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Jack London

Ruf der Wildnis

 

Jack London

Ruf der Wildnis

 

 

(The Call of the Wild, 1903)

Überarbeitung, Umschlaggestaltung: Null Papier Verlag
Published by Null Papier Verlag, Deutschland

Copyright © 2012, 2013 by Null Papier Verlag

2. Auflage, ISBN 978-3-95418-116-2

www.null-papier.de/wildnis

 

 

Das Buch

»Ruf der Wildnis« ist ein Roman von Jack London. Darin beschreibt der Schriftsteller das harte Leben zur Zeit des Goldrausches Anfang des 20. Jahrhunderts in Alaska aus der Sicht eines Hundes.

Das Buch wurde ein früher Klassiker der Jugend- und Unterhaltungsliteratur und mehrfach verfilmt. London erlangte vor allem Bekanntheit durch seine Abenteuerromane »Ruf der Wildnis« und »Wolfsblut« sowie durch den mehrfach verfilmten Abenteuerroman »Der Seewolf«. Vergleichen ließe sich die Wirkung bei der Leserschaft am ehesten mit den Werken von Mark Twain, mit dem London auch den damals zu Lebzeiten noch ungewöhnlichen finanziellen Erfolg teilte. Sein literarisches Werk wurde international erfolgreich und in zahlreiche Sprachen übersetzt.

Ein beliebtes Thema Londons war der Konflikt zwischen Natur und Kultur.

Als Kind schon auf Bücher versessen, nahm das Leben ihn früh in die Pflicht und ließ ihn als Jugendlichen in einer Fabrik mehr als 16 Stunden täglich arbeiten – Erfahrungen, die in ihm einen fortschrittlichen und liberalen Geist wachsen ließen. Seine Berichte über die schlechten Arbeitsbedingungen der einfachen Leute werden heute verglichen mit den Romanen von Charles Dickens. Zwischen 1899 und 1916 verfasste er über 50 Bücher, einschließlich Roman- und Sachbuch, hunderte von Kurzgeschichten und zahllose Artikel in einer großen thematischen Bandbreite.

London starb jung im Alter von vierzig Jahren an Nierenversagen, bis zuletzt war er schriftstellerisch sehr aktiv.

 

 

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Kapitel 1. In die Wildnis

Buck las keine Zeitung, sonst hätte er gewußt, daß sich Unheil zusammenbraute, nicht nur für ihn selbst, sondern für jeden Hund, der starke Muskeln und langes, dichtes Haar hatte. Die Menschen hatten sich in die arktische Dunkelheit vorgewagt und ein gelbes Metall gefunden; und seitdem Schiffs- und Eisenbahngesellschaften begannen, auch diese öden Gegenden zu erschließen, zog es Tausende von Männern in das Nordland. Und diese Männer brauchten Hunde, Hunde mit kräftigen Knochen und dichtem Haar, die auch bei der bittersten Kälte den größten Anstrengungen gewachsen waren.

Bucks Heimat war ein großes Haus im sonnendurchfluteten Tal von Santa Clara. Es lag ein wenig abseits der Straße, halb versteckt unter Bäumen, durch die man die luftige Veranda sehen konnte, die rings um das stattliche Haus lief. Zwischen grünen Rasenflächen führte ein kiesbestreuter Weg gerade darauf zu. Hinter dem Haus lagen die weinumrankten Wohnungen der Dienerschaft, die Wirtschaftsgebäude und große Pferdestallungen, langgestreckte Laubengänge, Obstgärten und daran anschließend ausgedehnte Weideplätze. Es gab eine Pumpanlage für den Springbrunnen und ein großes Wasserbecken, in dem die Söhne des Farmers ihr Morgenbad nahmen oder sich an heißen Nachmittagen abkühlten.

Und über dieses große Reich herrschte Buck. Hier wurde er geboren, und hier verbrachte er die ersten vier Jahre seines Lebens. Freilich, es gab auf Millers Farm noch andere Hunde, wie es sich für einen so großzügigen Betrieb schickte, aber sie zählten nicht viel. Sie kamen und gingen, bevölkerten die Zwinger oder hielten sich im Haus auf, wie Toot, der dicke japanische Mops, oder Bella, der winzigkleine mexikanische Pinscher, seltsame Wesen, die kaum ihre Nasen zur Tür heraussteckten. Miller besaß auch noch etwa zwanzig Terrier, eine freche Gesellschaft, die drohend kläffte, sobald sie Toot und Bella am Fenster erblickte. Sie trieben es manchmal so arg, daß die Dienstmädchen sich mit Besenstielen bewaffneten und eingriffen, um Ordnung zu schaffen.

Buck aber war weder ein Haus- noch ein Kettenhund. Er war der Herr des ganzen Reiches. Er schwamm mit den Söhnen des Pflanzers im Wasserbecken oder ging mit ihnen auf die Jagd. Er begleitete Mollie und Alice, die beiden Töchter, auf ihren langen Streifzügen, und an den Winterabenden lag er zu Millers Füßen vor dem lodernden Kaminfeuer der Bibliothek. Er ließ die Enkelkinder auf seinem breiten Rücken reiten, balgte sich mit ihnen im Gras herum oder behütete ihre Schritte auf den Entdeckungsreisen durch die Ställe, den Park und die Obstgärten. Mit den Allüren eines Königs schritt er durch die Meute der anderen Hunde, und die beiden Schoßhündchen beachtete er überhaupt nicht, er, der Herrscher über alles.

Schon sein Vater Elmo, ein riesiger Bernhardiner, war der unzertrennliche Gefährte seines Herrn gewesen, und Buck versprach, seinem Vater in allen Dingen nachzugeraten. So groß wie er war er freilich nicht – er wog nur hundertvierzig Pfund –, denn seine Mutter war eine schottische Schäferhündin gewesen. Aber sein stolzes, würdevolles Benehmen glich die fehlende Größe aus, und wenn er so mit erhobenem Haupt herumstolzierte, war jeder Zoll an ihm adelig.

Und in der Tat, die ersten vier Jahre seines Lebens verbrachte er wie ein Edelmann. Trotzdem wurde aus ihm kein verzärtelter Haushund, dafür sorgten die Jagd und andere Spiele im Freien, die ihn nicht nur davor bewahrten, Fett anzusetzen, sondern ihm auch zu kräftigen Muskeln verhalfen.

So war die Lage, als im Herbst des Jahres 1897 die großen Goldfunde in Klondike Männer aus allen Ländern der Welt nach dem Norden lockten. Da aber Buck, wie gesagt, keine Zeitung las, so erfuhr er von alldem nicht das geringste. Leider wußte er auch nicht, daß Manuel, der Gärtnergehilfe, keine sehr wünschenswerte Bekanntschaft für ihn war. Manuel hatte eine unglückliche Eigenschaft: er spielte. Und da er nach einem bestimmten System spielte, das selten gewann, brauchte er Geld, viel Geld, und sein Lohn als Hilfsgärtner reichte nie aus.

Ein Abend, an dem sein Herr einer Versammlung beiwohnte und die Söhne die Gründung eines Sportklubs berieten, wurde Buck zum Verhängnis. Niemand hörte, wie Manuel Buck zu sich rief, und kein Mensch bemerkte es, wie er mit ihm über die Felder ging, als wollte er einen kleinen Spaziergang unternehmen. Auch Buck glaubte an nichts anderes. Ebensowenig sah es jemand, daß aus dem Schatten des kleinen Bahnhofsgebäudes ein Mann hervortrat, mit Manuel einige Worte wechselte und ihm Geld in die Hand drückte.

»Du hättest die Ware gleich anständig verpacken können«, brummte der Mann mürrisch. Manuel zog einen festen Strick aus der Tasche und legte ihn Buck um den Hals.

»Zieh nur fest an, dann wird ihm der Atem schon ausgehen«, riet Manuel, und der Unbekannte grinste zustimmend.

Buck hatte alles mit ruhiger Würde über sich ergehen lassen. Recht war es ihm freilich nicht, aber er hatte gelernt, den Menschen zu vertrauen und ihnen Kenntnisse zuzubilligen, die seine eigenen übertrafen. Als jedoch Manuel die Enden des Strickes in die Hände des Fremden legte, knurrte er drohend. Er wollte damit bloß sein Mißfallen zum Ausdruck bringen, weiter nichts. Er wollte nur zeigen, daß er mit fremden Leuten nichts zu tun haben mochte. Doch zu seinem peinlichen Erstaunen schnürte sich der Strick um seinen Hals zusammen und raubte ihm den Atem. Wütend sprang er den Mann an, der aber packte ihn an der Gurgel und warf ihn zu Boden. Buck zerrte verzweifelt an dem Strick, vergebens, immer fester zog sich die Schlinge um seinen Hals zusammen, seine Zunge hing weit heraus, und die mächtige Brust hob und senkte sich keuchend. Nie in seinem Leben war er so niederträchtig behandelt worden, und noch niemals hatte er eine solche Wut gefühlt. Aber seine Kraft ließ nach, und seine Augen wurden glasig. Er sah nicht mehr, daß der Zug kam und anhielt, und er spürte nicht, daß man ihn in den Gepäckwagen warf.

Als er wieder zu sich kam, fühlte er ein sonderbares Rütteln. Der heisere Pfiff einer Lokomotive sagte ihm, wo er war, denn er hatte schon öfters mit seinem Herrn Reisen unternommen und er kannte auch das Rütteln und Schütteln in einem Gepäckwagen. Buck öffnete langsam seine Augen und sah um sich mit dem zornigen Blick eines geraubten Königs. Der Mann neben ihm griff hastig nach dem Strick, aber Buck war schneller als er. Seine Zähne gruben sich tief in die Hand des Mannes ein und ließen sie erst wieder los, als die Schlinge ihm erneut die Besinnung raubte.

»Er hat Anfälle!« sagte der Mann und verbarg seine verletzte Hand vor dem Wagenmeister, der durch den Lärm des Kampfes aufmerksam geworden war. »Ich bring’ ihn im Auftrag seines Herrn nach Frisco. Der Narr von einem Hundedoktor dort glaubt, er könne ihn kurieren. Lumpige fünfzig kriege ich dafür neben der Fahrt. Ich würd’s kein zweites Mal machen, nicht für fünfhundert!«

Er umwickelte seine Hand mit einem schmutzigen Taschentuch und sah mit Bedauern auf seine bis zu den Knien aufgeschlitzte Hose hinab.

»Wenn nur keine Tollwut daraus wird!« meinte er ängstlich.

»Wird schon nicht«, lachte der Wagenmeister, »aber nun los, wir können den Hund hier nicht liegen lassen.«

Halb betäubt durch den unerträglichen würgenden Schmerz in der Kehle versuchte Buck trotzdem, sich seinen Peinigern entgegenzustellen, aber er wurde niedergeworfen und in einen käfigähnlichen Verschlag gestoßen, nachdem man den Strick von seinem Hals gelöst hatte.

Hier lag er nun für den Rest der Nacht, geladen mit Groll und verletztem Stolz. Er konnte nicht verstehen, was das alles bedeuten sollte. Was hatten sie mit ihm vor, diese fremden Männer? Warum hielten sie ihn in diesem Käfig eingeschlossen? Er fühlte dumpf, daß ihm ein großes Unglück bevorstand. Jedesmal wenn die große Schiebetür in ihren Angeln kreischte, glaubte er, daß sein Herr oder dessen Kinder hereintreten würden. Aber stets war es nur das aufgedunsene Gesicht des Wagenmeisters, der ihn im flackernden Schein der Laterne anstarrte, und sein freudiges Bellen verwandelte sich jedesmal in ein wildes Knurren.

Erst bei Morgengrauen hielt der Zug, und vier Männer stiegen ein, zerrissene und ungepflegte Kerle. Noch mehr Quälgeister, dachte Buck und sprang wütend gegen die Latten des Verschlages, aber sie lachten nur, steckten ihre Stöcke in den Käfig und stießen nach ihm. Er schnappte nach ihren Prügeln, bis er daraufkam, daß es gerade das war, worauf sie warteten, und daß sie daran ihren Spaß hatten.

Da legte er sich trotzig nieder, und als die Männer den Käfig aufhoben und forttrugen, wehrte er sich nicht mehr. Nach vielen Stunden, es war schon Abend, brachte man ihn auf ein Fährboot, das einen Fluß übersetzte, von dort verlud man ihn wieder in den Gepäckwagen eines Schnellzuges, wo er zwischen vielen Kisten und Koffern verstaut wurde. Zwei Tage und zwei Nächte dauerte die Fahrt im Schnellzug, und zwei Tage und zwei Nächte erhielt Buck weder zu fressen noch zu trinken. In seiner Verzweiflung hatte er die ersten Annäherungsversuche der Bahnangestellten mit bösem Knurren beantwortet, und sie vergalten es ihm mit Spott und schlechter Pflege. Wenn er sich bebend und schäumend vor Wut gegen die Stangen warf, lachten sie ihn aus und reizten ihn. Sie bellten wie elende Hunde oder miauten wie Katzen, schlugen mit den Armen und krähten. Buck wußte, daß sie ihn mit diesen Albernheiten nur reizen wollten, aber gerade deshalb fühlte er sich in seiner Ehre gekränkt, und sein hilfloser Zorn wuchs und wuchs. Der Hunger wäre noch zu ertragen gewesen, aber er litt unter dem quälenden Durst. Seine geschundene, aufgeschwollene Zunge entzündete sich, und Fieber schüttelte ihn.

Eines aber tröstete ihn: Der Strick von seinem Nacken war weg! Der Strick hatte seinen Feinden einen unfairen Vorteil verschafft, jetzt aber, da er weg war, würde er es ihnen allen zeigen!

In diesen zwei Tagen und Nächten, in denen er nichts zu fressen und nichts zu trinken erhielt, sammelte sich ein dumpfer, wilder Zorn in ihm an, der zum Ausbruch kommen mußte und jenem, der ihm als erster gegenübertrat, Unheil verhieß. Seine Augen wurden blutunterlaufen, und er verwandelte sich in einen rasenden Bösewicht. So sehr verändert sah er aus, daß selbst sein Herr ihn nicht wiedererkannt hätte.

Die Bediensteten waren froh und atmeten erleichtert auf, als er am Morgen des dritten Tages in Seattle ausgeladen wurde. Vier Männer trugen den Holzverschlag behutsam in einen von hohen Mauern umgebenen Hinterhof. Ein kräftiger, untersetzter Mann in einem roten, am Hals etwas zu weiten Sweater kam ihnen entgegen, nahm den Leuten den Frachtschein ab und bestätigte den Empfang. Und Buck fühlte, daß dieser Mann der nächste Peiniger war. Mit gesträubten Rückenhaaren warf er sich gegen die Latten seines Gefängnisses. Der Mann lächelte nur höhnisch und holte ein Beil und einen starken Stock.

»Ihr wollt ihn doch nicht etwa herauslassen?« fragte einer der Männer.

»Gewiß!« entgegnete der Rote und trieb das Beil in die Kiste, um eine Öffnung zu schaffen.

Im Nu war der Platz wie leergefegt. Von einer hohen Mauer aus warteten die Zuschauer neugierig auf das kommende Schauspiel.

Buck stürzte sich auf das splitternde Holz und verbiß sich darin. Sooft die Axt eine Latte losgelöst hatte, versuchte er den Mann anzugehen, der ruhig weiterarbeitete, bis die Öffnung groß genug war.

»Heraus mit dir, du rotäugiger Teufel!« rief er, ließ das Beil fallen und faßte den Stock mit der rechten Hand.

Wahrhaftig, Buck sah wie ein Teufel aus, als er, die Haare gesträubt, Schaum vor dem Mund und ein irres Leuchten in seinen blutunterlaufenen Augen, zum Sprung ansetzte. Pfeilgerade schnellte er seine mit Haß und Leidenschaft vollgestopften hundertvierzig Pfund gegen seinen Widersacher. Mitten im Sprung, gerade als er seine gewaltigen Zähne in den Hals des Mannes verbeißen wollte, erhielt er einen Schlag, wie er ihn noch nie gefühlt hatte. Seine Kiefer schlossen sich knirschend, er taumelte und fiel auf den Rücken. Noch nie in seinem Leben hatte ihn jemand mit einem Knüppel niedergeschlagen, er verstand nicht, was mit ihm geschehen war. Mit einem Aufheulen, das eher dem Fauchen eines Raubtieres als dem Bellen eines Hundes glich, sprang er auf und griff wieder an. Noch einmal traf ihn dieser entsetzliche Schlag, der ihn niederwarf, und er wußte nun, daß es der Knüppel war, aber seine Raserei ließ ihn jede Vorsicht vergessen. Ein dutzendmal noch setzte er zum Angriff an, und ebensooft schmetterte ihn der Stock zu Boden.

Nach einem besonders kräftigen Schlag erhob er sich mühsam, zu betäubt, um nochmals zu springen. Er taumelte kraftlos umher, Blut floß aus Nase, Maul und Ohren, und sein schönes Fell wurde mit blutigem Geifer besudelt. Der Rote kam näher und versetzte ihm wohlüberlegt einen furchtbaren Hieb auf die Schnauze. Alles, was Buck bisher erduldet hatte, war nichts im Vergleich zu der ausgesuchten Pein dieses Schlages. Mit einem fast löwenähnlichen Aufbrüllen warf er sich wieder auf den Mann. Der Rote ließ den Stock fallen, packte den Hund mit beiden Händen kaltblütig am Unterkiefer und schleuderte ihn hin und her und warf ihn mit solcher Gewalt auf die Erde, daß Buck bewußtlos liegenblieb.

Von der Mauer her ertönte Beifall.

»Zum Donnerwetter, der versteht sein Geschäft!« schrie einer der Männer enthusiastisch.

Buck kam bald wieder zu sich, aber er hatte keine Kraft mehr. Er blieb liegen, wo er niedergefallen war, und belauerte den Mann mit dem roten Sweater, der nun einen Brief in der Hand hielt und ihn aufmerksam durchlas.

»Hört auf den Namen Buck«, murmelte er halblaut vor sich hin, faltete das Schreiben zusammen und ließ es in seiner Tasche verschwinden.

»Also Buck heißt du, alter Knabe«, fuhr er mit freundlicher Stimme fort, »wir haben unseren kleinen Auftritt gehabt, und das beste, was wir tun können, ist, es dabei zu belassen. Du kennst nun deinen Platz, und ich kenne meinen. Sei ein braver Hund, dann ist alles in Ordnung. Bist du ein böser Hund, dann räum’ ich dir das Wilde ’runter. Verstanden?«