Image Missing

Christian Schertz
Thomas Schuler (Hg.)

Rufmord und Medienopfer

Die Verletzung der persönlichen Ehre

Ch. Links Verlag, Berlin

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

1. Auflage, April 2012 (entspricht der 2. Druck-Auflage von März 2008)

Auf Wunsch des Autors Thomas Goguel ist der Beitrag »Filmpromotion mit Kollateralschäden« in die 2. Druck-Auflage nicht mit übernommen worden.

© Christoph Links Verlag – LinksDruck GmbH, 2007

Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0

Internet: www.linksverlag.de; mail@linksverlag.de

Umschlaggestaltung: KahaneDesign, Berlin

eISBN: 978-3-86284-179-0

Inhalt

Christian Schertz • Thomas Schuler

Es beginnt mit einem Flugblatt ...

Einleitung

Gerhard Henschel

Die neuzeitliche Inquisition

Zur Geschichte des journalistischen Rufmords

Christian Schertz

Persönlichkeitsrechte und Medien

Theorie und Praxis

Christoph Schultheis

Nachwirkungen der »Bild«-Berichterstattung

Wie eine große deutsche Boulevardzeitung wirkt

Dominik Höch

Rufmord an einem Polizisten

Die langen Schatten eines harmlosen Vorfalls

Martin Kölbel

Doppelmoral als Showgeschäft

Der Medienskandal um Günter Grass im August 2006

Sabine Sasse

Die Justiz und die Medien

Die Berichterstattung im Prozess gegen den TV-Moderator Andreas Türck

Karl-Otto Saur

Kalter Krieg und warme Brüder

Homosexualität als Mittel des Rufmords

Thomas Schuler

Bayerns schwarze Schatten

Rufmord in der Politik der CSU

Andreas Förster

Skandalisierung statt Aufklärung

Die Fälle Michel Friedman und Manfred Kanther

Uli RaussOliver Schröm

Der Fall Murat K.

Wie die Medienkampagne gegen ein Guantánamo-Opfer den Ruf des Außenministers rettete

Alexander Osang

Ein unvollkommener Held

Wie US-Medien den Ruf eines kritischen Diplomaten zerstörten

Steffen Grimberg

Üble Nachrede und Verleumdung

Die rechtlichen Grenzen der englischen Yellow Press

Norbert Mappes-Niediek

Rufmord ohne Folgen

Medien in Osteuropa

Marita Hecker

»Es gehen von Ohr zu Ohr gar fürchterliche Worte«

Rufmord in der Literatur

Bernhard von Becker

Schlüsselroman und Schlüsselprozess

Der Fall »Esra«

Roland Kirbach unter Mitarbeit von Thomas Assheuer

Zum Abschuss freigegeben

Fernsehshows und ihre Opfer

Uwe Krüger

Die Gesetze der Seifenoper

Die Medien und die Entführungsopfer Natascha Kampusch und Susanne Osthoff

Mario Gmür im Gespräch mit Ralf Mielke

Rampenlicht ersetzt Kerzenlicht

Therapeutische Hilfe für Medienopfer

Thomas Leif

Macht und Elend des Presserats

Selbstkontrolle als Alibi – oder: Die Unfähigkeit zu wirksamen Reformen

Christian SchertzThomas Schuler

Recherchieren und Belegen, Berichtigen und Kritisieren

Plädoyer für eine neue Medienkultur

Angaben zu den Herausgebern und Autoren

Christian Schertz • Thomas Schuler

Es beginnt mit einem Flugblatt …

Einleitung

Rufmord über Medien beginnt oft harmlos. Am Anfang kann das Medium nur ein Flugblatt sein, das bei einem Parteitag auf den Tischen ausliegt. So war es im Jahr 2004 in Baden-Württemberg, als die CDU dort einen Nachfolger für den Ministerpräsidenten suchte. Günther Oettinger und Annette Schavan bewarben sich um das Amt. Solange Annette Schavan, die heutige Bundesbildungsministerin, mehr Kindergartenplätze, bessere Straßen und einen ausgeglichen Haushalt forderte, interessierte sich kaum jemand für sie. Interessant wurde die Theologin und Kandidatin erst so richtig, als ihr Privatleben ins Spiel kam. Auf den Flugblättern war die Rede von »Gerüchten über angebliche gleichgeschlechtliche Beziehungen«. Verteilt hatte sie ein Wirt aus Stuttgart, der später in der Süddeutschen Zeitung als »wirr« bezeichnet wurde. Parteifreunde sammelten die Flugblätter ein. Doch die öffentliche Diskussion über ihr Privatleben – und damit auch ein Rufmord, den Annette Schavan später öffentlich beklagt – begann damit.

Was tat Schavan? Schweigen? Protestieren? Gerichtlich klagen? Bei den ersten Auftritten antwortete sie höflich und parierte die Fragen. Später reagierte sie zunehmend entnervt und sagte bei einem Auftritt vor 1200 Zuhörern: »Wer es genau wissen will: Mir fehlen Eignung, Lust und Neigung dazu!« Sie halte das Ganze für »schäbig, absurd und Rufmord«.

Bild heuchelt Empörung: »Plötzlich muss die unverheiratete, kinderlose CDU-Politikerin öffentlich gegen üble Lesben-Gerüchte kämpfen!« Und berichtet genüsslich. Dabei konnte sie die linksalternative tageszeitung (taz) zitieren, die zuvor gefragt hatte, in welchem Umfeld die Politikerin eigentlich lebe: »Mit einem Lebensgefährten? Mit einer Lebensgefährtin?« Auch Focus berichtete über die Gerüchte. Die Süddeutsche Zeitung behauptete sogar, dass der Redakteur einer Boulevardzeitung bei einem Gespräch in Berlin zu Frau Schavan gesagt habe, er komme im Auftrag der Chefredaktion, um sie zu fragen, ob sie lesbisch sei.

Spätestens mit Schavans öffentlicher Entgegnung war das Thema auch für seriöse Berichterstatter legitimiert. Flugblatt, taz, Bild, Focus, Süddeutsche Zeitung. Das ist durchaus eine typische Reihenfolge im Ablauf eines Themas, bei dem es um politisch-moralische Positionen wie gleichgeschlechtliche Liebe geht. Am Anfang steht ein Medium, das niemand ernst nehmen kann, das aber Journalisten erreicht – und damit Interesse und Fakten schafft. Jedes der nachfolgenden Medien kann sich auf ein vorhergehendes Medium berufen und somit das eigene Vorgehen legitimieren.

Wer hat den Rufmord begangen? Der Schreiber des Flugblatts oder Bild, die über Schavans Entgegnung berichtet? Ist Annette Schavan womöglich selbst verantwortlich dafür, dass die Gerüchte von ihrer angeblich lesbischen Neigung ein Millionenpublikum erreichten? Hätte sie geschwiegen, wäre es dann nicht bei dem ein oder anderen Flugblatt und dem ein oder anderen versteckten Hinweis geblieben? Und als Günther Oettinger sich im weiteren Verlauf der öffentlichen Debatte gegen den Rufmord an Schavan laut aussprach, gab es natürlich Stimmen, die sagten: Indem er sich so deutlich dagegen stelle, wolle er betonen, dass er in anderen, geordneteren Familienverhältnissen lebe. Aber was hätte er sonst sagen sollen? Hätte er schweigen sollen? Hätte man ihm dann nicht vorgeworfen, er billige den Rufmord? Rufmord vergiftet unwillkürlich alle, die mit ihm in Berührung kommen.

Was genau ist Rufmord, wann und wo beginnt er? Wir, die Herausgeber dieses Buches, wollen das Phänomen und die dahinter wirkenden Mechanismen beschreiben. Rufmord ist geächtet. Rufmord ist kein legales Mittel in der publizistischen Auseinandersetzung – und dennoch ist er medialer Alltag. Das Ergebnis: Angegriffene fühlen sich hilflos. Jedes Dementi wird benutzt, um Gerüchte erneut zu publizieren. Betroffene leiden – oft jahrelang. Sie fühlen sich verfolgt, ohnmächtig. Menschen, die nicht in der Öffentlichkeit agieren, werden ins Rampenlicht gezerrt und vorgeführt. Menschen, die in der Öffentlichkeit stehen, werden als Freiwild betrachtet. Journalisten tun so, als ob es völlig normal sei, dass Prominente über jede Facette ihres Lebens eine öffentliche Beichte ablegen müssten.

In den Medienhauptstädten dieser Welt gilt Rufmord inzwischen als ein normales Geschäft: So wie Stahl eine Industrie in Pittsburgh sei, genauso sei Rufmord eine Industrie in Washington, meint Richard Cohen, Kolumnist der Washington Post. Gleiches könnte man von New York, Rom, Paris oder London, von Hamburg, München oder Berlin behaupten.

Es gibt zwei Definitionen im allgemeinen Sprachgebrauch: Die eine besagt, Rufmord sei, wenn jemand ehrverletzende Gerüchte streut. Die andere geht davon aus, dass Rufmord erst dann begangen werde, wenn entgegen besserem Wissen Gerüchte und Unwahrheiten als Wahrheit verkauft würden. Im ersten Fall kennt der Rufmörder die Wahrheit nicht. Im zweiten Fall weiß er, dass er die Unwahrheit streut. In beiden Fällen kann die Wirkung gleich verheerend sein.

Liegt Rufmord womöglich sogar im Auge des Betrachters? Leo Kirch, dem Unternehmer und ehemaligen Chef des gleichnamigen Medienkonzerns, war zeitweise maßgeblich an Bild beteiligt und bestimmte deren Politik (nebst Rufmorden) mit. Kirch beschuldigte im Februar 2002 einen von Deutschlands angesehensten Bankern, an ihm in einem Interview Rufmord begangen zu haben. Auf Kirchs Kreditwürdigkeit angesprochen, sagte Rolf Breuer von der Deutschen Bank in einem Interview: »Was alles man darüber lesen und hören kann, ist ja, dass der Finanzsektor nicht bereit ist, auf unveränderter Basis noch weitere Fremd- oder gar Eigenmittel zur Verfügung zu stellen.« Kirch verklagte den Banker später auf Schadenersatz, weil er eine Kettenreaktion in Gang gesetzt habe, die seinen Konzern in den Bankrott getrieben habe. Kirch warf Breuer Rufmord vor: »Erschossen hat mich der Rolf.«

Dabei haben Journalisten handwerklich korrekt gehandelt. Die Frage nach der Zahlungsfähigkeit Kirchs lag auf der Hand. Jeder Journalist, der sie Breuer nicht gestellt hätte, sollte sich überlegen, ob er den richtigen Beruf gewählt hat. Wohlweislich klagte Kirch nicht gegen das Medienunternehmen Bloomberg, das das Interview verbreitete, sondern gegen Breuer. Ironisch ist aber doch, dass ausgerechnet ein Medienkonzern, der maßgeblich an Bild beteiligt war, durch einen Rufmord zu Fall gebracht worden sein soll. Rufmord existiert seit biblischen Zeiten. Was früher Versammlungen in der Kirche oder auf dem Marktplatz, dann der Besuch im Friseursalon und im Wirtshaus waren, das ersetzen heute mehr und mehr elektronische Foren. Experten sprechen von »Cyber Smearing«. Rufmord geschieht dort anonym. Im Internet wird die Identität von Personen verfälscht oder gar gestohlen. Bisweilen verbreiten diese falschen Personen unter einer anderen Identität Gerüchte über andere Personen. Im Onlinedienst Wikipedia hat ein unbekannter Autor einem Journalisten einfach unterstellt, er sei am Mord an John F. Kennedy beteiligt gewesen – das Gerücht stand monatelang im Internet, bis der Journalist es zufällig las und öffentlich auf das Kontrollproblem von Wikipedia und anderen Onlinediensten hinwies.

Was kann man gegen Rufmord tun? Klatsch verbieten? Das haben die US-Amerikaner versucht. In Nebraska war es Friseuren um 1910 verboten zu klatschen, genauso wie es ihnen zwischen sieben Uhr morgens und neun Uhr abends verboten war, Zwiebeln zu essen und beim Rasieren den Finger in den Mund ihrer Kunden zu stecken. Wirklich erfolgreich waren die Amerikaner mit dem Verbot nicht, wie man heute an der von Klatsch bestimmten amerikanischen Mediengesellschaft sieht. Was kann der Betroffene tun? Gegner zu Gegendarstellungen zwingen oder sie gar kaufen? Das ist durchaus eine Lösung für einen Milliardär wie den saudi-arabischen Scheich Khalid Bin Mahfouz. Der Saudi war beschuldigt worden, in Verbindung mit Al Qaida zu stehen und weltweit einer der wichtigsten Verbündeten Osama bin Ladens zu sein. Als Banker habe er eine führende Rolle bei der Finanzierung des Terrorismus gespielt. Er dementierte das nicht nur, sondern setzte 2006 weltweit Entschuldigungen der Journalisten durch, die ihn beschuldigt hatten. Es erschienen dazu ganzseitige Anzeigen in politischen Magazinen wie etwa dem Spiegel. Doch die wenigsten Betroffenen verfügen über solche finanziellen Möglichkeiten.

Ein erster Schritt kann sein, sich mit dem Thema zu befassen und Grundlegendes zu klären. Was gehört zur Meinungsfreiheit, was ist eine falsche, ehrverletzende Tatsachenbehauptung? Wir beschreiben Facetten des Rufmords und behandeln ihn in Literatur und in Politik. Wir schildern prominente Fälle, aber auch unbekannte, exemplarische Einzelfälle. Natürlich ist die Auswahl subjektiv und kann nur einen Überblick vermitteln. Wir geben rechtliche Orientierung. Ist Rufmord in verschiedenen Ländern das Gleiche und wenn ja, wird er auf ähnliche Art bekämpft und geächtet? Dazu blicken wir nach Großbritannien, nach Osteuropa und nach Nordamerika. Ein eigenes Thema ist Rufmord und die Boulevardpresse, wir untersuchen dazu exemplarische Vorgänge. Zugleich sprechen wir über Hilfe für Medienopfer und die Mittel gegen Rufmord. In Deutschland ist neben den Gerichten der Presserat die maßgebliche Beschwerdestelle für Betroffene. Was unternimmt der Presserat gegen Rufmord? Ist sein Vorgehen noch angemessen?

Rufmord geschieht, um jemanden in Verruf zu bringen. Ungeschehen machen kann man ihn nicht, auch wenn kommerzielle Onlinedienste gegen Zahlung eines fünfstelligen Eurobetrages neuerdings versprechen, genau das zu leisten und Rufmord im Internet ungeschehen zu machen. Sie versuchen, Dateien zu löschen oder negative Webseiten durch Suchmaschinen weniger schnell auffindbar zu machen.

Am Ende eines Rufmords ist nicht nur das Opfer, sondern meist auch der Journalismus in Verruf geraten. Was hat der Journalismus Gerüchten und Verleumdungen entgegenzustellen? Viel wäre gewonnen, wenn Journalisten tatsächlich Journalismus praktizieren würden, wenn sie also recherchieren und die Ergebnisse fair darstellen würden. Aber oft folgen sie Gerüchten, ohne ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen. Oft lassen sich Journalisten für bestimmte Interessen einspannen. Oft agieren Journalisten nicht als Journalisten, sondern als Anwälte einer Sache oder eines Unternehmens. Der kleine Bruder des Rufmords ist die PR, deren Geschäftsgrundlage oft nicht die Wahrheit, sondern ein bestimmtes Interesse des Auftraggebers ist. PR verbreitet daher mitunter bewusst Halbwahrheiten. PR ist kein Verbrechen. Journalisten aber haben die Aufgabe, hinter die Kulissen zu blicken, die PR-Leute gern aufbauen. Warum sind Journalisten nicht in der Lage, sich stärker gegen solche Einflüsse zu wehren? Das Einfachste wäre, Journalisten würden Gerüchte totrecherchieren.

Rufmord attackiert die Moral von Menschen, ist daher abhängig von moralischen Konventionen der Zeit und des Ortes. Für Annette Schavan ist der Verdacht, sie sei lesbisch, Rufmord. In Baden-Württemberg und in den moralischen Vorstellungen ihrer Wählerschaft ist das so. In Berlin dagegen wählte das Volk einen Bürgermeister, der sich zu seiner Homosexualität offen bekennt. Für die taz, die in Berlin erscheint, lag es nahe, sich in einem Bericht über Schavans Erfolgsaussichten auch mit den Gerüchten über ihre Lebensweise zu beschäftigen, zumal die Debatte Monate davor schon einmal stattgefunden hatte. Uns interessiert daher auch die Rolle der seriösen Presse. Denn ein Problem unserer Mediengesellschaft besteht darin, dass selbst seriöse Medien dem Faktischen eines Rufmords nicht entkommen können.

Rufmord ist ein perfides Spiel der Medien. Nicht immer ist klar, wer wen benutzt und wer von wem profitiert. Ist es sinnvoll, jemanden gegen einen unberechtigten Vorwurf zu verteidigen, wenn man dadurch auch dem Vorwurf zu Publizität verhilft? Erreicht man am Ende nicht das Gegenteil? Rufmord ist heimtückisch. Rufmord spielt meist in einem Bereich, der verletzend wirkt. Ein Bereich, der so intim ist, dass Gerüchte ihre Wirkung erzielen, weil alle gern zuhören, aber niemand Genaues weiß oder die Gerüchte prüft. Unsere Mediengesellschaft erlaubt eines nicht: Schweigen. Deshalb ist es so schwer, angemessen auf Gerüchte zu reagieren, indem man nicht reagiert. Können deutliche Worte weitere Gerüchte verhindern? Unter PR-Leuten herrscht die Vorstellung, dass eine heiße (schlechte) Nachricht, die eine Person oder ein Unternehmen schädigt, am besten mit einer heißeren Nachricht schnell überboten und damit abgesondert und egalisiert wird. Dieser Gedanke folgt der Vorstellung, dass Nachrichten eine Ware sind und dem Gesetz von Angebot und Nachfrage folgen. Aber Garantien kann niemand geben.

Rufmord vergiftet leider alle, die mit ihm in Berührung kommen. Wer ihn beklagt, muss ihn erst einmal wiederholen und somit begehen. Selbst wer den Angegriffenen zur Seite springen will, muss den Rufmord ungewollt noch einmal begehen, indem man ihn schildert. In diesem Sinne begehen wir in diesem Buch auch Rufmord. Allerdings gibt es keine andere Möglichkeit, seine Mechanismen aufzuzeigen, den Ärger und das Leid, den er anrichtet. Und den Schaden, den er dem Journalismus zufügt.

»Rufmord ist ein Kavaliersdelikt – mehr nicht?« Mit dieser Frage leitete die Bischöfin Maria Jepsen vor einigen Jahren ihre Buß- und Bettagspredigt in Hamburg ein. Das Thema war aktuell und zeitlos, und das gerade in einer Stadt, in der neben Stern und Spiegel auch Bild ihre Zentrale hat. »Kein Mensch, ob nun gut oder böse, sollte je ein gefundenes Fressen für einen Reporter, eine Redakteurin, für Kameraleute sein: Das wäre kannibalisch.« Die Theologin kam zu dem Schluss: »Es ist leichter für ein Kamel, durchs Nadelöhr zu kommen, als für einen Journalisten in den Himmel.«

Es ehrt die Bischöfin, dass sie anfügte: »Und ich rede hier nicht wie eine Blinde von der Farbe, bin ich doch selbst beteiligt am öffentlichen Reden und Schreiben.« Andere nahmen ihre Worte weniger selbstkritisch auf: Journalisten des Hamburger Abendblatts, das wie Bild im Axel-Springer-Verlag erscheint, druckten ihre Medienschelte und wollten von ihrem Pressesprecher wissen, wen die Bischöfin gemeint habe: Die Kritik habe nicht einer einzelnen Zeitung oder der Medienstadt Hamburg gegolten, »sondern allgemein einigen Bereichen des Journalismus«, antwortete ihr Pressesprecher. Einige Wochen später ergänzte die Bischöfin: »Wenn Menschen in Nöten und Trauer von einem Pulk von Journalisten bedrängt werden, finde ich das schlimm ... Die Würde des Menschen sollte respektiert werden. Das sollte aber nicht einen kritischen Journalismus verhindern.«

Die Zeitung wertete ihre Worte als »Generalabrechnung mit dem Journalismus«. War es das wirklich? Tatsächlich hat die Bischöfin sich gegen Rufmord gewandt und »gegen alle behaupteten Quoten- und Sensationszwänge«. Ihre Frage, ob Rufmord wirklich nur ein Kavaliersdelikt sei, gilt für manche Journalisten mehr als für andere. Manche sind bei fast jedem Rufmord mit von der Partie und können den nächsten kaum erwarten. Sie leben von Rufmord und verhalten sich genau so, wie die Bischöfin sagte: kannibalisch. Andere begehen aus Nachlässigkeit oder falschem Eifer Rufmord. Könnten wir Teilnehmer in dieser Mediengesellschaft Rufmord verhindern, wenn wir nur wollten? Es ist an der Zeit, sich mit dem Thema näher zu beschäftigen und genaue Fragen zu stellen.

Gerhard Henschel

Die neuzeitliche Inquisition

Zur Geschichte des journalistischen Rufmords

Der Sensations- und Rufmordjournalismus ist beileibe keine Erfindung der Bild-Zeitung. Schon im Gefolge der Gerüchte über die Einwohner der Neuen Welt kursierten Flugschriften, aus denen wissbegierige Europäer im frühen 16. Jahrhundert Abwegiges und Schockierendes über die vermeintlich Wilden, ihren angeblichen Kannibalismus, ihre zügellose Wollust, ihren Hang zur Inzucht und ihre monströse Körpergestalt erfuhren. Johannes Gutenbergs Erfindung der Druckerpresse hatte es möglich gemacht, das ehedem nur mündlich bedienbare Bedürfnis nach übler Nachrede in einem neuen Medium und in einem größeren Stil zu befriedigen, als er Augustinus, Chrysostomus und Ephräm vergönnt gewesen war. In der Spätantike hatten diesen Kirchenvätern für die Verbreitung ihrer Greuelpropaganda über die abweichenden sexuellen Gewohnheiten der Juden und anderer Nichtchristen nur die Ohren der Gemeindemitglieder und einige karge Schreibstuben zur Verfügung gestanden.

Die überlieferten Zeugnisse menschlicher Niedertracht im Hinblick auf Nachbarn, Fremde und Andersgläubige reichen weit in die Vergangenheit zurück, und es genügt eine flüchtige Betrachtung des menschlichen Wesens und seiner Machenschaften von der Antike bis in die Gegenwart, um den Verdacht zu erhärten, dass es auch in den schriftlosen Jahrzehntausenden der Geschichte des Menschengeschlechts nicht viel besser gewesen sein dürfte. Es spricht jedenfalls nichts dafür, dass unsere Ahnen sich an ihren prähistorischen Lagerfeuern des Palaverns über die »Abartigkeit« eines feindlichen Stammes oder über die Verrücktheit einer verfemten Sippe enthalten hätten.

Neu war zu Beginn der Moderne hingegen die gewerbsmäßige, industriell betriebene und genutzte Verbreitung von Klatsch und Tratsch, die im 19. Jahrhundert mit dem rasanten Aufschwung der Zeitungsproduktion und dem Aufkommen eines vormals unbekannten Typus einherging – dem des Tagesjournalisten, der sich mit der stetig wachsenden Pressefreiheit auch das Recht erkämpfte, in die Privatsphäre seiner Mitmenschen einzudringen und ihr geschäftlich verwertbare Informationen zu entreißen. Perfektioniert worden ist dieses Geschäftsgebaren im frühen 20. Jahrhundert. In der Fackel, die Karl Kraus von 1899 bis zu seinem Tod im Jahre 1936 herausgegeben hat, lässt sich, von Jahrgang zu Jahrgang, in allen Einzelheiten die Entwicklung studieren, die der Sensationsjournalismus in jener Zeit genommen hat.

»Der Skandalsucht Futter streuen – ein widriges Gewerbe«, schrieb 1907 Maximilian Harden, der im deutschen Kaiserreich hochangesehene und bis dahin auch von Kraus geschätzte Herausgeber der renommierten Zeitschrift Die Zukunft. »Die Geschlechtshandlung ist der privateste Akt. Nur wenn sie ein nationales oder soziales Rechtsgut antastet, darf der Fremde sie entschleiern.« Wie aber hätte eine unter Erwachsenen einvernehmlich vorgenommene Geschlechtshandlung ein nationales Rechtsgut antasten können, so dass Journalisten glauben konnten, sich das Recht anmaßen zu dürfen, diesen privaten Akt zu entschleiern?

Maximilian Harden war zu Ohren gekommen, dass Philipp Fürst zu Eulenburg-Hertefeld, Kuno Graf von Moltke und andere Vertraute des Kaisers homosexuelle Beziehungen unterhielten. In der Zukunft deutete Harden zunächst nur verblümt an, dass »gewisse Männer von abnormen Empfindungen« mit einem »Kinädenmakel« behaftet und dennoch hoffähig seien. Bald darauf verstieg er sich zu der Vokabel »Spinatgartenschande« und gab, nach einer Verleumdungsklage des Grafen Moltke, vor Gericht zu Protokoll, dass der Kläger Kosmetika verwende, im Theater nachweislich Süßigkeiten verzehrt habe und den familiären Spitznamen »Tütü« trage. Er wisse ganz genau, erklärte Harden, dass der Graf »absonderliche Geschlechtsempfindungen« hege. Harden wurde freigesprochen, und Karl Kraus, erschüttert von dessen Skandalsucht, fällte das Urteil: »Die Unfähigkeit zur Bekleidung eines öffentlichen Amtes mit der Abneigung gegen den normalen Geschlechtsverkehr zu beweisen, konnte nur einem Philister oder einem Freibeuter journalistischer Sensation gelingen.« Das war revolutionär. Man denke an die noch in unseren Tagen, also einhundert Jahre und zweieinhalb sexuelle Revolutionen später eingefädelten Intrigen gegen fremdgehende CSU-Minister oder an die noch gar nicht so lang zurückliegende, glanzvoll abgeschmetterte Kampagne gegen den schwulen Berliner Bürgermeister Klaus Wowereit. Zu der Unbefangenheit und humanen Vernunft, mit der Karl Kraus das Menschenrecht auf private, der Mehrheit absonderlich erscheinende Geschlechtsempfindungen in Schutz nahm, war Harden unfähig. Er spielte geschickt sein Wissen aus und ließ in einem weiteren Schöffengerichtsverfahren einen Milchhändler und einen Fischer in den Zeugenstand rufen. Diese Zeugen sagten aus, dass sie in ihrer Jugendzeit mit dem – mittlerweile erkrankten und bettlägerigen – Fürsten Eulenburg sexuell verkehrt hätten, und Maximilian Harden schimpfte: »Müssen wir einen Kriegssturm ersehnen, der diesen schwülen Spuk mit eisigem Athem wegfegt? Soll der starke Schoß deutscher Frauen aus edel gezüchtetem, unerschöpftem Stamm verdorren, weil dem Herrn Gemahl Ephebenfleisch besser schmeckt?«

Der »schwüle«, von Harden enttarnte Spuk bestand in einigen privaten homosexuellen Geschlechtshandlungen, die zum Zeitpunkt ihrer Enthüllung bereits Jahrzehnte zurücklagen. Hardens ehemaliger Mitstreiter Kraus wandte sich angewidert von dem rufmörderischen Enthüllungsjournalisten Harden ab und charakterisierte dessen Winkelzüge als »das erbärmlichste Manöver journalistischen Geistes«, das darauf abziele, »ob Männer der Politik ihren Geschlechtstrieb auf Röcke oder Hosen abgestellt« hätten. »Und dieser Mann ist der Kulturhort Deutschlands, zu dem die literarische Jugend wallt wie einst vor Goethe’s Thron«, schrieb Kraus. Harden habe »Zinsen genommen von der wahrhaft tragischen Schande einer Sittlichkeit, die es erlaubt, das Rückenmark zum corpus delicti zu machen. Er ist der Schuldige jener neuzeitlichen Inquisition, die wir schaudernd den Beschluss verkünden hören, ›den Beweis darüber, daß der Privatkläger dem weiblichen Geschlecht besonders abgeneigt sei, zuzulassen‹. Jener teuflischen Justiz, die in Schlafzimmern exorcisiert, Abweichungen von der ›Norm‹ ahndet und das liebe Leben zum Tod durch den Samenstrang verurteilt«. Die »Erledigung« des Falls Harden schloss Kraus mit den Worten ab: »Der Prozeß Harden – Moltke ist ein Sieg der Information über die Kultur. Um in solchen Schlachten zu bestehen, muß die Menschheit lernen, sich über den Journalismus zu informieren.«

In jenen denkwürdigen »Ehrentagen des Nachrichtengeistes«, wie Karl Kraus sie nannte, reagierte Harden nicht auf diese Angriffe. Er ließ sich Zeit bis 1908. Dann erklärte er in einem Zeitungsinterview, dass Kraus ihm schon seit längerem zuwider gewesen sei, und garnierte diese Auskunft mit einem Hinweis auf eine Liebesaffäre des Angreifers, bei der es sich, laut Harden, um einen »grotesken Roman« gehandelt habe. An dieser Stelle, schrieb Kraus in der Fackel, höre für ihn »die Geneigtheit zu einer literarischen Erledigung solchen Einwands« auf. »Und ich sage Herrn Harden: Die ganze Lächerlichkeit seiner Erwiderung hat ihren Reiz für mich verloren. Aber um dieses einen Satzes willen lasse ich ihn nicht mehr los. Hier ist er in der Bahn, auf der er heute in Deutschland mit vollem Dampf fährt; aber durch meine Reiche kommt er nicht unbeschädigt. Hier ist die Gemeinheit am Ende. Und sie zeigt noch einmal, was sie kann. Jetzt erst fühle ich ihre Möglichkeiten, jetzt erst begreife ich den Plan, der ihren Vorstößen gegen das privateste Erleben zugrundeliegt: Die Unfähigkeit, vor dem Geist zu bestehen, vergreift sich am Geschlecht. Mein grotesker Roman lag dem Herrn Harden nicht als Rezensionsexemplar vor (...)« Eine Antwort darauf ist Maximilian Harden sowohl Karl Kraus als auch der Nachwelt schuldig geblieben. Harden machte weiter, als ob nichts geschehen wäre, doch sein Ruf war ramponiert, zu Recht und für immer.

Mit den Enthüllungen aus dem Geschlechtsleben seiner politischen Widersacher hatte Harden einen Skandal von internationalem Format heraufbeschworen. Für seine Zeitschrift war das ein gutes Geschäft. Dass sich mit Affären dieser und auch geringerer Größenordnung noch bessere Geschäfte machen ließen, erwies sich, als in den Goldenen zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts die moderne Klatschpresse erblühte. In Österreich erschuf der polizeilich in Ungarn wegen Erpressung gesuchte Immigrant Imre Békessy mithilfe des Finanzmoguls Camillo Castiglioni ein populäres Skandalblatt mit dem Titel Die Stunde. Systematisch ausgeschlachtet wurden darin die Liebesaffären berühmter Schauspieler, Aristokraten und anderer Menschen, die sich in dieser Formationsphase des Gossenjournalismus als »Prominente« dem Haifischhunger der Journalisten ausgeliefert sahen. Angesichts der »Wesensmarke dieses neuen Journalismus« wandelten selbst Kraus nostalgische Gefühle an, in der Erinnerung an die geringer mit Zynismus und krimineller Energie begabten Journalisten früherer Tage. Das Neue, das mit Békessys Stunde in die deutschsprachige Welt vorgestoßen war, hatte Kraus genau erfasst, und es lohnt sich, seine Ausführungen darüber nachzulesen: »Aus dem Blutdunst einer Epoche, die den Heldentod zum Betrug an der Menschheit gebraucht hat, ist ein Raubtiergesicht aufgestiegen, ein nachsintflutliches Ungeheuer, nur vergleichbar dem Trachodon und den anderen dinosaurischen Schiebern aus der Kreidezeit: der Castiglioni aus der Tintenzeit. Seine Züge sind die Schriftzüge einer erbarmungslosen Journalistik, die dieses Gesicht rehabilitiert und selbst dort noch erkennend verklärt, wo ein zerfleischter Kindesleichnam zum Fraß ihrer Betrachtung dient.«

An Kraus gerächt hat sich Imre Békessy 1925 mit der Veröffentlichung einer retuschierten Fotografie, die den Eindruck erweckte, dass Kraus als Knabe Klumpfüße und Segelohren besessen habe, und es fiel dem ohnehin nur von wenigen und schon gar nicht von österreichischen Amtseseln geliebten Ankläger Kraus recht schwer, juristische Schritte gegen diesen rufmörderischen Akt in die Wege zu leiten und zum Ziel zu führen. Über die böswillige Verfälschung fotografischer Aufnahmen hatten sich die Juristen bis dahin noch nicht den Kopf zerbrochen. Den Stand der Dinge fasste Kraus in einem auf die Stunde und die Sendung ihres Herausgebers gemünzten Gedicht zusammen:

Die Schmach, die unter die Sonne sich traut,

sie glänzt in den fettern Lettern.

Den hellen Mittag durchdringt der Laut

von den neuen Revolverblättern.

Die Sorte kennt ein Erröten nicht

auf ihren verbotenen Spuren.

Und stolz ruft sie der Scham ins Gesicht

Das Bekenntnis: Mir san Huren!

»So wild trieb ich’s im Puff!« titelte Bild ein Menschenalter später, um die Memoiren eines Schauspielers zu bewerben, der sich freiwillig dazu bereitgefunden hatte, die letzten Reste seines einstmals halbwegs guten Rufs gegen Bargeld und Publicity einzutauschen. Den Revolverjournalverleger Békessy hatte Kraus noch aus Wien verjagen können. Békessys Nachfolgern ist mit Satiren, Glossen und Sottisen leider nicht mehr beizukommen. Im frühen 21. Jahrhundert fliegen die professionellen Rufmörder gewohnheitsmäßig im Jet der Bundeskanzlerin mit, und der Papst empfängt die ganze Corona im Vatikan, aus Angst vor ihrer Macht, aus Kleinmut und Opportunismus und nicht zuletzt infolge der Begierde, an dieser monumentalen, durch Schlagzeilen wie »So wild trieb ich’s im Puff« eroberten Macht zu partizipieren. Oder sagen wir ruhig: zu schmarotzen. Wer sich zu so etwas herablässt, der hat das Recht verwirkt, in einer Debatte über Werte ernstgenommen zu werden.

Christian Schertz

Persönlichkeitsrechte und Medien

Theorie und Praxis

Das Persönlichkeitsrecht ist der natürliche Feind der Presse- und Meinungsfreiheit. Neben staatlichen Eingriffen in die Presse- und Meinungsfreiheit, die durch das hohe Gut der Pressefreiheit begrenzt werden, wie Beschlagnahme von Recherchematerial, Durchsuchung von Redaktionsräumen etc., sind es insbesondere Persönlichkeitsrechte, die die Freiheit der Presse und des Rundfunks (Hörfunk und Fernsehen) beschränken. In dieser Gemengelage stehen sich zwei Grundrechte gegenüber: Auf der einen Seite die Presse- und die Rundfunkfreiheit, die in Art. 5 des Grundgesetzes (GG) verankert sind, auf der anderen Seite das allgemeine Persönlichkeitsrecht, welches das Bundesverfassungsgericht als eigenständiges Grundrecht aus der in Art. 1.1 GG garantierten Menschenwürde und der in Art. 2.1 GG verankerten allgemeinen Handlungsfreiheit des Menschen hergeleitet hat. Auf der einen Seite steht der Mensch als selbstbestimmtes Wesen, auf der anderen Seite das Recht der anderen, sich mit seinem Tun und Wirken, ja mit seinem Leben ggf. auch kritisch auseinanderzusetzen. Mitunter ein kaum zu lösender Konflikt, mit dem sich tagtäglich Hunderte von Juristen – konkret Richter, Anwälte, Justitiare – beschäftigen müssen. Nicht selten wird die Diskussion sehr emotional geführt, gerade weil es um die Grundfesten des demokratischen Rechtsstaats geht: den Schutz und die Pflicht des Staates, den einzelnen vor Eingriffen in seine Persönlichkeitsrechte und seine Menschenwürde zu schützen, ebenso aber auch das für die Meinungsbildung schlechthin konstituierende Grundrecht der Pressefreiheit.

Gerade die Boulevardmedien nehmen gerne das hohe Gut der Pressefreiheit für sich in Anspruch, um rücksichtslose und nicht selten allein auf Gewinnerzielung und Auflage gerichtete Veröffentlichungen zu rechtfertigen. Zumeist ist das Persönlichkeitsrecht der Verlierer, da es nur einen regressiven Schutz ermöglicht. Zu Recht hat das Grundgesetz statuiert, dass eine Zensur nicht stattfindet, also eine vorherige Kontrolle von kulturellen oder sonstigen Inhalten nicht erfolgen darf. Die bittere Pille dieses unumstößlichen Grundsatzes im Deutschen Recht ist jedoch, dass erst nach einer Veröffentlichung der Betroffene zumeist die Möglichkeit hat, sich zur Wehr zu setzen, was im Ergebnis aber heißt, im Wesentlichen Schadenbegrenzung zu betreiben, um Zerstörungen von Lebensentwürfen zu verhindern und Traumatisierungen zu begrenzen. Dennoch haben die Auseinandersetzungen zugenommen. Nahezu täglich wird auf den Medienseiten der überregionalen Tagespresse über gerichtliche oder außergerichtliche Auseinandersetzungen von Personen mit Medien berichtet. Es gibt verschiedene Gründe für die Zunahme der Auseinandersetzungen: Zum einen hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass es sinnvoll sein kann, sich zur Wehr zu setzen. Die Angst, danach umso mehr nachtretenden Kampagnen ausgesetzt zu sein, ist gesunken. Auf der anderen Seite steht aber auch die Massivität der Eingriffe in Persönlichkeitsrechte durch Boulevardmedien, die offensichtlich rapide zugenommen hat. Dies wiederum erklärt sich aus der harten Konkurrenzsituation im Medienmarkt, den veränderten Seh- und Lesegewohnheiten, aber auch der Schnelligkeit im Kommunikationsgeschäft. Das Internet ermöglicht, Falschbehauptungen innerhalb von Sekunden weltweit zu verbreiten, Fotohandys gestatten es jedem und jederzeit nahezu alles zu fotografieren. Den Medien geht es um den Kampf um die Aufmerksamkeit beim Leser und Zuschauer. Es geht auch um die Konkurrenzsituation zwischen den audiovisuellen und den Printmedien. Quote und Auflage entscheiden, wer den begehrten Werbekuchen erhält.

Die Dynamik bei der Veränderung von Seh- und Lesegewohnheiten ist beachtlich. Eben stritt man noch, ob es die Menschenwürde verletzt, Menschen in einen Container einzuschließen und durch das Fernsehen beobachten zu lassen (Big Brother), da gibt es schon die Operationsshow The Swan, in welcher sich Kandidaten dazu bereit erklären mussten, an einem Beauty-Contest teilzunehmen und sich gleichzeitig verpflichteten, Schönheitsoperationen an sich durchführen zu lassen. Das bisher Gezeigte muss immer wieder übertroffen werden. Neue Tabubrüche sind notwendig, um für die Zukunft dieselben oder höhere Quoten sicherzustellen. Dieses erklärt, warum es zu immer schonungsloseren Eingriffen in die Privat- und Intimsphäre von Prominenten, aber auch von zuvor unbehelligt lebenden Menschen kommt, die oftmals gegen ihren Willen ins Rampenlicht gezerrt werden. Opfer der Entwicklung sind also nicht nur Prominente wie Schauspieler, Politiker oder Unternehmer. Ebenso betrifft es Menschen, die durch ein besonderes Ereignis in den Blickpunkt der Öffentlichkeit geraten sind und dann nicht selten einer unerträglichen Medienhetze ausgesetzt werden, insbesondere Entführungs-, Verbrechens- und Unglücksopfer. Während man im Mittelalter nur auf dem Marktplatz an den Pranger gestellt wurde, sind heute Informationen innerhalb weniger Minuten weltweit abrufbar. Die Zerstörung eines Lebens ist also ohne weiteres in kürzester Zeit möglich.

Neben den Eingriffen in die Privat- und Intimsphäre sind aber auch in der seriösen Politik- und Wirtschaftsberichterstattung neuerdings erhebliche Recherchefehler oder andere Fahrlässigkeiten festzustellen. Es bleibt oft nur noch wenig Zeit, seriös zu recherchieren, »da sonst der andere die Geschichte hat«. Der Wettkampf um aufregende Storys und wichtige Informationen ist härter denn je.

Einer der unausgesprochenen Skandale ist der Umstand, dass eine Vielzahl von Berichterstattung in Medien rechtlich eindeutig verboten ist. Das heißt, man kann im wahrsten Sinne mit Fug und »Recht« davon sprechen, dass der bewusste täglich wiederholte Rechtsbruch Teil des Mediengeschäfts ist, ja sogar einen nicht unerheblichen Teil von ihm ausmacht.

Ist das Recht faktisch nicht mehr in der Lage, Menschen vor Eingriffen in ihre Persönlichkeitsrechte zu schützen? Ist hier die normative Kraft des Faktischen so, dass es keinen Rechtsschutz gibt? Ist der Staat inzwischen in der Bringschuld, neue gesetzliche Rahmenbedingungen zu schaffen, die der Entwicklung Einheit gebieten?

Dazu bedarf es zunächst der Feststellung des Status quo. Welche rechtlichen Grundlagen gelten gegenwärtig, welche Rechte stehen dem Einzelnen zu, sich gegen Veröffentlichungen zur Wehr zu setzen, insbesondere solche, die geeignet sind, seinen Ruf zu beeinträchtigen und damit seine Lebensqualität erheblich einzuschränken? Wie effektiv sind diese rechtlichen Möglichkeiten? Wie reagiert die Rechtsprechung auf die Zunahme von Verletzungsfällen, wie reagiert der Gesetzgeber?

Rechtliche Ausgangslage

Die Rechtslage ist klar und eindeutig. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht als verfassungsgerichtlich garantiertes Grundrecht setzt sich aus der im Grundgesetz verankerten Menschenwürde Art. 1 Abs. 1 GG und der allgemeinen Handlungsfreiheit Art. 2 Abs. 1 GG zusammen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist das allgemeine Persönlichkeitsrecht ein von jedermann zu achtendes Recht. Es wurde von der Rechtsprechung entwickelt und ist nicht kodifiziert, also in einer klaren gesetzlichen Regelung verankert. Daher ergeben sich die Regelungen aus der Rechtsprechung der letzten 50 Jahre. Nur am Rande sei erwähnt, dass diese Urteile eine dem deutschen Recht eigentlich fremde Form des sogenannten Case-Law der angelsächsischen Länder sind.

Demnach gilt: Der Einzelne ist davor geschützt, dass über ihn Unwahrheiten verbreitet werden, also Tatsachen, die falsch sind. In der Praxis ist es nicht selten ein schwieriges Unterfangen, Tatsachenbehauptungen, die eben wahr sein müssen, von grundsätzlich zulässigen Meinungsäußerungen zu unterscheiden. Ob eine Sängerin schlecht singt, ist eine Meinung, ob sie das hohe C getroffen hat, eine überprüfbare Tatsachenbehauptung.

Zum Schutz vor Unwahrheit stehen dem Betroffenen Ansprüche auf Unterlassung, Gegendarstellung und Richtigstellung zur Verfügung. Dann kommt für die Medien erschwerend hinzu, dass sie die Beweislast für die Wahrheit der Behauptungen tragen, wenn es sich um Äußerungen handelt, die geeignet sind, die Ehre oder den Ruf einer Person zu beschädigen.

Die Meinungsäußerungsfreiheit gilt allerdings nicht unbegrenzt. Dient eine Meinungsäußerung nur noch der Diffamierung des anderen, kommt auch insofern das Persönlichkeitsrecht zum Tragen – unter dem Stichwort »Schutz vor Schmähkritik«. Die Rechtsprechung sah es daher als unzulässig an, eine Fernsehansagerin als »ausgemolkene Ziege« zu bezeichnen, einen Schriftsteller als »steindummen Autor« oder eine aus der DDR stammende Sängerin als »ostdeutsches Hormonwrack«.

Im Zusammenhang mit Medien ist besonders wichtig der Schutz des Einzelnen vor unerlaubter Indiskretion, also vor massiven Eingriffen in die Privat- und Intimsphäre, sei es durch Wort- oder auch durch Bildberichterstattung, ohne dass der Betroffene zuvor eingewilligt hat. Hergeleitet wird der Schutz vor Indiskretion aus dem Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen, darüber zu bestimmen, inwiefern er tatsächlich öffentlich vorkommen will, etwa mit Namen und /oder Abbildung. Die Amerikaner nennen dies »The right to be let alone«.

Personen der Zeitgeschichte – das sind also die, die im öffentlichen Interesse stehen – haben einen etwas eingeschränkteren Schutz, aber auch ihnen gewährleistet das Persönlichkeitsrecht grundsätzlich den Schutz vor Eingriffen in die Privat- und Intimsphäre. Es sei denn, sie haben diese bereits zuvor umfassend selbst vermarktet. Das mediale Eigenverhalten bestimmt nämlich auch den Umfang des gewährleisteten Schutzes.

So einfach und klar die beschriebene Rechtssituation ist, so eindeutig ist auch die Feststellung, dass diese Rechtsgrundsätze von zahlreichen Medien regelmäßig bewusst verletzt werden. Insbesondere die Boulevardmedien sind in diesem sinne »Serientäter«. Auch der Gesetzgeber kam daher nicht umhin, diesen Zustand nicht nur zu konstatieren, sondern zu versuchen, den Schutz der Persönlichkeit stärker abzusichern. Genau die Zunahme von Eingriffen durch Medien, eben gerade auch aufgrund der beschriebenen Konkurrenzsituation, führte vor allem in den letzten Jahren durch mehrere Gerichtsentscheidungen und Gesetze zu einer Verschärfung des Persönlichkeitsschutzes in bisher nicht da gewesener Form:

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stärkte den Bildnisschutz von Prominenten und schrieb den deutschen Gerichten ins Stammbuch, dass Bilder aus dem privaten Alltag Prominenter allein zur Befriedigung der Sensationsgier nicht zulässig sind. Die deutschen Gerichte hatten aufgrund der Vorbildfunktion von Prominenten Bilder, die diese im privaten Alltag im öffentlichen Straßenraum zeigen – wie beim Spazierengehen, im Urlaub oder bei einem Kinobesuch –, für zulässig gehalten. Unzulässig waren bis dato zum einen Fotografien aus dem Bereich der eigenen vier Wände und zum anderen Fotos von Prominenten, die sich in der Öffentlichkeit erkennbar zurückgezogen hatten, etwa wenn sie in einem Restaurant bewusst eine dunkle Ecke gewählt hatten, um privat zu sein. Bilder von öffentlichen Auftritten auf dem roten Teppich waren dagegen rechtmäßig.

Die verbleibende Grauzone, die unter dem Stichwort »privater Alltag« in der Öffentlichkeit zusammengefasst werden kann, wurde vom Bundesverfassungsgericht als für Prominente ungeschützter Raum bewertet. Die Zunahme an Paparazzijagden, die teilweise unerträgliche Einschränkungen in der Lebensqualität, vielleicht sogar das Beispiel der Paparazziverfolgung von Lady Diana kurz vor ihrem Tod, führten auf europäischer Ebene zu einem Umdenken. Die geschilderte Abbildungsfreiheit nach deutschem Recht wurde durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte als Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention angesehen. Der Bundesgerichtshof hat diese Rechtsprechung daraufhin im Wesentlichen übernommen und im Jahre 2007 die Rechtslage in Deutschland durch Entscheidungen verschärft, wonach es beispielsweise ein prominenter Fußballspieler nicht mehr dulden muss, dass man ihn beim Spaziergang in St. Tropez ablichtete, ohne dass ein über den Abbildungsgegenstand hinausgehender Informationswert hiermit verbunden ist. Ebenso erkannte der BGH im Falle von Spaziergehfotos des Sängers Herbert Grönemeyer und seiner Freundin in Rom. Für einen großen Teil von Boulevardmedien ist diese Einschränkung nicht unerheblich.

Das Recht hat der medialen Fehlentwicklung deutliche Grenzen gesetzt. So schuf der deutsche Gesetzgeber mit dem neuen § 201 a im Strafgesetzbuch (StGB) eine Norm, die bereits das bloße Herstellen von Fotoaufnahmen für den Bereich der Intimsphäre als strafbar erachtet. Auch das Bundesverfassungsgericht stellte in der sogenannten Stolpe-Entscheidung neue Anforderungen an die Formulierungen in der Wortberichterstattung:

Bisher gab es nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts das Privileg der Deutungsmehrheit. Bei streitigen Auseinandersetzungen um mehrdeutige Äußerungen wurde für die Frage der Haftung des Journalisten die für die Medien günstigste zugrundegelegt. Von diesem Rechtsgrundsatz hat das Bundesverfassungsgericht Abstand genommen. Nunmehr gilt, dass die Presse für jede mögliche Deutung einer Aussage haftet, auch wenn der zur Haftung führende Aussagegehalt gar nicht gemeint war. Sinngemäß erklärt das Bundesverfassungsgericht, dass die Journalisten die Möglichkeit haben, hinreichend genau zu formulieren, um andere Deutungen auszuschließen. Wie sich dieses Urteil in der Praxis der Wortberichterstattung auswirken wird, ist gegenwärtig noch nicht absehbar. Jedenfalls sind die Anforderungen an die journalistische Sorgfaltspflicht durch den Spruch aus Karlsruhe eindeutig gewachsen.

Im Verhältnis Persönlichkeitsrecht und Medienberichterstattung lassen sich die Entwicklungen der letzten Jahre so zusammenfassen: Trotz eindeutiger rechtlicher Situation, was den Schutz vor Unwahrheit, Schmähkritik und Indiskretion angeht, nahmen die Eingriffe in diese geschützten Rechtsgüter in kaum noch zu verfolgender Dynamik zu. Als Folge dessen kam es zu einer Verschärfung der Rahmenbedingungen für die Berichterstattung in bisher noch nicht da gewesenem Ausmaße. Dies hat sich faktisch auf die Praxis aller Medien ausgewirkt, obwohl die Verschärfungen vornehmlich durch die Boulevardmedien verursacht worden sind. Betroffen ist durch die Verschärfung faktisch auch der seriöse Journalismus, was nicht selten zu »Scheren in Köpfen« der Journalisten führt – aus Angst vor Ansprüchen, die nunmehr in weitaus mehr Fällen denkbar sind. Es bleibt abzuwarten, wie die Entwicklung hier weitergeht. So ist gar nicht auszuschließen, dass sich die Dinge auch wieder auf ein für beide Seiten »normales Maß« reduzieren, das heißt die Medien die persönlichkeitsrechtlichen Mindeststandards beachten und dies wiederum zu einer Entspannung im Recht führt.

Die praktische Durchsetzung von Persönlichkeitsschutz

Einer drohenden oder erfolgten Berichterstattung mit ehrverletzenden Behauptungen oder Indiskretionen ist man nicht hilflos ausgeliefert, Persönlichkeitsschutz lässt sich mit den vorhandenen rechtlichen Mitteln durchaus erfolgreich durchsetzen. In der Praxis gibt es drei Stadien, in denen rechtliche Schritte in Betracht kommen und auch nachgewiesenermaßen sinnvoll sind:

Der Betroffene erfährt vor einer Veröffentlichung von Recherchen, die entweder schon aufgrund der gestellten Fragen der Journalisten befürchten lassen, dass hier eine Falschdarstellung erfolgen könnte, oder auch dass massive Eingriffe in die Privatsphäre beabsichtigt sind. Bereits in diesem Stadium ist es zu empfehlen, durch presserechtliche Beratung und Interessenvertretung die Berichterstattung entweder zu verhindern oder zumindest so zu beeinflussen, dass eine Persönlichkeitsrechtsverletzung ausgeschlossen wird. Durch ein entsprechendes presserechtliches Informationsschreiben kann der zuständige Journalist oder auch die Rechtsabteilung des jeweiligen Verlages darauf hingewiesen werden, dass sich aus dem Gehalt der Frage ergibt, dass hier eine Falschberichterstattung droht und man davon ausgeht, dass die Stellungnahme des Betroffenen vollständig in den Bericht eingearbeitet wird oder sogar aufgrund der eindeutigen Erklärung eine Berichterstattung mangels Berichterstattungsanlass unterbleibt.

Nichts anderes gilt im Bereich der Intimsphäre. Oftmals erfährt ein Betroffener, dass beabsichtigt ist, über eine drohende Scheidung, Trennung, Krankheit zu berichten. Auch hier kann im Vorfeld durch Hinweis auf die Rechtslage das Medium dahingehend sensibilisiert werden, von einer Berichterstattung Abstand zu nehmen. Es gilt nämlich der Grundsatz, dass bereits unter dem Gesichtspunkt der sogenannten Hartnäckigkeit ein Schmerzensgeld gezahlt werden muss. Wird also das Medium bereits im Vorfeld darauf hingewiesen, dass eine Verletzung durch Indiskretion droht, und ignoriert es den Hinweis, ist nicht selten von einem Schmerzensgeldanspruch auszugehen. Die Praxis zeigt, dass die Medien durchaus bereit sind, derartige Argumente zu berücksichtigen oder auch ganz von einer Berichterstattung Abstand zu nehmen.

Die zweite Variante ist, dass der Betroffene, ohne zuvor von Recherchen Kenntnis zu erhalten, am Morgen mit einer Schlagzeile über sich konfrontiert wird. Insofern sie persönlichkeitsrechtsverletzend ist – etwa wenn eine unwahre Behauptung aufgestellt wird, eine Schmähung enthalten ist oder Informationen über das Privatleben verbreitet werden –, ist die presserechtliche Empfehlung, gegen die sogenannte Erstberichterstattung unverzüglich die notwendigen rechtlichen Schritte einzuleiten – also Unterlassung, im Falle von Unwahrheit auch Gegendarstellung und Widerruf – und Schmerzensgeldansprüche zu prüfen. Die anderen Medien sind auf die Rechtswidrigkeit der Erstberichterstattung hinzuweisen, verbunden mit der Empfehlung, von einer Übernahme der Berichterstattung Abstand zu nehmen. Durch diese presserechtliche Interessenvertretung kann zumindest verhindert werden, dass die Persönlichkeitsrechtsverletzung durch die Übernahme in anderen Medien weitergeht. Nicht selten liegt darin das Hauptproblem. Oftmals kann aber dieser Schneeballeffekt verhindert und eine bereits durch die Erstberichterstattung »angefahrene« Kampagne im Keim erstickt werden.