Vorwort
Prolog im Kreml
Reykjavík
Wedel
Flug
Moskau
Gorbatschow
Teufelsflieger
Lefortowo
Untersuchung
Prozess
Mythen
Begnadigung
Folgen
Heimkehr
Epilog am Kreml
Anhang
Interviews
Anmerkungen
Literaturverzeichnis
Personenregister
Dank
Angaben zum Autor
Mathias Rust und die Folgen eines Abenteuers
In Kooperation mit der
Filmproduktionsgesellschaft Gebrüder Beetz
Ch. Links Verlag, Berlin
Biografische Angaben zu den vorkommenden Personen finden sich im annotierten Personenregister am Ende des Buches.
Die kursiv gedruckten Passagen in diesem Buch sind Ausschnitte aus Interviews, die von der Filmautorin Gabriele Denecke für den Film »Der Kreml-Flieger« der Produktionsfirma Gebrüder Beetz sowie vom Autor des vorliegenden Bandes geführt wurden.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
www.dnb.de abrufbar.
1. Auflage, Juni 2012 (entspricht der 1. Druck-Auflage von April 2012)
© Christoph Links Verlag GmbH
Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0
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Covergestaltung: Conni Robe, www.abschalten.tv
eISBN: 978-3-86284-182-0
Schauen wir sieben Monate zurück: Am 11. Oktober 1986 treffen sich Gorbatschow und der amerikanische Präsident Ronald Reagan in Reykjavík zu Abrüstungsgesprächen. Von diesem Gipfeltreffen erhofft sich Gorbatschow viel. Er ist entschlossen, den Teufelskreis des Wettrüstens zu durchbrechen, der sein Land gigantische Summen kostet.
»Von jeher unterlagen alle Angaben, die die Ausgaben für militärische Zwecke und überhaupt die Lage der Armee, den Zustand der Forschungen im militärisch-industriellen Komplex und Informationen darüber betrafen, inwieweit Finanz- und Materialressourcen zu Verteidigungszwecken genutzt wurden, absoluter Geheimhaltung«, schreibt Gorbatschow in seinen Erinnerungen. »Nicht einmal den Mitgliedern des Politbüros war dergleichen vollständig bekannt, ja im Grunde blieben sie so etwas wie Erfüllungsgehilfen, wenn sie ihre Unterschriften unter ›streng geheime‹ Beschlüsse setzten, ohne das Recht zu haben, irgendwelche Fragen zu stellen. Ustinow beispielsweise, der den Verteidigungsbereich lange Jahre betreute, übte eine Art Monopol in Sachen Militärpolitik aus. Außer Breschnew wagte es kein Mitglied des Politbüros, sich dafür auch nur zu interessieren, geschweige denn Informationen anzufordern. … Aber nicht nur der Rüstungsetat, sondern auch der Staatshaushalt war in seinen realen Dimensionen ein Geheimnis. Das Haushaltsdefizit wurde der Gesellschaft vorenthalten; Millionen Sparer ahnten nicht einmal, daß zur Absicherung des Haushalts rechtswidrig der Sparkasse Mittel entlehnt wurden. Und wer wußte schon, daß der Zuwachs des Verteidigungsetats seit vielen Jahren anderthalb-, ja, zweimal höher war als das geplante und das reale Wachstum des Nationaleinkommens!«5
Schon der alte, kranke und kraftlose Breschnew, der kaum noch zu politischen Aktivitäten fähig war, klagte im Kreise von Vertrauten: »Gretschko sagt zu mir: ›Sie (die Amerikaner) steigern hier und erhöhen dort, gib mir noch mehr Geld – nicht 140, sondern 156 Milliarden.« Und wie soll ich reagieren? Als Vorsitzender des Militärrates des Landes bin ich verantwortlich für seine Sicherheit. Der Verteidigungsminister erklärt mir, wenn ich nichts gebe, lehnt er jede Verantwortung ab. Nun so gebe ich, wieder und wieder. Und die Gelder fliegen.«6
Valentin Falin: »Am Ende der Regierung Breschnews wurden 23 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für das Wettrüsten ausgegeben, während es in den Vereinigten Staaten nur 7,8 Prozent waren. Aus diesem Grund hatten wir einen so niedrigen Lebensstandard. 83 Prozent unserer Wissenschaftler und Mitarbeiter in Konstruktionsbüros arbeiteten ausschließlich für Militär- oder Paramilitärzwecke. Wie viel bleibt da noch – 17 Prozent? Dadurch, dass wir immer weiter gingen, haben wir uns selbst verdammt. Ich habe es immer gesagt – in Gesprächen mit Chruschtschow, Breschnew, Andropow und danach mit Gorbatschow – wir führen dieses Wettrüsten nicht gegen die Vereinigten Staaten, sondern gegen uns selbst. Wir dienen bloß der Politik der Vereinigten Staaten, die schon 1946 formuliert wurde, nämlich, die Sowjetunion mit Hilfe des Wettrüstens bis ans Ende zu treiben.«7
Die Wahl der isländischen Hauptstadt als Tagungsort des Gipfeltreffens ist ein Kompromiss. Das Verhältnis der beiden Weltmächte ist zu diesem Zeitpunkt so gespannt, dass keiner der Führer bereit ist, das Land des jeweils anderen zu betreten. Island liegt ungefähr auf halber Strecke, ist jedoch Mitglied der NATO, worüber Gorbatschow großzügig hinwegsieht.
Man verhandelt in der ehemaligen Britischen Botschaft, dem sogenannten Höfdi-House (heute Reagan-Gorbatschow-Haus), das direkt an der Atlantikküste liegt. Das ist praktisch für die sowjetische Delegation, wohnen doch die dreihundert Mitglieder auf einem Schiff vor der Küste.
Das Erdgeschoss des Höfdi-Hauses ist der Tagungsraum der Staatschefs, im ersten Stock sitzen die Experten: von sowjetischer Seite u. a. Außenminister Eduard Schewardnadse, Gorbatschow-Berater Aleksandr Jakowlew und Generalstabschef Sergej Achromejew; von amerikanischer Seite Außenminister George Shultz und Admiral John Pointdexter.
Der Knackpunkt heißt SDI (Strategic Defense Initiative), Reagans geplantes weltraumgestütztes System zur Abwehr von Kontinentalraketen, auch als »Krieg der Sterne« bekannt. Die amerikanische Seite ist nicht bereit, auf dessen Entwicklung zu verzichten. So endet das Gipfeltreffen nach zwei Tagen ohne konkretes Ergebnis. Es gibt nicht einmal ein gemeinsames Schlusskommuniqué. Doch man ist sich menschlich etwas nähergekommen. Reagans Überzeugung, dass die Sowjetunion das »Imperium des Bösen« sei, bekommt Risse. Der Boden für spätere erfolgreiche Abrüstungsverhandlungen ist bereitet. Auf den ersten Blick jedoch und nach außen hin ist das Treffen gescheitert.
Zurück in der Sowjetunion, wendet sich ein enttäuschter Gorbatschow in einer Fernsehansprache an sein Volk: »Buchstäblich zwei, drei Schritte vor Beschlussfassung, von Beschlüssen, die historisch hätten werden können, wurden diese Schritte nicht getan. Die Wende in der Weltgeschichte fand nicht statt, obwohl, ich sage es nochmals, obwohl es möglich war.«
Zur gleichen Zeit verfolgt rund 2000 Kilometer südöstlich von Reykjavík, in dem kleinen Hamburger Vorort Wedel, ein Achtzehnjähriger aufgewühlt das Geschehen. Er heißt Mathias Rust, wohnt bei seinen Eltern und absolviert eine Lehre als Bankkaufmann. Seit er fünfzehn ist, seit dem »Heißen Herbst« 1983, interessiert er sich brennend für das Thema Abrüstung. Der Nato-Doppelbeschluss zur Stationierung atomarer Mittelstreckenraketen in Europa treibt in der Bundesrepublik viele Friedensbewegte auf die Straße. Doch Rust erlebt, dass alles Protestieren daheim nichts verändert. Das Sichbewegen in der Masse ist sowieso nicht sein Ding – noch heute bezeichnet er sich als Einzelgänger, als Einzelkämpfer. Die sture Haltung Helmut Schmidts, so empfindet es Rust, möglichst in jedem Vorgarten eine »Pershing II« zu installieren, empört ihn.
Jetzt, im Jahre 1986, blickt er hoffnungsvoll nach Reykjavík und muss erleben, wie Reagan Gorbatschow abblitzen lässt. Sein Herz schlägt leidenschaftlich für den neuen Superstar am Politikerhimmel, den sympathischen jungen Kremlchef, der sich so grundsätzlich von allen seinen Vorgängern unterscheidet, der sich so glaubwürdig wie erfolglos um den Weltfrieden bemüht und trotz weitreichender Zugeständnisse mit leeren Händen nach Hause fahren muss. Rust ist davon überzeugt, dass Gorbatschows Zeit bald abgelaufen sein wird, wenn er nicht schnell Erfolge aufweisen kann. Er weiß, dass das Scheitern Gorbatschows Wasser auf die Mühlen seiner Gegner im eigenen Land ist. Für ihn stellt es sich so dar, dass die Gefahr besteht, dass der Kremlführer ausgetauscht und durch jemanden ersetzt wird, der den alten Konfrontationskurs fortsetzt, auf die Gefahr hin, dass der Kalte Krieg in einen heißen, atomaren umschlagen kann. Und er ist überzeugt davon, dass die westliche Welt an einem Abrüstungskurs gar nicht interessiert ist.
Mathias Rust ist kein lauter Protestierer, sondern ein stiller, in sich gekehrter Träumer. Doch seine Träume sind ganz und gar realitätsbezogen. Er träumt schlicht von einer besseren, gerechteren Welt. Das tun in dieser Zeit viele, doch Rust belässt es nicht dabei, sondern er schreibt seine Gedanken auf. Er nennt sein Traumland »Lagonia« und formuliert auf vierzig Seiten einen neuen Gesellschaftsentwurf. Er möchte die Vorteile beider Systeme in einer »erstrebenswerten Idealgesellschaft« zusammenführen.
Dieses Papier ist alles andere als spinnert, seine Vorstellungen sind sehr konkret und basieren teilweise auf dem eidgenössischen System der Schweiz: vor allem mehr Basisdemokratie, keine Parlamente, nur Beratungsgremien, die die Gesetzesentwürfe erarbeiten, über die dann die wahlberechtigten Bürger selbst abstimmen.
Festgeschriebene Grundrechte, wie Recht auf Wohnung für jeden ab der Volljährigkeit, garantierte Ausbildung nach eigener Befähigung und Beschäftigungsgarantie.
Schlüsselindustrien wie beispielsweise die Energieversorgung und andere für die Grundversorgung der Bevölkerung notwendigen Bereiche ausschließlich im Staatseigentum.
Lohn und Gehaltszahlungen sind nicht festgeschrieben und richten sich nach der Leistungsfähigkeit des Einzelnen.
Preisgarantie für die Grundnahrungsmittel. Vereinfachtes Steuersystem. Einheitlicher Einkommenssteuersatz. Keine Abschreibungsmöglichkeiten, weder für Privatpersonen noch für Institutionen.
Transparente Justiz. Haftstrafen sekundär. An erster Stelle steht die sofortige Reintegration des straffällig Gewordenen.
Unantastbarkeit der Persönlichkeitsrechte durch die Medien. Eingeschränkte und nur nichtkaufrauschfördernde Werbung.
Mit einem Wort, eine Gesellschaft, in der wohl die Mehrheit der Menschen nur zu gern leben würde, eine Community, so schreibt er, frei von Selbstsucht, Gier und Prasserei.
Vieles davon steht auch heute noch, über fünfundzwanzig Jahre später, auf den Wunschzetteln vieler Menschen, in den Programmen von Parteien und NGOs (Nichtregierungsorganisationen).
Doch im Gegensatz zu den meisten Menschen belässt Rust es nicht bei diesen theoretischen Überlegungen. Voller Leidenschaft überlegt er, was er als Einzelperson tun, welchen Beitrag er persönlich zur Völkerverständigung leisten kann. Und in seinem Kopf beginnt eine Idee Gestalt an- und immer mehr Raum einzunehmen.
Seit 1985 ist er Mitglied im Aero-Club Hamburg. Die Lehrausbildung bei der Bank bricht er ab, Fliegen ist seine große Leidenschaft, seine Berufung – ein Flugverrückter. Das Fliegen hat ihn von klein auf fasziniert, dieses Losgelöstsein, wie er es nennt, diese unendliche Freiheit, zwischen den Wolken zu schweben – so wie es auch Reinhard Mey in seinem berühmten Lied beschreibt.
Sein Fluglehrer sieht ihn so: »Der Mathias war so fasziniert von der Fliegerei, das habe ich noch nie vorher erlebt. Und dennoch: Er war kein Draufgänger, sondern ein sehr disziplinierter Flieger.«8
Sein neues Berufsziel deshalb folgerichtig: Pilot oder Fluglehrer. Mit siebzehn beginnt er mit der Ausbildung, mit achtzehn macht er den Pilotenschein. Der kostet 10 000 D-Mark, die seine Eltern bezahlen.
Ansonsten ist der Hamburger Aero-Club kein Verein der Millionäre. Seine Mitglieder sind Durchschnittsverdiener, denn der Club ermöglicht es ihnen, zu moderaten Preisen zu fliegen. Eine Flugstunde, inklusive Benzin, kostet ungefähr 200 DM. Man kann auch für längere Reisen ein Flugzeug chartern, dann kostet die Flugstunde 138 DM. Rust jobbt bei einem Geschenke-Großversand in der Datenverarbeitung und verdient sich so die Mittel für sein geliebtes Hobby. 1986 hat er das Geld für einen großen Urlaub zusammen, eine reine Flugreise soll es werden. Doch im Oktober 1986 beschließt er, angesichts des in seinen Augen gescheiterten Gipfels in Reykjavík, das Geld für eine Friedensmission zu nutzen. Er will nach Moskau fliegen und mit Gorbatschow reden.
Von seinem Vorhaben erzählt er niemandem, auch nicht seinen Eltern, denn er weiß, wenn es zum Erfolg führen soll, muss er es für sich behalten. Seine Mutter würde ihm seinen Plan ausreden. Also bereitet er sich in aller Stille vor.
Mathias Rust ist Sichtflieger, das heißt, er kann nur zu einer Jahreszeit fliegen, in der Sichtflug möglich ist. Deshalb wartet er bis zum Frühjahr und nutzt die Zeit bis dahin, um seine Reise vorzubereiten. Er besorgt sich als Erstes das notwendige Kartenmaterial. Das ist unkompliziert; es gibt einen Flugkartenversand, eine bundesdeutsche Firma, die amerikanische Karten vertreibt. Auch über die Sowjetunion. Das sind frei verkäufliche, für die Fliegerei bestimmte Flugkarten. So macht er sich mit möglichen Flugrouten vertraut. Einen guten Stadtplan von Moskau findet er im Buchhandel.
Der Hamburger Aero-Club verfügt über vier Flugzeuge, die man chartern kann. Rust entscheidet sich für das mit der größten Reichweite. Etwa 1600 Kilometer nonstop schafft die Cessna F 172 N »Skyhawk/Reims«. Er chartert den Himmelsfalken für drei Wochen im Mai.
Die Cessna 172 ist ein sogenannter Schulterdecker amerikanischer Produktion – ein unter Privatpiloten wegen seiner Gutmütigkeit äußerst beliebtes Flugzeug. Es gilt als robust und unverwüstlich, wenn auch als etwas langsam. Und man kann mit diesem Flieger auf jedem Stoppelacker gefahrlos landen. Hundertfünfzig Meter reichen, um zum Stillstand zu kommen.
Rust hat folgenden Plan: Er will zuerst nach Reykjavík fliegen, um auszuprobieren, ob er die Kraft und mentale Stärke hat für seine eigentliche Mission, den Flug nach Moskau. Ein Testflug, um sich selbst auf die Probe zu stellen, um zu sehen, ob er nicht den »Tadder« kriegt, wie er sagt. Dann hätte er sein Vorhaben abgebrochen, denn im Mai 1987 hat Rust gerade mal fünfzig Flugstunden absolviert. Eigentlich gilt die Regel, dass man mindestens das Zehnfache bewältigt haben sollte, um einen Flug über den Atlantik zu wagen. Und ihm ist auch klar, dass der Flug nach Moskau, wenn er ihn denn wagt, eine starke psychische Belastung sein wird. Von Reykjavík will er über Norwegen nach Helsinki fliegen, um von dort seine letzte Etappe anzugehen.
Es gibt zwei Gründe für den weiten Umweg über Island: Erstens sagt er sich, wenn er diesen langen Flug schafft, dann ist das letzte kleine Stück von Helsinki nach Moskau eher ein Katzensprung. Der zweite Grund ist ein spiritueller: Er will, so formuliert er es, den »Geist des großen Ereignisses« in sich aufnehmen, nämlich des Gipfeltreffens von Gorbatschow und Reagan.
Um Platz für sein Gepäck und seinen Navigationskoffer zu schaffen, baut er in Hamburg mit Hilfe seines Vaters den Sessel des Kopiloten und die hintere Sitzbank aus. Er verstaut einen Motorradhelm und mehrere Exemplare seines Gesellschaftsentwurfes »Lagonia« an Bord.
Und noch etwas bereitet er vor: Er besorgt sich goldfarbene selbstklebende Folie und bastelt heimlich etwas daraus, das er später einsetzen will.
Als Mathias Rust am 13. Mai 1987 um 10.51 Uhr vom Flugplatz Uetersen startet, ist er sich durchaus noch nicht sicher, ob er es wirklich wagen wird, seinen verwegenen Plan in die Tat umzusetzen.
Sein erster Halt ist Westerland auf Sylt. Dort tankt er und erledigt die Zollabfertigung. Nun geht es weiter nach Sumbourgh auf den schottischen Shetland-Inseln, wo er nach fünfstündigem Flug über die Nordsee landet. Am nächsten Tag steuert er Vágar auf den zu Dänemark gehörenden Färöer-Inseln an. Von dort fliegt er am 15. Mai nach Reykjavík/Island. Alles geht gut.
Acht Tage bleibt er auf der grünen Insel. Er nimmt sich einen Mietwagen, um zum Höfdi-House zu fahren, dem Ort, an dem die Gespräche zwischen den Staatschefs stattgefunden hatten. Nach einigem Suchen findet er es – das Haus ist verschlossen. Dennoch glaubt er den Geist des Ortes zu spüren. Er fühlt sich in seinem Vorhaben bestärkt. Er gönnt sich eine Woche Sightseeing, macht Rundflüge über der Insel und denkt an nichts anderes als an seine geplante Tour nach Moskau.
Als er von einem seiner Rundflüge über die wilde Vulkanlandschaft der Insel zurückkehrt, wird er vom isländischen Zoll erwartet. Man hätte ihn nicht über Funk erreichen können und habe ihn im Verdacht, dass er irgendwo gelandet wäre, um Nester geschützter Greifvögel auszunehmen und die Eier außer Landes zu schmuggeln. Offensichtlich ist das ein Problem in Island. Sein Flieger wird durchsucht – natürlich findet man nichts. Rust hat ganz andere Dinge vor, als Eier zu klauen.
Am 23. Mai fliegt er über Höfn an der Ostküste Islands zurück auf die Shetland-Inseln und von dort am 24. Mai weiter nach Bergen in Norwegen. Tags darauf geht es dann straff ostwärts nach Helsinki, wo er sich in der Stadt ein Hotelzimmer nimmt. Es ist Ende Mai noch kalt in Finnland, feucht und unangenehm. So grau und trostlos wie das Wetter sieht es auch in seiner Seele aus. Er ruft seine Eltern an und sagt, dass er noch zwei Tage bleiben und dann nach Hause zurückkehren wolle. In dieser Zeit macht er weite Spaziergänge, grübelt und kann sich nicht entscheiden.
Tatsächlich fällt die Entscheidung erst, als er am Himmelfahrtstag, dem 28. Mai, um 13.21 Uhr vom Flughafen Helsinki-Malmi abhebt. In der Luft geht alles plötzlich wie von selbst, er braucht nur noch seinem inneren Impuls zu folgen.
Als Zielort hat er in seinem Flugplan, den er im Flughafengebäude vorlegt, Stockholm angegeben, Flugzeit drei Stunden, Navigationsverfahren Sichtflug, Tanks voll. Der Chef des Flugplatzes Malmi, zehn Kilometer nordöstlich der Hauptstadt, wird später sagen, dass Letzteres ihm etwas seltsam vorkam – volle Tanks für einen Drei-Stunden-Flug? Diese Füllung hätte für acht Stunden gereicht!
Wie angegeben hebt Rust in westlicher Richtung ab. Doch dann verliert ihn die Radarkontrolle von den Bildschirmen, er taucht wenig später wieder auf, in südliche Richtung an der Küste entlangfliegend, dann in östliche Richtung abdrehend – und verschwindet endgültig. Vom Tower des Flughafens wird eine Vermisstenmeldung ausgegeben. Ein Hubschrauber entdeckt auf der Oberfläche einer Meeresbucht einen Ölfleck und alarmiert die Küstenwache. Rettungsboote laufen aus, Taucher suchen die vermeintlich abgestürzte Cessna – vergeblich. Die Such- und Rettungsaktion wird erst abgebrochen, als die Nachricht seiner Landung in Moskau eintrifft.
Währenddessen befindet sich Mathias Rust auf dem direkten Kurs von 117 Grad nach Moskau. So lange es geht, bleibt er auf diesem Radial, dann fliegt er nach Kompass. Und er ist nicht, wie später immer wieder behauptet werden wird, im Tiefflug unterwegs, um unter dem Radar der sowjetischen Luftabwehr durchzutauchen, sondern, ganz im Gegenteil, immer in wenigstens 600 Metern Höhe. Bewusst hält er die Maschine so hoch, um möglichst früh erfasst zu werden, denn er sagt sich, was man lange sieht, fürchtet man nicht. Er will nicht den Eindruck erwecken, dass sich da jemand auf Baumwipfelhöhe einschleicht, denn der hätte bestimmt schlechte Absichten – er jedoch kommt ja in freundlicher Absicht. Er will mit seinem Flug eine imaginäre Brücke schlagen zwischen Ost und West. Er will in Moskau auf dem Roten Platz landen. Er will mit Gorbatschow zusammentreffen, um ihm zu sagen, »dass die Mehrheit der Bevölkerung im Westen an ihn glaubt und genauso von der Notwendigkeit von Friedensverhandlungen und dem Dialog überzeugt ist wie er auch« und dass viele Menschen im Westen »ein neues Kapitel im Buch des Friedens aufschlagen wollen. So waren meine Vorstellungen, so ganz naiv und jugendlich.«
Er will Gorbatschow in seinen Friedens- und Abrüstungsbemühungen bestärken, er, der Mathias aus Wedel. Er befindet sich auf Friedensmission. Und deshalb hat er bei seinem Aufenthalt in Island Symbole auf sein Flugzeug geklebt, sein Missionssymbol, wie er es nennt, das er in Deutschland aus der goldfarbenen selbstklebenden Folie gebastelt hat. Sechs Stück hat er davon in Wedel angefertigt und klebt jeweils eins auf die Ober- und Unterseite der Tragflächen sowie rechts und links auf das Seitenleitwerk.
Das Symbol besteht aus fünf Teilen: in der Mitte eine Kugel, die die Erde symbolisiert, darüber, am Nordpol, ein Dreieck, das den Himmel darstellt, und darunter, am Südpol, drei ovale Beine, die Säulen, auf denen die Erde steht, Frieden, Freiheit und Hoffnung.
Die Genossen vom KGB werden später jedoch finden, dass das Ding eher »Little Boy« ähnelt, der Atombombe von Hiroshima.
Seine Friedensmission nähert sich jetzt der sowjetischen Küste. Bei Kohtla-Järve im Nordosten Estlands, damals Teil der UdSSR, dringt er, wie es so schön heißt, in den sowjetischen Luftraum ein. Er setzt seinen Motorradhelm auf und hofft, dass der ihm im Falle eines Abschusses das Leben rettet.
Rust erinnert sich heute, dass er sich fast in einem tranceartigen Zustand befunden hätte: »Ich war nicht entspannt wie auf einem Rundflug oder Überlandflug, wie ich ihn vorher schon oft gemacht hatte. Es war eher so ein automatisierter Flug. Ich habe die Überwachungsgeräte, die Flughöhe, die Geschwindigkeit, die Notüberwachungsinstrumente kontrolliert, aber im Grunde genommen habe ich fast das Gefühl gehabt, als ob ich neben mir war. So eine Out-of-Body-Erfahrung, würde ich sagen. Das Lebensgefühl kam erst zurück, als ich in Moskau ausstieg, neben dem Flugzeug stand und wusste: Jetzt ist es vollbracht!«
Aber noch ist es längst nicht so weit. Ungefähr nach einer Stunde Flugzeit taucht ein sowjetisches Militärflugzeug auf, ein zweisitziger Düsenjäger vom Typ MiG-23. Auf seiner linken Seite, etwas tiefer, zieht die Maschine an ihm vorbei. Rust kann die beiden Piloten in ihren orangefarbenen Overalls sehen, die weißen Helme, die Sauerstoffmasken, den roten Stern am Leitwerk:
»Das war ein Moment großen Schreckens, ich weiß noch, da war ich wie erstarrt, saß hinter dem Steuerhorn und hatte das Gefühl, dass mein Herz ziemlich tief in die Hose gerutscht war. Ich dachte: Oh Gott, jetzt ist der entscheidende Moment, jetzt wird sich entscheiden, was passiert. Entweder wird man mich jetzt auffordern zu folgen durch gewisse Flugmanöver, oder man wird mich abfangen, abschießen – oder es wird gar nichts geschehen.«
Das Follow-me-Signal ist ein Wackeln mit den Tragflächen. Dann ist man verpflichtet, zum nächsten Flugplatz oder Flugfeld zu folgen und zu landen. Das hätte er natürlich auch getan, sagt er, denn ansonsten hätte es wahrscheinlich Warnschüsse mit Leuchtspurmunition gegeben. Und wenn er auch darauf nicht reagiert hätte, dann, ja, »dann hätten sie mich wohl runtergeholt«.
Aber es geschieht nichts, kein Wackeln, keine Warnschüsse – der Jäger umkreist ihn noch einmal und verschwindet.
Dies ist auf seinem mehr als fünfstündigen Flug von Helsinki nach Moskau der einzige Kontakt mit der sowjetischen Luftabwehr. Später wird er seine KGB-Vernehmer fragen, was diese Begegnung in der Luft zu bedeuten gehabt habe, und wird die verblüffende Antwort erhalten, die Abwehr hätte ein Signal auf dem Radarschirm gehabt und wollte nur mal nachschauen, was da los sei.
Einen Versuch der Kontaktaufnahme über Funk gibt es auch nicht. Direkter Funkverkehr zwischen Militär- und Zivilmaschinen ist sowieso nicht möglich, da das Militär auf anderen, höheren Frequenzen sendet. Später wird man lesen können, er hätte sein Funkgerät abgeschaltet. Aber auch das stimmt nicht, seine Notfrequenz 121,50 Megahertz ist die ganze Zeit eingerastet. Er hat UKW-Radionavigation an Bord, ein System, das sich VOR nennt und Bodensignale bis ungefähr 150 Kilometer Entfernung empfangen kann. Auch die Behauptung, er wäre, um die sowjetische Hauptstadt zu finden, der schnurgeraden Bahntrasse Leningrad – Moskau gefolgt, ist Unsinn. Rust fliegt auf seinem Radial 117, der ihn weit westlich von der Bahntrasse nach Moskau führt.
Auf seinem Flug sieht Rust ausgedehnte Wälder, einige Industrieanlagen, ein paar Seen – irgendwann zeichnet sich am Horizont die Silhouette einer großen Stadt ab: Moskau. Es ist kurz nach 18.00 Uhr. Er spürt eine gewisse Erleichterung. Jetzt wird ihm langsam klar, dass er es schaffen wird. Er setzt seinen Motorradhelm ab – über der großen Stadt werden sie ihn bestimmt nicht abschießen, denkt er.
Zuerst erkennt er das gewaltige Gebäude des Außenministeriums mit seinem spitzen Turm, ein typischer Bau der Stalin-Zeit. Doch den Roten Platz sucht er eine halbe Stunde lang vergeblich. Auf seiner Karte sind besonders markante Gebäude dreidimensional dargestellt. So findet er das Hotel Rossija, mit seinen 3170 Zimmern einst das größte Hotel der Welt:
»Ich habe dieses Gebäude aus der Luft gesehen, und da habe ich den Roten Platz entdeckt. Der war richtig mickrig und klein daneben. Ich dachte, oh Gott, hoffentlich stimmen die Dimensionen, dass ich da wirklich runterkomme. Und dann bin ich ein paar Mal gekreist und habe festgestellt, dass sich unheimlich viele Leute auf diesem Platz aufhielten.«
Was jetzt? Mehrmals überfliegt er den Platz in niedriger Höhe und versucht den Leuten zu verstehen zu geben, dass er landen will. Aber jedes Mal laufen die Menschen wieder in der Mitte zusammen. Und so entschließt er sich zu einer anderen Variante: »Nachdem ich dreimal tief über den Roten Platz geflogen war, maximal zehn bis fünfzehn Meter Flughöhe nur, habe ich gedacht, das Risiko ist zu groß. Das war immer sehr schwierig, am Ende des Platzes wieder hochzukommen, da war ein hohes Gebäude und noch ein Baukran, da musste ich mich immer durchzirkeln. Nach dem dritten Mal dachte ich, beim vierten Mal geht es vielleicht nicht so gut, da lande ich zwischen den Zinnen. Ich musste eine Alternative finden.
Dann habe gedacht, vielleicht kann ich im Kreml selbst landen? Das hätte auch geklappt, weil da wenige Leute waren – aber das war mir ein zu großes Risiko. Ich wollte die Leute, die Passanten, als Augenzeugen haben, weil ich vom KGB auch nichts Gutes gehört hatte. Ich dachte, wenn ich da ohne Augenzeugen lande, fangen die mich einfach weg, stecken mich in den Keller, und dann sagen die, da ist nichts gewesen! Und deswegen wollte ich da landen, wo mich alle sehen können, damit man mich eben nicht so beiseiteschaffen konnte.
Schließlich habe ich diese vierspurige Brücke entdeckt, die in unmittelbarer Nähe des Roten Platzes über die Moskwa führte, mit wenig Autoverkehr drauf. Da habe ich gedacht, das ist ja optimal, da lande ich, rolle zum Roten Platz und die Sache ist erfüllt.