pflichtprogramm eines Erstbesuches gehörten, auch wenn ich eigentlich gar keine rechte Lust verspürte, sie zu besichtigen. Eines dieser unvermeidlichen touristischen Highlights ist der Große Basar. Auf diesem größten überdachten Marktplatz der Welt bieten Tausende Händler ihre Waren feil. Entsprechend viele Shuttle- und Reisebusse parkten rings um den 200 000 Quadratmeter großen Bau. Nach dem Durchschreiten eines der zwölf Eingangstore kam ich mir schnell vor wie auf der Cebit oder Hannover Messe, die ich aus geschäftlichen Gründen Jahr für Jahr besuchen musste.

Nicht, dass hier Highend-Elektronik oder der letzte Schrei des internationalen Maschinenbaus präsentiert wurde. Es waren vielmehr das Gedränge der Menschen und der permanente Versuch der Kontaktaufnahme zur Anbahnung eines Verkaufsgeschäfts, die in mir die Erinnerung wachriefen. Ich konnte einfach nicht in Ruhe das bunte, faszinierende orientalische Markttreiben beobachten. Ständig wurde mir der Blick von einem Sockenhändler, der seine Ware direkt vor mein Gesicht hielt, versperrt, oder es rief von hinten jemand: »Hello Sir, are you from Holland?« Natürlich verlief ich mich. Irgendwo hing an einer Säule ein abgewetzter Lageplan, auf dem die Himmelsrichtungen eingezeichnet waren, was mir in dem überdachten Markt wenig nutzte.

Nachdem ich genug Teppiche, Samtpantoffeln und Marken-T-Shirts gesehen hatte, stieg ich in die Straßenbahn und musste erschrocken feststellen, dass mein Telefon aus der Hosentasche verschwunden war. Voller Ärger erinnerte ich mich an den Knirps im Markt, der an mir vorbeigehastet war und mich dabei scheinbar aus Versehen angerempelt hatte. Er musste mir ganz klassisch das Handy aus der Hosentasche geklaut haben. Ich versuchte mich damit zu trösten, dass das Gerät schon einige Macken hatte und das Guthaben auf der türkischen Prepaid-Card nur noch für ein paar SMS reichte.

Ein paar Tage später verließ ich die Metropole, überquerte die Brücke über den Bosporus und war in Asien. Immer in Richtung Südosten radelnd, durchquerte ich die zentralanatolische Steppe. Mir kam, während ich die Landschaft betrachtete, eine Anekdote in den Sinn, die ich irgendwo gehört hatte: Ein Entdecker beschrieb seinem Herrscher anschaulich die Gegend, aus der er just zurückkam, indem er ein Blatt Papier zu einer Kugel knüllte und danach wieder auf dem Tisch glatt strich. Das entstandene Faltenrelief veranschaulichte dem König eindringlich die Topografie der neu entdeckten Länder. So strampelte ich schwitzend täglich mehrere Hundert Höhenmeter die Straßen und Pisten im Landesinneren rauf und runter, kämpfte dabei um jeden Tageskilometer. Ab und an stoppte ein Überlandbus auf offener Strecke und wollte mich mitnehmen. Ich lehnte immer ab, hängte mich aber ein paar Mal an die mit Saatgut beladenen Anhänger von Traktoren.

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Erstaunlich weit komme ich ohne Reifenpanne durch ganz Osteuropa. In der anatolischen Dornensteppe erwischt es mich umso mehr.

Abends war die Erschöpfung oft so groß, dass ich kaum das Zelt aufbauen mochte. Stattdessen setzte ich mich einfach hin, genoss erst einmal die abendliche Stille und hing meinen Gedanken nach. Ich nahm mir viel Zeit, um die Abendstimmung zu genießen. Immer wieder aufs Neue faszinierte es mich, wie die letzten Sonnenstrahlen die Bergkuppen in einen Goldton tauchten, bevor diese sich blau färbten – wie der Himmel sich von Orangerot zu Nachtblau änderte und die Sterne aufgingen. Vielleicht wohnte ich zu lange in der Großstadt, wo man so etwas kaum erlebt, da der freie Blick ständig durch die nächste hohe Häuserfront verstellt ist. Der volle Mond warf ein helles, kaltes Licht auf die nächtliche Steppe, und so kochte ich mir oft ohne Taschenlampe Nudeln oder Reis, gab Wurst, Tomaten, Zwiebeln und Knoblauch dazu und schlief nach dem Essen auf der Höhe ein. Dann störte mich weder das Schafglockengebimmel noch die irgendwo kläffenden Hunde.

Noch vor der Dämmerung wehte der Wind dann den Ruf des Muezzins vom Minarett einer weit entfernten Dorfmoschee über die baumlose Landschaft. Trotz der Morgenkühle kroch ich aus dem Schlafsack und zündete den Kocher an, um bei einem starken Kaffee wach zu werden. Unbedingt wollte ich das Tageslicht nutzen, um weiterzukommen. Trockene Grashalme, die ich in die Luft warf, zeigten mir an, ob ein Tag mit Gegenwind bevorstand.

Kam ich tagsüber durch kleine, abgelegene Orte und fragte nach dem Weg, scharten sich sofort die Männer des Dorfes um mich. Sie sprachen oft deutsch und gaben mir Brot, Tomaten und Wasser mit auf den Weg, wenn ich schon nicht bleiben wollte. Beinahe täglich wurde ich beschenkt. Mal waren es Straßenhändler, die fachmännisch eine Honigmelone aufschnitten und servierten, mal ein Tankwart, der mir kostenlos die Benzinflasche des Kochers füllte. Einladungen zum Essen und Tee lehnte ich meist ab, um die Gastgeber nicht in die prekäre Situation zu bringen, wegen mir den Ramadan, die Fastenzeit des Islams, zu missachten. Wenn jemand allerdings schon speisend an der Tafel saß und mich von der Straße winkte, ließ auch ich es mir schmecken. Hunger hatte ich als Radfahrer immer! Ab und zu standen Feigenbäume, die reife Früchte trugen, am Straßenrand. Dann konnte ich nicht genug von den süßen, klebrigen Köstlichkeiten bekommen.

Auf der Landstraße begegnete mir oft für Stunden keine Menschenseele. Diese Einsamkeit war ungewohnt, jedoch durchaus angenehm. Es gab nur das Summen der Reifen, den Wind und das allgegenwärtige, oft kilometerweit entfernte Läuten der Schafglocken. Ich konnte ungestört nachdenken, geriet ins Träumen, genoss die nur von dem endlos scheinenden Asphaltband durchzogene Landschaft, die Sonne und die Wolken. An die ungenaue Landkarte hielt ich mich schon lange nicht mehr, verglich nur noch größere Orte, um nicht allzu sehr vom Kurs abzukommen. Wenn die Straße zur Piste wurde und die Piste zum Feldweg, der dann auch irgendwann endete, schob ich das Rad über die Steppe, bis ich wieder auf eine Straße traf, die in meine Richtung führte. Das trockene, uneingezäunte Land war nahezu baumfrei, so konnte ich es kilometerweit überblicken und mich gut orientieren. Getreu dem geometrischen Prinzip, dass die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten eine Gerade ist, und gemäß dem Motto »Der Weg ist das Ziel« bewegte ich mich so immer weiter nach Südosten dem weit entfernten Horizont entgegen und freute mich schon auf das noch Tage entfernte Herbergszimmer mit Bett, Stuhl und Tisch.

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Ich liebe es, die scheinbar endlose Weite zu durchqueren, um irgendwo abseits der Piste auf einer Anhöhe mein Zelt aufzuschlagen.

Ein paar Hundert Kilometer vor meinem Etappenziel Kappadokien kam ich an den Salzsee Tuz Gölü, den ich nördlich umrunden wollte. Er war so riesig, dass ich das gegenüberliegende Ufer nicht erkennen konnte. Ein platter Reifen zwang mich wieder einmal zu einer Rast am Ufer des anscheinend ausgetrockneten Gewässers. Nach dem Flicken schob ich neugierig das Rad immer weiter vom Uferstreifen weg auf das salzige Wasser zu, statt auf der lauten Schnellstraße weiterzureisen.

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Beim Campen auf der kristallinen Kruste des Tuz Gölü werden meine Zeltbefestigungen zu Salzheringen.

Nach dem feuchten Sand, durch den man nur mit großer Anstrengung fahren konnte, folgten Salzinseln, die sich schließlich zu einer festen Kruste zusammenschlossen. Zaghaft und skeptisch testete ich die Salzdecke, die wie eine Eisschicht auf dem See lag. Wie dick würde sie sein? Kann man einbrechen in eine solche Salzfläche? Ich wagte einen Fahrversuch. Es ging prima! Die Kruste war tatsächlich hart wie Eis, plan wie ein Tablett und sehr griffig. Schon bald radelte ich bei völliger Windstille auf der topfebenen Salzschicht im höchsten Gang über den See. Ich war begeistert! Eigentlich hatte ich erwartet, falls überhaupt, erst auf dem Salar de Uyuni, einem Salzsee in Bolivien, auf solchem Untergrund radeln zu können, und jetzt sollte ich dieses fantastische Erlebnis schon hier in der Türkei haben. Ich konnte es kaum glauben.

Die Sonne ging unter, und ich beschloss, auf dem Salz weiter Richtung Süden zu kurbeln. Das sich kontinuierlich ändernde Farbenspiel am Himmel und vor allem auf der Salzschicht machte mich fast irre. Links der Mond vor dem türkisblauen Firmament, rechts das wahnsinnig intensive Orange der untergegangenen Sonne, gespiegelt im weit entfernten flachen, glatten Wasser. Die Salzfläche, auf der ich lautlos dahinglitt, schimmerte vor mir in einem dunklen Violett. Ich schwebte quasi durch eine Symphonie aus Farben.

Das alles war so surreal, dass ich unwillkürlich an den Report des afrikaerfahrenen polnischen Journalisten Ryszard Kapuściński denken musste. Er schrieb, dass man einige Erlebnisse in ihrer Intensität kaum wiedergeben kann und sie deshalb selbst erlebt haben muss. Als Beispiel nannte er die Begegnung mit Löwen in freier Wildbahn und den Nachthimmel über der Sahara. Ich kann dem einen Abend auf dem Tuz Gölü hinzufügen. Auch wenn die Zeltheringe sich nur widerwillig in die harte Kruste treiben ließen, wollte ich unbedingt hier, kilometerweit vom Ufer entfernt, den Morgen erleben. Nach einem »gesalzenen« Frühstück ging es durch seichtes Salzwasser weiter nach Kappadokien, das ich ein paar Tage darauf erreichte.

Nach der ersten Nacht in einem richtigen Bett und der Rasur durch den Dorfbarbier inklusive Nasen- und Ohrenhaarentfernung vergaß ich schnell die Strapazen der vergangenen Wochen. Jeden Morgen bei Anbruch der Dämmerung wanderte ich über die Felsen an den Dorfrand, wo vor Sonnenaufgang ein Dutzend Heißluftballons zum Rundflug startbereit gemacht wurden. Nach dem Start glitten sie lautlos über die Ebenen und Täler. Hoch oben genossen die Passagiere den unvergesslichen Blick auf die bizarren Tuffsteingebilde. Mir hätte solch ein Vergnügen das Reisebudget gesprengt. Jedoch konnte ich der Versuchung nicht widerstehen, mir für einen Tag eine Motocrossmaschine auszuleihen und per Enduro das Felslabyrinth mit all seinen Wohnhöhlen und Felskirchen zu erkunden.

Zu Gast im Orient

(Türkei / Syrien / Libanon)

Ein entscheidender Grund für mich, die Reise im Juli zu starten, war, mit dem Sommer gen Süden zu ziehen, um dann während der Trockenzeit in Afrika zu sein.

Die Nächte begannen kühl zu werden in Kappadokien, es wurde Zeit weiterzufahren. Über Hochplateaus ging es Richtung Mittelmeer. Manchmal hängte ich mich an qualmende Lkws, die wie Schnecken die Steigungen hinaufkrochen. Meine Schlafplätze waren wieder die 1500 Meter hohen Pässe. Zum ersten Mal auf dieser Reise sah ich schneebedeckte Bergketten. Abends, nach Anbruch der Dunkelheit, konnte ich stundenlang weit entfernte Gewitterfronten beobachten. Wenn ich dann beim ersten Tageslicht verschlafen aus dem Zelt blinzelte, erschien mir die Landschaft um mich herum oft wie eine Computersimulation – so unwirklich waren die Farben der Hochebene und des Gebirges im Morgenlicht.

Bald ging es immer öfter bergab. Plötzlich wehte mir ein warmer Wind entgegen, und die Straßen waren gesäumt von Zitronen- und Orangenplantagen. Baumwollfelder wurden von Kakteenhecken begrenzt, und Palmen spendeten kühlen Schatten bei sommerlichen Temperaturen. Ich war in der Tiefebene des Mittelmeeres.

Nach dem nächsten Grenzübergang erreichte ich die alte syrische Handelsmetropole Aleppo. Tausend fremde Dinge stürzten plötzlich auf mich ein: die allgegenwärtige, rätselhafte Schnörkelschrift, die mich zum Analphabeten werden ließ, schreiende Händler, in lange Gewänder gehüllte Männer, die unentwegt die Perlen ihrer Gebetsketten durch die Hände rinnen ließen, der ohrenbetäubende Lärm des völlig chaotischen Verkehrs. All das ließ mich schmunzeln, denn mir war auf einmal klar, dass ich jetzt im Orient war. Die gesamte Stadt schien ein einziger Basar zu sein. Jeder Quadratmeter war hier Verkaufsfläche für Fladenbrote, Gummischläuche, Büstenhalter, Goldschmuck oder Kaffeebohnen. Gebrauchte Wasserpumpen wurden neben Hammelhälften gehandelt. Vor einigen Krämerläden piepsten Ziervögel in ihren Käfigen, die an den Eingängen hingen. Einmal sah ich sogar einen großen blauen Ara auf einer Stange seine schönen Federn putzen.

Nach zwei Tagen ging es weiter Richtung Süden. Da ich die laute, nervenraubende Schnellstraße mied, war ich bald wieder auf Kompass, Intuition und mein Glück angewiesen, um den rechten Weg zu finden. Ausreichend Wasser und Lebensmittel für ein bis zwei Tage gaben mir ein sicheres Gefühl. In der flachen Halbwüste wurde der staubige Sandweg immer schmaler. Bei Weggabelungen versuchte ich am Horizont Funk- oder Strommasten als Zeichen von Zivilisation auszumachen, um dann die entsprechende Richtung zu wählen. Kilometerweit entfernte Staubfahnen deuteten auf Fahrzeuge hin und zeigten an, in welche Richtung sie fuhren.

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Auf meinem Weg nach Süden – hier mache ich am Suezkanal Station – orientiere ich mich oft nur noch mit meinem Kompass.

Irgendwann war ich wieder auf einer Schotterpiste und stoppte einen Lkw, um nach dem Weg zu fragen. Der Fahrer, ein verschleierter Syrer, kritzelte arabische Schriftzeichen auf ein Papierschnipsel. Dies solle ich Leuten zeigen, denen ich begegnete, und sie würden mir weiterhelfen, bedeutete er mir. Die ganze Zeit, auch während des Schreibens, hielt er rätselhafterweise einen kleinen, verängstigt dreinblickenden Vogel in seiner geschlossenen Faust. Sehr verwundert schlug ich die mir gewiesene Richtung ein und erreichte bald ein einzelnes Gehöft.

Ich kam gar nicht dazu, nach dem Weg zu fragen, sondern wurde stattdessen zum Essen und zu einem Nachtquartier eingeladen. Da die Sonne gerade unterging und ich meine täglichen achtzig Kilometer geradelt war, sagte ich zu. Natürlich war ich auch wahnsinnig neugierig auf die für mich exotisch fremden Gastgeber. Sprecher – und wie sich später zeigte auch Oberhaupt der etwa zehnköpfigen Familie – war der sechsunddreißigjährige Hamet. Wie bei allen erwachsenen Männern hierzulande üblich, verhüllte seinen schlanken Körper ein erdfarbenes, bis zum Boden reichendes Gewand. Eine rote Kufiya, die von einer schwarzen Kordel gehalten wurde, umschlang seinen Kopf und ließ mich nur sein Gesicht mit den tiefschwarzen, wachen Augen sehen. Auch die Frauen trugen Tücher und lange Kleider. Manchen von ihnen waren Sterne und Linien ins Gesicht tätowiert.

Auf der ebenerdigen Terrasse, die sich an die Nordseite des kastenförmigen Wohnhauses anschloss, wurden Matten, Teppiche und Sitzkissen ausgebreitet. In die Mitte eines runden Wachstuches stellten die Frauen eine große Schale mit Suppe, frittierte, mit Fleisch gefüllte Teigtaschen, Paprika und Joghurt. Wir Männer gruppierten uns kreisförmig um die Tafel und begannen zu essen. Lässig warf man auch mir das Fladenbrot zu. Die Frauen und Kinder bildeten abseits ihren eigenen Kreis. Nachdem alle satt waren, verabschiedeten sich ein paar Gäste, von denen einer einen Jagdfalken mitgebracht hatte. Jetzt gab es Tee und süßes Gebäck. Die Großmutter setzte sich hinzu, und als ich meine Familienfotos herumreichte, war ich bald von der gesamten Familie umringt. Um die Atmosphäre nicht zu zerstören, blieb meine Fotokamera in der Tasche. Tage später hielt ich diese Begegnung in der Wüste mit Pinsel und Farben auf dem Aquarellkarton fest.

Die Dunkelheit und mit ihr die Kühle der Wüstennacht kam schnell, und so zogen wir uns in eins der beiden geräumigen Zimmer des Wohnhauses zurück, das mit dicken Teppichen und Kissen ausgelegt war. Auch ich wurde reichlich mit Polstern eingedeckt. Auf dem einzigen Stuhl, den es hier zu geben schien, stand ein altes Schwarz-Weiß-Fernsehgerät. Die Familie mit ihrem Gast aus Deutschland versammelte sich vor dem Apparat, um einen theatralischen Vorabendfilm anzuschauen. Den Strom lieferte ein draußen vor sich hin tuckernder Dieselgenerator. Im Nachbarraum waren Schlafmatten für Hamet und mich vorbereitet. Eine dicke Decke schützte mich vor der kalten Nachtluft, die durch die offene Tür hereinwehte. Noch vor dem Morgengrauen hörte ich die Frauen mit Essgeschirr rumoren. Es war der letzte Tag des Ramadan. Hamet stand auf, um sich vor dem Hellwerden für den kommenden Tag zu stärken. Bei Sonnenaufgang machte ich mich zur Abfahrt bereit. Nach einem allein eingenommenen Frühstück, bestehend aus Fladenbrot, Joghurt, einer süßen, körnigen Paste und Tee, half ich noch, den alten Traktor mittels Seil und Rolle anzuwerfen, bedankte mich und radelte weiter.

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Aufgrund der großartigen Gastfreundschaft, wie ich sie auch in dieser syrischen Moschee erfahre, wächst meine Achtung vor dem Islam, je weiter ich in den Orient komme.

Über die Millionenstädte Hama und Homs kam ich in den Libanon. Auf der Internetseite des Auswärtigen Amtes und bei einemsyrischen Touristenführer hatte ich mich nach der Sicherheitslage erkundigt und mich dann dazu entschlossen, auch diese Region zu bereisen, um mir persönlich ein Bild von Land und Leuten zu machen.

Als ich in einer libanesischen Kleinstadt meinen restlos verschlissenen Reifen wechselte, wurde ich von einem alten Mann beobachtet und in sein Haus zum Kaffee eingeladen. Schon auf der Straße holte er ein rundes, plattes Stück Blei aus seinem Portemonnaie. Später sah ich in einer Ecke des kargen Wohnzimmers einen Schrein mit dem Bild seiner Tochter, die dieses Geschoss tödlich getroffen hatte. Er deutete auf die Risse in der Wand und erklärte etwas in Arabisch, wovon ich nur das Wort »Israel« verstand. Dann zeigte er mir seinen selbst gebauten Metalldetektor, mit dem er seine Felder nach Minen absuchte, bevor er sie bestellte. Eigentlich holte er ihn wohl nur hervor, weil ein elektronisches Teil seiner Bastelei wie ich aus Deutschland stammte.