Im Sonnenwinkel 51 – Warum nahmst du mir mein Kind?

Im Sonnenwinkel –51–

Warum nahmst du mir mein Kind?

Roman von Patricia Vandenberg

»Heute wird es etwas später werden, Sandra«, sagte Felix Münster zu seiner Frau.

»Das trifft sich gut, dann brauche ich mich nicht so zu beeilen«, erwiderte Sandra Münster erleichtert.

»Wieso? Was hast du vor?« Ein wenig eifersüchtig war Felix Münster immer noch, und Sandra wusste das.

»Ich habe dir doch schon gesagt, dass ich Tante Gisela besuchen muss«, erklärte sie. »Da unsere liebe Tante nun mal wieder einige Monate hier lebt, muss ich mich auch ein bisschen um sie kümmern. Es geht ihr anscheinend gar nicht gut. Die Kinder nehme ich übrigens mit, das wird sie aufmuntern.«

»Jetzt könnte sie doch ihre eigenen Enkel mal bei sich haben«, bemerkte Felix. »Ich finde diesen Familienzwist höchst überflüssig, das weißt du ja.«

»Tante Gisela hat am meisten darunter gelitten«, sagte Sandra nachdenklich.

»Na, das will ich dahingestellt sein lassen. Wenn eine junge Frau mit zwei Kindern allein zurückbleibt, die sie allein ernähren muss, ist sie wohl noch mehr zu bedauern.«

Mehr sagte er nicht. Er gab seiner Frau einen Abschiedskuss, denn er musste in seine Fabrik fahren.

Gisela Baronin Dalmasse war Sandras Patin. Sie stammte aus der Hohenborner Gegend. Ihre Eltern hatten hier einen großen Besitz gehabt, von dem ihr allerdings nur ein hübsches Landhaus geblieben war, das sie mehr aus Sentimentalität behalten hatte. Sie hatte mit ihrem Mann auf Castel Mariano in Südtirol gelebt, ob glücklich oder nicht, hatte man lange nicht gewusst.

Ganz glücklich schien sie jedenfalls nie gewesen zu sein, wie Sandra hatte feststellen können, als Gräfin Gisela bald nach dem Tod ihres Mannes an den Sternsee gekommen war.

Viele Jahre hatten sie nur selten voneinander gehört. Sie hatten auch nicht erfahren, dass der einzige Sohn André eine Bürgerliche geheiratet hatte und dass es dadurch zu einem schweren Zerwürfnis zwischen Vater und Sohn gekommen war, der Jahre angehalten hatte. Dass André dann vor zwei Jahren bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen war, erfuhren sie aus einem Zeitungsbericht. Sandra und ihre Mutter hatten daraufhin der Baronin in einem Brief ihre Anteilnahme bekundet, aber erst ein Jahr später eine Antwort bekommen, nachdem der alte Baron Dalmasse gestorben war.

Jetzt wussten sie mehr. Baronin Gisela hatte ihnen von ihrem großen Kummer erzählt. Unerbittlich war ihr Mann gewesen, unversöhnlich war er gestorben, seine Enkelkinder hatte er nie gesehen, hatte sie nicht sehen wollen. Da er seinen Sohn enterbt hatte, gingen auch seine Enkel leer aus,

und noch immer war Baronin Gisela nicht fähig, eigene Entschlüsse zu treffen.

Wie kann man ihr nur helfen, damit sie noch einmal ins Leben zurückfindet, dachte Sandra. Ob es ihr nicht sogar wehtat, andere Kinder um sich zu haben, da sie die eigenen Enkelkinder vermissen musste?

Dieser Meinung war Sandras Mutter, Marianne Heimberg, auch. Sie kam am Vormittag vom Herrenhaus herüber.

»Fahr lieber allein, Sandra«, sagte sie. »Ich bewache deine Kinder. Als ich gestern mit Gisela telefonierte, machte sie einen sehr niedergeschlagenen Eindruck.«

Mit diesem Entschluss seiner Großmutter war der achtjährige Manuel sehr einverstanden, als er mittags aus der Schule heimkam.

Und wenn die Zwillinge, knapp zwei Jahre alt, bei der Omi waren, brauchte Sandra sich keine Sorgen zu machen. Da waren sie gut aufgehoben.

Es ist so gut, eine Omi zu haben, dachte sie mit einem weichen Lächeln, als sie zur anderen Seite des Sternsees hinüberfuhr. Und ebenso gut ist es, Enkelkinder zu haben. Die erhalten jung. Man sah es an ihrer Mutter.

Gisela Baronin Dalmasse war allerdings einige Jahre älter als Marianne Heimberg, und ihr Mann war fast zwanzig Jahre älter gewesen.

Das ist wahrscheinlich doch von Übel, überlegte Sandra. Irgendwann macht es sich bemerkbar. Sie selbst hatte kaum noch eine Erinnerung an den Baron Dalmasse. Sie hatte auch Tante Gisela kaum wiedererkannt, als sie ihren ersten Besuch nach ihrer Rückkehr bei ihnen machte. André war im selben Jahr wie sie geboren. Er wäre jetzt dreißig Jahre, wenn er noch lebte.

Ein Frösteln kroch über Sandras Rücken. Es war schrecklich, wenn ein junger Mensch mitten aus dem Leben herausgerissen wurde.

Aber irgendwo gab es da eine noch jüngere Frau mit zwei kleinen Kindern, die einen Anspruch auf die Familie und den Namen Dalmasse hatten und auch auf einen Teil des Vermögens, das bestimmt nicht klein war.

*

Das Landhaus lag wunderschön. Es war renoviert worden, bevor die Baronin einzog. Wie ein Gemälde bot sich Sandra dieser Anblick dar. Die zierliche Baronin passte dazu. Mit tränenfeuchten Augen umarmte sie Sandra.

»Wie lieb, dass du mich nicht vergessen hast, mein Kind«, sagte sie bebend. »Aber warum hast du die Kinder nicht mitgebracht?«

»Mutti meinte, dass sie doch zu unruhig sind. Sie hatte den Eindruck, dass es dir nicht gut geht, Tante Gisela.«

Die feine Hand der Älteren legte sich auf ihren Arm. »Vielleicht ist es gut, wenn wir einmal unter vier Augen miteinander sprechen können«, sagte sie leise. »Ich werde mit mir selbst nicht mehr fertig, Sandra. Marianne ist viel fortschrittlicher als ich. Sie steht mitten im Leben. Sie könnte es wohl noch weniger begreifen als du, wie mir zumute ist. Nein, sie könnte es gar nicht begreifen, dass eine Frau sich so unterjochen lässt, wie es bei mir der Fall war. Fernando ist tot, und Gott wird mir wohl vergeben, wenn ich mir einmal alles von der Seele spreche.«

Eine solche Einstellung war Sandra unbegreiflich, aber als Baronin Gisela dann erzählte, wurde sie doch fast von tiefstem Mitgefühl überwältigt.

»Ich durfte keine eigene Meinung äußern, Sandra. Fernando hätte mich ebenso aus dem Haus gewiesen, wie er es bei André tat. Fernando war jähzornig«, sagte Baronin Gisela gequält. »Er hätte André erschlagen an jenem Tag, wenn Marian nicht dazwischengetreten wäre. Oder André hätte seinen Vater erschlagen«, fügte sie tonlos hinzu. »Ich will Fernando nicht verdammen und André nicht in den Himmel heben. Eigentlich waren sie sich sehr ähnlich, aber André liebte Tanja leidenschaftlich, und er hätte niemals auf sie verzichtet. Sie ist bezaubernd, hinreißend, man findet einfach keine Worte für sie.«

»Du kennst sie persönlich?«, fragte Sandra verwundert.

»Ja, ich habe sie einmal heimlich besucht nach Andrés Tod. Fernando hätte es nie erlaubt. Ich durfte auch die Kinder sehen. Marco war drei, Dodo ein Jahr alt. Meine Enkelkinder …« Sie schluchzte trocken auf.

»Tanja hätte unserem Namen keine Schande gemacht«, fuhr Baronin Gisela fort. »Sie hat Niveau.«

»Und nun ist dein Mann tot«, sagte Sandra. »Du bist frei in deinen Entscheidungen. Du kannst deine Schwiegertochter sehen, wenn du willst, und deine Enkel. Schreib ihnen doch.«

»Ich habe geschrieben, aber ich habe keine Antwort bekommen.« Baronin Gisela senkte den Kopf. Tränen fielen auf ihre blassen Hände.

»Wo leben sie?«, fragte Sandra.

»In Florenz. Tanja stammt aus einer russischen Emigrantenfamilie, die sich in Italien niedergelassen hatte. Ich wollte ihr Geld geben, aber sie nahm es nicht an. Sie wird von mir nie etwas annehmen.«

Dann hat sie Charakter, dachte Sandra, aber als sie in das bleiche Gesicht der Baronin blickte, erfasste sie tiefes Mitgefühl.

»Vielleicht hat sie den Brief nicht erhalten«, sagte sie. »Wir schicken ein Telegramm, Tante Gisela.«

Sie fasste das Telegramm selbst ab.

Es lautet: Bin krank vor Sehnsucht nach Euch. Bitte kommt. Gisela Dalmasse.

Sie dachte gar nicht daran, dass Tanja vielleicht nicht wissen könnte, wo sie ihre Schwiegermutter aufsuchen solle.

*

Tanja Sergius trat unter ihrem Mädchennamen auf und lebte auch unter diesem. Eine Chansonsängerin unter dem Namen Dalmasse hätte Baron Fernando wohl selbst im Grabe nicht ruhen lassen. Tanja meinte aber auch, dass dies selbst André nicht recht gewesen wäre.

Aber was hätte sie sonst tun sollen, womit hätte sie sonst Geld verdienen sollen? Ihre Stimme war ihr einziges Kapital.

Tanja wohnte in einem Mehrfamilienhaus. Erst kürzlich hatten sie diese geräumige Wohnung bezogen. Endlich hatte sie es sich leisten können, eine größere Wohnung zu nehmen, denn nach Andrés Tod hatte sie gerade die Miete für eine Zweizimmerwohnung aufgebracht. Die Kinder waren noch zu klein gewesen. Eine Hilfe hatte sie sich nicht leisten können. Abends und nachts war sie aufgetreten oder hatte Aufnahmen gemacht, wenn die Kleinen schliefen, und immer hatte sie Angst um sie gehabt und dazu ein schlechtes Gewissen, sie allein in der Wohnung zu lassen. Sie war gehemmt gewesen, ihre schöne dunkle Stimme hatte sich nicht voll entfalten können.

Das war nun anders geworden. Sie hatte eine reizende Nachbarin, die Marco und Dodo gern betreute, da sie selbst keine Kinder hatte und ihr Mann immer erst spät abends heimkam.

Ja, jetzt hatte sie den Erfolg, den sie sich zwar nicht erträumt hatte, den sie aber doch brauchte, um die Zukunft der Kinder zu sichern.

An diesem Abend kam Tanja ziemlich erschöpft von den Schallplattenaufnahmen nach Hause.

Mit Jubelrufen wurde sie von den Kindern empfangen, aber gleich darauf sagte Marco: »Ist ein Telegramm für dich gekommen, Mami.«

Tanja riss das Telegramm auf. Da war die Nachricht von ihrer Schwiegermutter, die sie zu sich rief.

»Großmama möchte uns dringend sehen«, sagte sie zu den Kindern. »Sie verlangt nach uns, am besten fahren wir gleich heute noch, ich bin mit meiner Arbeit ja fertig. Bis Castell Mariano werden wir es schaffen.«

»Du hast uns aber überhaupt nicht gesagt, dass wir zu Großmama fahren wollen«, beschwerte sich Marco.

»Du hast nur gesagt, dass sie vielleicht mal wieder zu uns kommt«, schloss die kleine Dodo sich an.

»Wir können uns auf der Fahrt darüber unterhalten«, sagte Tanja. »Ich packe schnell den Koffer.«

Tanja hatte nur den Wortlaut des Telegramms gelesen, nicht, woher es kam, und selbst wenn ihr dies aufgefallen wäre, hätte sie mit der Stadt Hohenborn nichts anzufangen gewusst. Sie nahm ganz selbstverständlich an, dass ihre Schwiegermutter auf Castell Mariano weilte.

Eine Stunde später saßen sie im Wagen.

»Ist es schön dort, Mami?«, fragte Marco. »Auf dem Schloss, meine ich.«

»Ich weiß es nicht. Ich war noch nie dort auf dem Schloss.«

»Warum warst du noch nicht dort?«, fragte Dodo interessiert.

Weil ich für euren Großvater gar nicht existierte, hätte sie erwidern müssen, aber das tat sie nicht.

»Weil Papa uns so früh verlassen musste«, sagte sie.

An ihren Vater hatten die beiden Kinder keine Erinnerung mehr. Dodo war ohnehin noch zu klein gewesen, und Marco hatte die Tragik dieses Geschehens noch nicht begriffen.

»An die Großmama kann ich mich nicht mehr richtig erinnern«, wisperte Dodo.

Das konnte sie auch gar nicht, denn als André begraben wurde und Baronin Gisela bei ihnen war, konnte Dodo gerade ein paar Worte sprechen und ein paar Schritte gehen.

Bin krank vor Sehnsucht nach Euch, stand in dem Telegramm. Wie das klang!

Aber Tanja hatte Verständnis für diese Frau, die in ihrer Ehe eine Hölle durchlebt haben musste.

Wie wäre wohl unsere Ehe verlaufen?, überlegte sie. Anfangs war alles rosig gewesen, ihre Liebe stand an erster Stelle, und André hatte ihr alle Bedenken ausgeredet.

Er hatte wohl aber gemeint, dass sein Vater doch noch einsichtig werden würde, und als das nicht eintraf, war er oft in gereizte Stimmung geraten.

Es war nicht einfach für ihn, den Unterhalt für seine Familie zu verdienen. Er war zum Majoratsherrn erzogen worden, und nun war er in abhängiger Stellung. Repräsentant eines Zeitungskonzerns! Es klang ganz hübsch, aber es war ein hartes Brot, und übermäßig viel brachte es auch nicht ein.

Und dann, an einem trüben Apriltag, war alles aus. André kam nicht zurück. Zu dem Leid kam die Sorge um das Geld, die Lebensversicherung war nicht üppig, Tanja hatte den größten Teil davon als Notgroschen für die Kinder zurückgelegt. Aber von den Dalmasses hätte sie dennoch keinen Cent genommen, obgleich sie wusste, dass ihnen Baronin Gisela gern geholfen hätte. Aber Baron Fernando lebte, und Tanja war viel zu stolz, die Gefahr auf sich zu nehmen, dass er eines Tages auch dagegen protestieren würde.

Nun war auch er tot, war aber seine Frau wirklich frei von ihm und von allem Zwang?

»Sind wir zum Abendessen da, Mami?«, schreckte Marco sie aus ihren Gedanken auf. »Ich habe Hunger.«

Du lieber Gott, daran hatte sie gar nicht gedacht. Sie war so sehr von ihrer inneren Erregung ergriffen, dass sie selbst keinen Hunger verspürte.

»Marco will immer nur essen«, meinte Dodo. »Ich will jetzt lieber dort sein und Großmama sehen.«

Nun standen die Plappermäulchen für ein Weilchen nicht still, und Tanja war von ihren Gedanken abgelenkt. Sie war froh darüber.

»Ich kann nichts dafür, wenn ich immer Hunger habe. Ich wachse«, sagte Marco. »Ist es denn noch weit?«

Darüber konnte Tanja augenblicklich keine Auskunft geben. Sie hatte das Gefühl, sich verfahren zu haben. Es wurde langsam dunkel. Sie sah den Richtungsweiser nach Bozen und atmete erleichtert auf. Weit konnte es jetzt nicht mehr sein. André hatte ihr den Weg einmal beschrieben, als sie in der Nähe gewesen waren. Aber Ihre Erleichterung kam zu früh. Jetzt ging es erst richtig los.

»Das sind vielleicht Kurven«, sagte Marco.

»Serpentinen nennt man das«, erklärte sie. »Wir sind jetzt im Gebirge.«

»Da geht es steil runter«, sagte Dodo. »Mir wird schwindelig, wenn ich aus dem Fenster schaue.«

»Dann schau doch nicht hin«, sagte Marco.

Ich hätte ja tanken müssen, fiel es Tanja siedend heiß ein. Hoffentlich kommt bald ein Ort.

Aber es kam keiner, und dann plötzlich war das Benzin zu Ende. Der Wagen hoppelte ein paarmal, dann stand er.

»Du lieber Himmel«, stöhnte Tanja.

»Was ist denn?«, fragte Dodo.

Indessen knurrte Marcos Magen laut, und er schimpfte vor sich hin, als sie den Kindern erklärte, dass das Benzin alle sei.

»Was machen wir nun?«, fragte er.

»Vielleicht hält ein freundlicher Autofahrer an und hilft uns«, meinte Tanja hoffnungsvoll.

Aber vorerst kam gar kein Auto, und dann fuhren ein paar vorbei, als die Kinder winkten.