Die Drei Fragezeichen
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Spur ins Nichts

erzählt von André Marx

Kosmos

Umschlagillustration von Silvia Christoph, Berlin

Umschlaggestaltung von eStudio Calamar, Girona, auf der Grundlage

der Gestaltung von Aiga Rasch (9. Juli 1941 – 24. Dezember 2009)

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© 2013, Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Mit freundlicher Genehmigung der Universität Michigan

Based on characters by Robert Arthur.

ISBN 978-3-440-14201-1

eBook-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Erwachen

Es war dunkel.

Es war kalt.

Etwas schmerzte. Die Knochen? Der Kopf? Irgendetwas.

Justus Jonas erwachte so langsam wie noch nie zuvor in seinem Leben. Minute um Minute dämmerte er dem Bewusstsein entgegen, tastete sich an seinen eigenen Körper heran, als gehörte er nicht zu ihm, und schüttelte mühsam die verschwommenen Traumbilder ab.

Traumbilder … Da war eine Lagerhalle. Ein Scheinwerfer. Eine braune Insel in einem weißen Meer. Ein junger Mann mit hellblondem Haar. Eine wichtige Nachricht auf einem Notizzettel. Ein Versteck … Doch mit jeder Sekunde verblasste die Erinnerung mehr. Und als Justus endlich die Augen öffnete, hatte er den Traum so gut wie vergessen.

Es war immer noch dunkel. Wie spät mochte es sein? Ein Blick auf den Wecker …

Es gab keinen Wecker. Keinen Nachttisch, auf dem er hätte stehen können. Es gab nicht einmal ein Bett. Justus lag auf glattem, hartem Boden. Deshalb tat ihm alles weh. Deshalb fror er so. Er richtete sich auf. Er sah nicht einmal die Hand vor Augen. Wo war er?

Es dauerte eine Weile, doch dann löste diese Frage einen schieren Adrenalinschub aus, der Justus vollends aus dem Schlaf katapultierte. Dies war nicht sein Zimmer!

Licht! Er brauchte Licht! Justus stemmte sich hoch und kam langsam auf die wackligen Füße. Er ertastete eine kalte, gekachelte Wand. Vorsichtig bewegte sich Justus einen Schritt nach vorn. Dann weiter, die Wand immer an seiner Seite. Hier musste es doch irgendwo eine Tür geben! Oder wenigstens einen Lichtschalter! Die Angst griff nach Justus wie eine eisige Hand. Etwas lief hier völlig verkehrt. Die Wirklichkeit war aus den Fugen geraten. Und er hatte keine Ahnung wieso. Ihm brach der Schweiß aus. Er brauchte jetzt endlich Licht!

Da! Seine Finger ertasteten etwas Quadratisches. Er drückte darauf. Es blitzte. Es blitzte noch einmal. Und dann flackerte mit einem elektrischen Summen grelles, kaltes Neonlicht auf. Es blendete Justus so sehr, dass er die Hand vor die Augen legte. Vorsichtig wagte er einen zweiten Blick. Nach und nach gewöhnten sich seine Augen an die Helligkeit. Doch das, was er sah, beruhigte ihn kein bisschen. Im Gegenteil.

Der Raum sah aus wie ein ehemaliger Operationssaal. Er war fensterlos und bis zur Decke weiß gefliest. Die Kacheln waren schmutzig, da und dort zeichneten sich dunkle Umrisse von Dingen ab, die einmal hier gestanden oder gehangen hatten. Unter der Decke waren zwei Neonröhren befestigt, an einer Wand gab es eine graue Stahltür. Ansonsten war der Raum leer. Leer bis auf ein dunkles Knäuel auf dem Boden in der Ecke.

Justus zuckte zusammen. Dort lag jemand! Und dieser Jemand wachte gerade auf. Justus eilte zu ihm, einem jungen Mann Anfang zwanzig, mit strubbeligem schwarzem Haar und ebenso schwarzen Augen. Er blinzelte verwirrt gegen das Neonlicht. Als er Justus bemerkte, schreckte er auf.

»Hallo«, sagte Justus schnell. »Erschrick nicht. Ich … äh … bin ganz harmlos.«

Es dauerte einen Moment, bis der junge Mann zu sich kam und sich aufrichtete. Er drückte sich in die Ecke und nahm eine abwehrende Körperhaltung ein. »Wer bist du?«, fragte er mit rauer Stimme.

»Mein Name ist Justus Jonas. Ich bin selbst gerade erst aufgewacht und habe nur das Licht angemacht.«

Der Mann sah Justus an, als hätte er nicht alle Tassen im Schrank. Justus konnte es ihm nicht verdenken. Er war sich in Bezug auf seinen Geisteszustand selbst nicht ganz sicher. »Wir verlassen diesen unangenehmen Ort besser erst mal«, schlug er vor, um irgendetwas Konstruktives zu sagen.

Der Mann zeigte keine Reaktion.

Justus ging zur Tür und drückte die Klinke. Verschlossen. »Tja, das … läuft weniger optimal als erhofft.«

»Was bist du für ein Spinner?«, fragte der Fremde drohend.

»Ich bin kein Spinner. Wie ich schon sagte, mein Name ist Justus Jonas, und –«

»Hast du uns hier eingesperrt?«

»Eingesperrt? Nein! Ich … ich habe keine Ahnung, wer …«

»Wo sind wir hier?«

»Ich weiß es nicht.«

»Ich warne dich, du Freak!«, drohte sein Gegenüber. »Erzähl mir keinen Mist! Wie bist du hierher gekommen?«

»Ich …«, begann Justus und schluckte schwer. »Ich weiß es nicht. Und das ist leider kein Mist, sondern die Wahrheit. Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wie ich hierher gekommen bin oder wo wir sind. Ich kann mich an nichts erinnern.«

Der Schnee war blendend hell und hüllte die Berge in traumhaftes Weiß. Der Wind war eisig und fegte die Wärme aus seinem Körper. Peter sah an sich herab. Er trug abgeschnittene Jeans und ein dünnes T-Shirt. Kein Wunder, dass er fror. Was hatte er sich nur dabei gedacht, in diesen Klamotten in den Skiurlaub zu fahren? Seine Freundin Kelly, die neben ihm stand, lachte ihn aus. Warum auch nicht? Sie hatte schließlich an alles gedacht und stand in einem mollig warm aussehenden rosa Skianzug vor ihm, die Augen durch eine dunkle Skibrille vor der Helligkeit geschützt. Sie bis herzhaft in irgendetwas, das intensiv nach Fisch roch. Ein Fisch-Burger?

Plötzlich packte sie ihn bei den Schultern und schüttelte ihn. Was sollte das denn? Glaubte sie etwa, dadurch würde ihm warm werden? »He!«, rief Kelly und schüttelte ihn weiter. »He du! He! Heeee!«

»Was soll denn das?«, protestierte Peter. »Was tust du denn da?«

Das Schütteln wurde immer heftiger. »Nun wach schon auf!«

Aufwachen? Was meinte sie denn bloß mit Aufwachen? Er stand doch hellwach vor ihr! Oder etwa nicht? Oder war es vielleicht möglich, dass er träumte? Dass das der Grund war, warum er ausgerechnet in Shorts mitten im Schnee … »He!«

Peter wachte auf. »Schon gut, schon gut!«, murmelte er. »Ich bin wach.« Er öffnete die Augen. Es war immer noch gleißend hell um ihn herum. Und auch die Kälte war nicht verschwunden. Also doch kein Traum? Er sah an sich herunter. Abgeschnittene Jeans und ein dünnes T-Shirt. Zumindest dieser Teil des Traums war real. Peter wandte den Kopf. Da war tatsächlich ein Mädchen, das neben ihm hockte und ihn wachgerüttelt hatte. Aber es war nicht Kelly. Das Mädchen hatte braune, wilde Locken und Sommersprossen und trug Jeans und ein weißes Kapuzenshirt. Peter hatte sie noch nie gesehen.

»Was … was ist passiert?«

»Wenn ich das wüsste. Endlich bist du wach! Ich dachte schon, du liegst im Koma oder so!«

»Koma? Ich …« Peter brach ab. Verdammt, er war überhaupt nicht in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. Er hatte also geträumt, okay. Trotzdem war es weiß um ihn herum und es war kalt. Und es roch immer noch nach Fisch, obwohl weit und breit kein Fisch-Burger zu sehen war. Und da war ein fremdes Mädchen, das sich über ihn beugte. Weiß? Koma? Mädchen? Vielleicht war er in einem Krankenhaus. Aber wieso stank es hier dann so erbärmlich?

»Hatte ich einen Unfall?«

»Was? Nein. Das heißt, ich weiß nicht.« Das Mädchen war sichtlich nervös. »Ich weiß ja nicht mal, wer du bist.«

»Peter«, sagte Peter. »Peter Shaw. Wo bin ich?«

»Das … das weißt du nicht?« Sie sah ihn aus großen braunen Augen an. Dann rutschte sie ein Stück zur Seite, um den Blick auf den Raum freizugeben.

Peter richtete sich irritiert auf. Was er sah, erinnerte ihn an einen Operationssaal im Krankenhaus. Allerdings war es nicht besonders sauber. Und die Einrichtung bestand lediglich aus einigen Neonröhren unter der Decke, die das blendend helle Licht erzeugten. Es gab eine Tür. Keine Fenster.

»Erkennst du es wieder?«, fragte das Mädchen hoffnungsvoll.

»Wiedererkennen? Nein. Ich war noch nie hier. Wie bin ich hierher gekommen?«

»Sag mal, hörst du mir überhaupt zu? Ich – weiß – es – nicht. Ich bin vor einer Viertelstunde hier aufgewacht und habe nicht den geringsten Schimmer, wo wir sind. Ich hatte gehofft, du könntest mir das sagen!«

»Ich? Wieso …« Peter brach ab. Er versuchte sich zu erinnern. Wieso war er hier? Wie war er hierher gekommen? Doch in seinem Kopf herrschte absolute Leere. Was vor seinem Schlaf gewesen war … war weg. Er hatte nicht einmal eine Ahnung, was für ein Tag heute war. Peter warf einen Blick auf seine Digitaluhr. Samstag, der vierte Oktober. Drei Uhr zwölf am Nachmittag. Okay, ganz langsam jetzt. Er fühlte sich, als hätte er die ganze Nacht geschlafen. Was war dann also gestern gewesen? Gestern, am Freitag? Was hatte er da getan? Wo war er gewesen? Mit wem? Warum?

»Hallo!«, rief das Mädchen halb verärgert, halb ängstlich und wedelte ihm mit der Hand vor dem Gesicht herum. »Bist du noch da? Geht’s dir gut?«

Wieder eine Frage, die Peter kaum beantworten konnte. Ging es ihm gut? Wie fühlte er sich? Er hatte absolut keine Ahnung. Er fühlte sich irgendwie … gar nicht. Nur seinem Magen ging es nicht besonders gut. Er war leer. Und der intensive Fischgeruch machte ihm zu schaffen. Trotzdem sagte er: »Ja, alles bestens. Glaube ich. Sag mal, wer bist du eigentlich?«

»Jolene Sprague.«

»Und du bist selbst gerade erst –«

»Aufgewacht, ja. Und ich habe keine Ahnung, wo wir sind. Was … was geht hier vor sich? Sind wir entführt worden? Von wem? Was wollen die von uns? Ich …« Jolene brach ab. Atmete tief durch. Und fuhr mit zitternder Stimme fort: »Du musst doch irgendetwas wissen!«

»Ich weiß aber nichts!«, gab Peter ein wenig schärfer zurück, als er gewollt hatte. »Ich … ich muss erst zu mir kommen, verstehst du? Wach werden. Klar werden im Kopf.«

Jolene sah ihn an, als hätte er vorgeschlagen, erst mal eine Runde Karten zu spielen. Sie stand auf und lief händeringend im Raum auf und ab. Schließlich blieb sie an der grauen Tür stehen und trat dagegen. »Mist!«

»Die Tür ist wohl –«

»Verschlossen, ganz genau«, fiel ihm Jolene erneut ins Wort. »Ich habe vorhin schon hundertmal versucht, sie aufzukriegen.«

»Jolene«, begann Peter und stemmte sich mühsam hoch, »ich bin mir nicht sicher, ob ich das gerade alles richtig verstanden habe, aber … kannst du dich an irgendetwas erinnern, was mit diesem Ort zusammenhängt? Oder damit, wie du hierher gekommen bist? Ich habe nämlich offenbar … Probleme mit meinem Gedächtnis.«

Jolene blieb stehen und blickte ihn bestürzt an. »Da bist du nicht der Einzige.«

»Soll das heißen –«

»Dass ich mich ebenfalls nichts erinnere? Genau das heißt es.«

Hilferufe

Shawn, so hieß der junge Mann, wie Justus inzwischen herausgefunden hatte, hatte sich etwas beruhigt. Noch immer starrte er Justus finster aus seinen kohlschwarzen Augen an, aber immerhin machte er nicht mehr den Eindruck, als wollte er ihm jeden Moment an die Kehle springen.

Unruhig liefen beide im Raum auf und ab. Justus war in eine Nachdenklichkeit verfallen, die Shawn nervös zu machen schien.

»Was zupfst du denn ständig an deiner Unterlippe?«, fauchte er ihn an. »Das macht mich ganz irre!«

»Ich denke nach«, murmelte Justus.

»Ach was! Was glaubst du, was ich tue? Ich denke auch nach! Ich denke darüber nach, wie wir hier rauskommen!«

»Ich beschäftige mich eher mit der Frage, wie wir hier reingekommen sind. Was sind deine letzten Erinnerungen?«

»Erinnerungen? Woran?«

»Überhaupt. Was ist das Letzte, an das du dich erinnerst?«

Shawn blieb für einen Moment stehen. »Ich war in einem neuen Club in L.A. Gestern Abend. Und dann …« Er runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht. Irgendwie habe ich einen Filmriss.«

»Hast du Alkohol getrunken?«

»Kann schon sein. Ich weiß nicht. Nicht viel jedenfalls, ich war mit dem Auto dort.«

»Also scheint erhöhter Alkoholkonsum nicht der Grund für deine Amnesie zu sein«, stellte Justus fest.

»Wie bitte? Sag mal, wie redest du denn?«

Justus errötete leicht. »Verzeihung. Ich … rede nun mal so. Ich kann nichts dafür. Shawn, bist du sicher, dass dein Besuch im Club gestern stattgefunden hat?«

»Was willst du damit sagen?«

»Wenn du dich nicht erinnern kannst, woher weißt du dann, dass es nicht schon länger her ist?«

»Was weiß ich, es fühlt sich so an, als wäre es gestern gewesen, okay? Was ist mit dir?«, wollte Shawn nun wissen. »Woran genau erinnerst du dich?«

»An nichts Besonderes«, antwortete Justus zögerlich. »An einen ganz normalen Schultag. Ich kam nach Hause, habe etwas gegessen, mich auf dem Schrottplatz herumgetrieben …«

»Schrottplatz?«

»Meinem Onkel gehört ein Gebrauchtwarenhandel. Der Schrottplatz. Da ich bei meinem Onkel und meiner Tante lebe, verbringe ich den Tag meistens dort. Ich habe jedenfalls für meinen Onkel gearbeitet, zusammen mit meinem Kollegen Peter. Und ab da … beginnt alles zu verschwimmen. Meine Erinnerungen verlieren sich irgendwie im Nichts. Ich kann nicht einmal mehr sagen, was ich am Abend gemacht habe.« Er blickte an sich hinunter. Er trug immer noch die gleiche alte Jeans, das nicht mehr ganz saubere T-Shirt und die Turnschuhe, deren Sohlen schon fast durchgelaufen und an einer Stelle sogar gebrochen waren. Die Schuhe irritierten ihn besonders, ohne dass er sagen konnte warum. »Umgezogen habe ich mich seitdem jedenfalls nicht. Sonderbar. Wirklich höchst sonderbar.«

»Sonderbar«, äffte Shawn ihn nach, verdrehte die Augen und setzte seine Wanderung durch den Raum fort.

»Hör zu, Shawn: Ich weiß, du bist verwirrt und verunsichert. Mir geht es nicht anders. Aber trotzdem sollten wir uns Mühe geben, zusammenzuarbeiten. Vielleicht können wir rekonstruieren, was passiert ist. Wen hast du zum Beispiel in diesem Club getroffen? Vielleicht bringt uns das weiter.«

»Pass auf, Junge: Das Gelaber nervt. Ich will hier einfach nur raus, okay? Dein Interview kannst du auch später führen.« Shawn stapfte zur Tür und trat wütend dagegen, bevor er frustriert mit dem Rücken daran herabrutschte und sich das zerzauste Haar raufte.

»Bitte sehr«, sagte Justus beleidigt. »Du kannst ja versuchen, die Tür einzutreten. Ich bin gespannt, wie weit du kommst.«

Shawn knurrte etwas Unverständliches, ohne aufzusehen.

Justus seufzte. Im Moment hatte es wohl wenig Sinn, auf Shawns Kooperation zu bauen. Er musste also allein einen Plan entwickeln. Die Stahltür war massiv und verschlossen, das Schloss kompliziert. Was gab es noch für Möglichkeiten?

Justus ließ seinen Blick wandern. Knapp unter der Decke verlief ein etwa armdickes, rostiges Wasserrohr, das aus der Wand kam und am anderen Ende des Raumes wieder in der Wand verschwand. Vielleicht konnte er eine der Schrauben, mit denen die einzelnen Rohrstücke verbunden waren, als Werkzeug für die Tür benutzen … nein, das würde nicht funktionieren.

Die Neonröhren waren fleckig und staubig. Einer der Flecken, der vage die Form einer Axt hatte, erinnerte Justus an etwas. Es war wie ein Traumbild, das für einen Sekundenbruchteil in seiner Erinnerung emporstieg. Eine Insel. Eine braune Insel, die wie eine Axt aussah, in einem weißen Meer …

Doch bevor Justus den Gedanken wirklich greifen konnte, wurde er von einem Geräusch abgelenkt. In weiter Ferne erklang ein dumpfes, hallendes Stampfen. »Hörst du das auch?«

»Was denn?«

»Schhht!«

Justus schlich zur Tür und legte sein Ohr an den kalten Stahl. Da war es wieder: Ein gedämpftes Hämmern wie von Straßenbauarbeiten, die fünf Blocks entfernt waren. Nur dass sich ein seltsamer, unterirdischer Hall dazumischte. Das Geräusch kam aus einem Gebäude. Aus diesem Gebäude. Dann hatte er es: »Jemand hämmert gegen eine Tür!«

Jolene redete und redete ohne Punkt und Komma. Sie erzählte Peter haarklein von ihrem gestrigen Abend, den sie mit ihrer kleinen Schwester vor dem Fernseher verbracht hatte. Welches Programm sie gesehen hatten. Welche Geschmacksrichtung die Chips gehabt hatten. Wann sie in ihr Zimmer gegangen war. Welches Buch sie noch gelesen hatte. Und wie lange. Dass sie sich noch nicht ausgezogen hatte und vermutlich irgendwann einfach eingeschlafen war.

Peter hörte nur mit halbem Ohr zu. Dafür wurde er langsam klarer im Kopf. Er wusste immer noch nicht, wie er hierher gekommen war. Aber immerhin waren das benommene Gefühl und die Übelkeit beinahe verschwunden. Blieb nur noch die Kälte, die ihm nach und nach unter die Haut kroch.

»Ich habe irgendeinen Mist geträumt. Ich weiß nicht mehr … über meine Mutter. Ich saß in einem Bus und … Ist ja auch egal. Jedenfalls wachte ich auf. Und war hier. Einfach so. Das … das ist doch verrückt, oder? Bin ich vielleicht schizophren oder wie das heißt? Ist das eine Gummizelle? Oder was sonst? Peter!«

»Ich weiß es nicht! Ich bin genauso ratlos wie du!«

»Aber es muss doch eine Erklärung geben!«

»Gibt es auch.«

»Und welche?«

»Keine Ahnung. Viel wichtiger ist, dass wir erst mal hier rauskommen. Ich mag diesen Raum nicht.«

»Was du nicht sagst.«

»Hast du schon irgendwas versucht, während ich geschlafen habe?«, fragte Peter.

»Was meinst du?«

»Um Hilfe gerufen zum Beispiel.«

Jolene schüttelte den Kopf.

Sogleich stand Peter auf, ging zur Stahltür und hämmerte mit der Faust drei-, viermal dagegen. Das blecherne Trommeln war in diesem kahlen Raum unangenehm laut. Peter hoffte, dass es hinter der Tür ebenso laut zu hören war. Er lauschte. Nichts. Nach ein paar Sekunden hämmerte er erneut, länger diesmal. Doch wieder gab es von der anderen Seite keine Reaktion. Da hieß es durchhalten. Irgendwann würde ihn auf der anderen Seite schon jemand bemerken.

Jolene gesellte sich zu ihm, und gemeinsam hämmerten sie, so laut sie konnten, bis ihre Fäuste taub und gerötet waren. Erschöpft legten sie eine Pause ein. Wenigstens war die Kälte für einen Moment aus Peters Körper verschwunden.

»Meinst du, uns hat jemand gehört?«

»Wenn jemand in der Nähe ist, bestimmt. Die Frage ist nur: Kann uns derjenige auch helfen?«

»Will uns derjenige helfen?«, fügte Jolene hinzu. »Wenn wir wirklich entführt wurden …« Sie schauderte.

Ein Pochen. Weit entfernt.

»Da war was!«, flüsterte Peter.

Das Pochen wiederholte sich.

»Jemand antwortet uns!«, rief Jolene so aufgeregt, dass ihre Stimme kippte. Sofort stürzte sie zurück zur Tür und brüllte: »Hilfe! Hiiilfeee!« Sie begann wieder zu hämmern, diesmal allerdings mit einer Inbrunst, die Peter richtig Angst machte. »Hilfe!!!«

»Jolene!«, rief Peter und legte seine Hand auf ihre Schulter. »Jolene, beruhige dich!«

»Ich will hier raus!«, schrie sie und hämmerte weiter.

»Jolene!« Peter ergriff ihre Arme und hielt sie fest.

»Was soll das? Spinnst du? Lass mich los!«

»Jolene! Wenn du weiter so ein Spektakel veranstaltest, werden wir nie rauskriegen, was da draußen vor sich geht!«

Sie schäumte vor Zorn. »Was vor sich geht? Da ist jemand, der uns helfen kann!«

»Da ist jemand, der uns gehört hat, ja«, stimmte Peter zu. »Du brauchst also nicht weiterzuhämmern. Aber wir müssen ihn oder sie ebenfalls hören, verstehst du? Also reiß dich zusammen und sei still!«

Jolene funkelte ihn wütend an, gab ihren Widerstand jedoch auf. Gemeinsam hielten sie den Atem an. Ja, da klopfte jemand, ohne Zweifel. Aber es war weit entfernt. Und es kam auch nicht näher. Und es klang ähnlich verzweifelt wie ihr eigener Versuch, Aufmerksamkeit zu erregen.

Nach einer Weile sagte Peter: »Ich weiß nicht, ob ich jetzt beruhigt oder entsetzt sein soll. Aber es scheint, als seien wir nicht die einzigen Gefangenen hier.«

Rohrpost

»Wow, das bringt uns echt weiter«, spottete Shawn, nachdem Justus auf die Tür eingehämmert hatte. »Ich bin beeindruckt.«

Justus beschloss, sich von Shawn nicht provozieren zu lassen. Die Situation war zu ernst, um sich gegenseitig an die Kehle zu gehen. Er wollte nur eines: hier raus. Und offenbar gab es irgendwo da draußen jemanden, der das ebenfalls wollte. Ein vages Gefühl von Hoffnung breitete sich in seiner Magengegend aus. Sie waren nicht allein. Das war gut. Denn mit etwas Glück bedeutete es, dass Bob und Peter in der Nähe waren. Diese Idee war Justus schon kurz nach dem Aufwachen gekommen. Denn wie auch immer Justus in diese Lage geraten war – sie roch verdammt nach einem Fall, in den er mit seinen Freunden gestolpert war. Er konnte sich zwar nicht erinnern, aber … wenn Bob und Peter in der Nähe waren, würde alles gut werden. Ganz bestimmt.

»Wir müssen uns mit demjenigen, der da draußen klopft, irgendwie verständigen«, sagte Justus schließlich.

»Na, dann brüll dir mal schön die Kehle aus dem Leib. Das wird kaum was bringen. Viel zu weit entfernt.«

»Ich dachte auch eher an Klopfzeichen«, antwortete Justus.

Shawn lachte verächtlich. »Willst du mir jetzt weismachen, du könntest das Morsealphabet?«

»Ganz genau.«

»Ha! Wer’s glaubt. Bist du etwa bei der Armee? Du bist doch noch nicht mal achtzehn!«

Justus ging nicht darauf ein. »Das Problem wird sein, dass der Nachhall der Klopfzeichen so dumpf ist, dass man kaum einzelne Signale voneinander unterscheiden kann. Es wird also ziemlich schwierig werden, eine Nachricht zu übermitteln.«