Krystyna Kuhn

DAS TAL – Season 2


Die Jagd

Band 7 der Serie

Thriller

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Weitere Bände in dieser Reihe

Das Tal – Season 1, Band 1: Das Spiel

Das Tal – Season 1, Band 2: Die Katastrophe

Das Tal – Season 1, Band 3: Der Sturm

Das Tal – Season 1, Band 4: Die Prophezeiung

Das Tal – Season 2, Band 1: Der Fluch

Das Tal – Season 2, Band 2: Das Erbe

Auch als Hörbuch erhältlich.

Weitere Bücher von Krystyna Kuhn im Arena Verlag:

Dornröschengift

Schneewittchenfalle

Märchenmord

Aschenputtelfluch

Bittersüßes oder Saures

 

Für Laura Scherg

19.10.1993 – 23.11.2012

Eine der Besten

 

 

 

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1. Auflage 2013

© 2013 Arena Verlag GmbH, Würzburg

Alle Rechte vorbehalten

Gestaltung: Frauke Schneider

ISBN 978-3-401-80139-1

www.arena-verlag.de

Mitreden unter forum.arena-verlag.de

www.das-tal.com

 

 

 

Dead Days
No. 4
Meine Tage sind gezählt.
D. Y.

The End

Der Mond spiegelte sich auf der Wasserfläche des Lake Mirror und erhellte den Saal unter der Glaskuppel auf natürliche Weise. Es war die schönste Zeit hier unten. Er legte den Stein vor sich auf den Tisch, den er aus dem Gestein des Ghost gelöst hatte. Die Fläche war so glatt geschliffen wie Marmor. Er begann, mit dem Messer das letzte Zeichen einzuritzen. Das Rad mit den acht Speichen, die Himmelsrichtungen anzeigten. Er kannte bereits den Ort, an dem er ihn niederlegen würde.

Die Welt war ein Rätsel. Die Erde nur ein Abbild seiner Macht im Universum. Er meißelte mit dem Messer die Linie der Tagundnachtgleiche in den Stein. Der Tag, an dem die Sonne auf ihrer Bahn am Himmel den Äquator von Süden nach Norden durchlief. Noch neunzig Grad und der Kreis, er wäre vollendet.

So viele waren auserwählt, das Geheimnis zu ergründen und zur höchsten Erkenntnis zu gelangen. Doch noch nie war er so voller Hoffnung gewesen wie jetzt.

Acht Namen, von denen er bereits sechs gelöscht hatte. Blieben nur noch zwei. Und zwei Aufgaben, die zu lösen waren, bevor seine Seele endgültig zur Ruhe kam.

Was sie fürchteten, war das Ende. Das Ende, das jeden Anfang in sich trug, so wie der Kreis es vorhersagte.

Er murmelte leise den Songtext vor sich hin:

Wir sehen das Ende

Hält die Zeit für uns still

Und es wird uns finden

Wenn es uns will

Ein Lächeln überzog sein Gesicht. Erst dann legte er den Kopf in seine Hände und begann bitterlich zu weinen.

Dream On

Mein Kopf ist seltsam klar. Meine Sinne gespannt. Ich habe nicht das Gefühl, betäubt zu sein oder in einem Flash, wie es oft der Fall gewesen ist, wenn ich mir mit Ronnie einen Joint nach dem anderen reingezogen habe.

Nein, ich kann klar denken. Zumindest so weit, dass ich meine Umgebung bewusst wahrnehme. Aber ich bin total irritiert. Etwas hat sich verändert, als sei mein Körper in eine andere Dimension gerutscht. Meine Klamotten sind nass und dreckig, Putzlumpen, mit denen ich gut und gern das ganze Foyer des Grace geputzt haben könnte.

Hey, Ben, was hast du gemacht?

Licht dringt in den Raum. Grell, als blickte ich direkt in den Strahl einer Taschenlampe. Ich blinzele mehrfach, doch der Lichtstrahl dringt weiter in meine verklebten Augen. Offenbar liege ich mit dem Gesicht auf einer Matratze, die einen muffigen Geruch verbreitet und sich klamm anfühlt. Mein erster Gedanke ist: Ich befinde mich im Bootshaus und lausche auf die Wellen des Sees. Aber ich irre mich, das Geräusch klingt eher wie ein Rauschen. Wind, der über Felsen streicht.

Vom Gefühl her muss es irgendwann am Nachmittag sein. Langsam beginne ich, meine Umgebung genauer zu scannen.

Eine Matratze reiht sich an die andere. Links liegen zerwühlte Schlafsäcke, die merkwürdig altmodisch aussehen. Olivgrün und aus einem Material, das nicht so wirkt, als könnte man es sich damit gemütlich machen. Und noch etwas anderes. Ein durchdringender Gestank nach irgendetwas, das mir vertraut vorkommt, aber gleichzeitig Übelkeit verursacht. Es riecht nach Tod und Verwesung, kurz, es stinkt wie die Hölle. Und bald habe ich die Ursache gefunden. Rechts von mir türmt sich ein Kleiderhaufen. Ein schwarz-weiß gepunkteter Slip ganz oben, der von einem Stringtanga so weit entfernt scheint wie eine Schlange von einem Nilpferd. Und ein langer Rock, der mit orangefarbenen Blüten bedruckt ist, lässt meine Übelkeit auch nicht besser werden. Ganz abgesehen von der weißen Fransenjacke aus Lederimitat. So etwas trug man in den 70er-Jahren. Wie auch alle anderen Kleidungsstücke und die Schlafsäcke. Offenbar bin ich in irgendein historisches Machwerk geraten.

Ich habe immer noch keinen blassen Schimmer, was passiert ist und wo ich mich befinde. Ich taste nach meiner Kamera, finde sie im ersten Moment nicht, was mich total panisch macht. Ich versuche, mich zu erinnern, wo ich sie zuletzt benutzt habe, aber auch da ist alles schwarz.

Ich richte mich auf und sehe direkt auf meinen Rucksack. Offenbar habe ich darauf geschlafen. Leicht panisch taste ich nach der Kamera. Sie ist da, wo sie hingehört. Hektisch ziehe ich sie hervor, prüfe, ob alles in Ordnung ist. Alles scheint okay. Ich schalte sie an und beginne, den Raum zu filmen. Als ob ich mich so besser orientieren könnte.

Hinter mir entdecke ich ein schmales Fenster in einer Wand aus Holzbrettern. Es ist das eine, in einem völlig fremden Raum aufzuwachen. So etwas kann ja passieren. Ist mir sogar schon passiert. Aber als ich in diesem Moment einen Blick durch das Fenster werfe, ehrlich, das ist der totale Schock.

Nein, das kann nicht die Realität sein. Sondern vermutlich einer dieser Flashs, in die ich von Zeit zu Zeit gerate. Eine Folge der Pilze. Diese magic mushrooms, ich hatte sie genommen, ohne zu wissen, dass es der Trip meines Lebens werden sollte.

Offensichtlich befinde ich mich irgendwo zwischen Himmel und Erde. Unter mir Felsen, über mir ein strahlend blauer Himmel. Und rechts erhebt sich ein Gipfel, der immer näher zu kommen scheint, je länger ich ihn anstarre. Was mich wirklich irritiert, ist, wie klar meine Wahrnehmung ist. Ich spüre nichts von Taubheit in meinem Kopf, ich fühle mich nicht schwindelig, sondern seltsam erholt. Das Einzige ist diese Übelkeit, aber die kommt daher, dass ich mich einfach nicht auskenne. Und von dem Geruch, der im Zimmer hängt.

Ich drehe den Fensterhebel zur Seite und die hereinströmende frische Luft wirkt wie ein Gefrierschock. Obwohl die Sonne scheint, ist es kalt. Die weiße Schneefläche unter dem Fenster blendet mich.

Stück für Stück versuche ich zu rekonstruieren, wo ich mich befinde. Andererseits ist es nicht schwer, es zu erraten. Bei dem Bergmassiv, das rechts von mir in den Himmel reicht, kann es sich nur um den Ghost handeln. Nur bin ich ihm ziemlich nahe. Ich habe fast das Gefühl, dass ich ihn berühren kann. Und seine Höhe hat merklich abgenommen. Ich sehe direkt auf das Gletscherfeld, das sich bis zum Einstieg in den Gipfelpass zieht. Was nichts anderes heißt, als dass das Tal endlos weit unter mir liegt. Und ich mich in der alten Berghütte befinde, die am Fuß des Gletschers liegt.

Wie, verflucht noch mal, bin ich hier hochgekommen?

Ich schaue an mir hinunter. Ich trage meine hellblauen Nikes und nichts, aber auch gar nichts weist darauf hin, dass ich einen Gewaltmarsch hinter mir habe. Vermutlich bin ich geflogen. Ein seltsamer Humor überfällt mich. Es ist einer der besten Drogenflashs, die ich je hatte. Benjamin, sage ich mir, daraus möchtest du nie wieder erwachen.

In diesem Moment wird die Stille von einem hellen Lachen durchbrochen, das mich an Rose erinnert. Ich muss grinsen. Okay, alles scheint in Ordnung. Die anderen sind auch hier. Schnell stehe ich auf und verlasse den Raum, aber nicht ohne die Kamera.

Gesprächsfetzen dringen von unten herauf.

Ich stoppe.

Das Lachen von Rose ist das Einzige, was mir vertraut ist. Die restlichen Stimmen kann ich nicht zuordnen. Wie fremd sie mir sind, wird mir allerdings erst klar, als ich auf der schmalen Holztreppe stehe, die nach unten in den Gemeinschaftsraum der alten Berghütte führt. Ich halte die Hand vor die Augen, um mich vor der grellen Sonne zu schützen, die durch die Tür dringt.

Ich wage mich weiter vor, bis ich durch die Tür eine Gruppe von jungen Männern und Frauen erkenne, die sich draußen in zwei Reihen aufstellen. Im Hintergrund erstreckt sich der Wahnsinnsgletscher vor einem strahlend blauen Himmel. Ein Mädchen mit wilden Locken hat mir den Rücken zugewandt. Sie trägt eine knallenge, ausgebleichte Jeans, auf der am Oberschenkel das Peacezeichen aufgestickt ist. In den Händen hält sie einen riesigen Fotoapparat. Eine dieser uralten Polaroidkameras, deren einziger Vorteil es war, dass man Sekunden später schon ein Foto in der Hand hielt.

»Ich will den Ghost im Hintergrund sehen«, gibt sie lautstark Anweisung.

Ein unglaublich gut aussehendes Mädchen in der vorderen Reihe zieht einen Spiegel aus der Tasche, fährt sich ein paar Mal durch die Haare, schüttelt sie und zieht sich dann gekonnt die Lippen nach.

»He, Kathleen.«

Ich zucke zusammen. Das Mädchen hat exakt die gleiche Stimme wie Rose. »Wo hast du eigentlich die Kamera her?«

»Geliehen«, gibt das Mädchen zurück.

Einer der Jungen – stopp!

Was ich bis jetzt nicht wahrhaben wollte, spätestens jetzt muss ich es glauben. Nicht einer der Jungen. Sondern eindeutig Paul Forster. Ich kenne ihn von dem alten Super-8-Film, der in Brandons Besitz ist. Und alle aus der Gruppe tragen exakt die Klamotten wie auf der Polaroidaufnahme, die wir von den verschollenen Studenten aus den 70er-Jahren gefunden haben. Es stimmt alles bis ins letzte Detail.

So etwas kann man nicht träumen, oder?

Ich schließe die Augen und hole mehrfach tief Luft. Das hier ist nicht real. Gleich wird David mich wecken wie jeden Morgen.

Besser ich nehme in Zukunft diese verdammten Medikamente wieder, damit dieses Kopfkino ein Ende hat.

» Grace, Martha und Eliza nach vorne, sonst sieht man euch nicht.«

Nein, kein hartnäckiger David, der mich weckt.

Ich öffne die Augen. Nichts hat sich verändert. Die Szene ist dieselbe wie noch vor einer Sekunde. Paul Forster steht genau hinter dem Mädchen, das nur Grace sein kann, und kitzelt sie mit einem Grashalm im Nacken. Grace kichert, bis das Mädchen mit den Locken – Kathleen - sie zur Ordnung ruft und endlich auf den Selbstauslöser drückt.

»Beeil dich, Kathleen«, kreischt Grace und Kathleen rennt los und positioniert sich lachend neben Eliza.

»Eins, zwei, drei …«

»Cheese!«

Marshmallows

Die Werbung für das neueste Deo von Axe schallte durch den Supermarkt.

Debbie spürte, wie ihr der Schweiß die Achseln hinunterlief und der Metallbügel unter ihrer Brust so tief einschnitt, dass sie sich am liebsten hier und jetzt ihres BHs entledigt hätte. Das kam davon, wenn man sich Unterwäsche im Internet bestellte. Aber hier oben im Tal gab es nun mal kein Victoria’s Secret. Und der Laden in Fields führte nur Unterwäsche, wie Debbie sie beim Ausräumen von Grandma Marthas Wohnung entdeckt hatte. Zwei Monate war es nun her, dass ihre Großmutter gestorben war, und noch immer hatte die Testamentseröffnung nicht stattgefunden. Debbie gab die Hoffnung nicht auf, dass sie die Alleinerbin war, denn das würde bedeuten, nie wieder in das Haus von Superdad Wilder zurückkehren zu müssen. Aber was noch viel wichtiger war, sie lauerte darauf, dass sie irgendwo in den Sachen von Grandma Martha (dieser Lügnerin), den Beweis finden würde, nach dem sie seit Monaten suchte. Den Beweis dafür, dass ihre Großmutter die Martha war, die in den Siebzigerjahren des letzten Jahrhunderts mit den anderen auf dem Ghost war. Denn dann würde sie endlich dazugehören wie Julia, Robert und alle anderen bis auf Benjamin.

Debbie schob ihre Tasche auf die linke Schulter, zog das iPhone aus dem Seitenfach, um zum x-ten Mal an diesem Morgen ihre Einkaufsliste zu kontrollieren:

drei Dosen Coca Cola

eine Flasche Schokomilch

eine Batterie Fruchtjoghurts (Smartiesgeschmack)

ein Eimer Schokopudding

fünf Schokoriegel (Marke Wonderbar) im Sonderangebot

drei Dosen Cashewnüsse

eine Tüte Muffins

Ihre weißen Cowboystiefel klackten bei jedem Schritt. Sie konnte kaum die Nachrichten verstehen, die über die Lautsprechanlage des Supermarkts schallten. Sie stoppte kurz, bevor sie in den nächsten Gang einbog.

Über Guatemala zieht seit heute Nachmittag eine rote Staubwolke, deren Herkunft noch unklar ist.

Apropos Staub. Das grelle Licht der Halogenbeleuchtung brachte den schmutzigen Fußboden des Supermarktes zum Vorschein. Debbies rechter Stiefel zeigte seitlich einen braunen Streifen, der vorher noch nicht da gewesen war. Wieder einmal war hier drinnen nicht gründlich geputzt worden. Debbie würde sich bei der Collegeleitung beschweren und eine Kurznachricht im Grace Chronicle, der Campuszeitung, veröffentlichen. Wozu war sie, Deborah Wilder, schließlich die Chefredakteurin?

Sie machte an der Kühltheke halt, wo ein dünner pickeliger Angestellter gerade die Fächer mit Smoothies, Joghurts und Riesenpackungen Pudding auffüllte. Seine Blicke flogen über sie hinweg und blieben am Saum ihres Kleides hängen. Spanner. Debbie warf ihm einen angewiderten Blick zu und zog das Kleid nach unten. Es rutschte sofort wieder in die alte Position.

Unschlüssig hing sie über dem Regal mit den Milchprodukten.

Ersten Meldungen zufolge hat die tödliche Wolke bereits über fünfhundert Menschenleben gekostet.

Debbie beugte sich weiter vor.

Alle Flüge wurden gestrichen. Die Bevölkerung wurde aufgefordert, Wohnungen und Häuser nicht zu verlassen.

Debbie stellte sich auf die Zehenspitzen und griff ganz nach hinten in das Fach mit den Joghurts. Die eisige Luft drang durch den dünnen Stoff ihrer Oversize-Jacke und überzog ihre Arme mit Gänsehautpickeln, die sich anfühlten, als sei sie in einen Schwarm aggressiver Moskitos geraten. Mit einem Blick stellte sie fest, dass das Haltbarkeitsdatum des Joghurts bereits zwei Tage abgelaufen war. Dasselbe bei zwei weiteren Bechern. Wenn man nicht aufpasste, dann vergifteten die einen mit ihren Ladenhütern.

Entrüstet wandte sie sich um. »Hören Sie mal, das hier …«

Doch der Angestellte hatte sich in Luft aufgelöst. Stattdessen tauchte Benjamin in ihrem Gesichtsfeld auf, schräg nach unten gebeugt und die Kamera verdächtig locker in der rechten Hand.

»Hast du heute Morgen vergessen, dich anzuziehen?«, fragte er grinsend.

Debbie zerrte das Kleid nach unten. Mit Sicherheit hatte er ihren Stringtanga gefilmt.

»Fuck off, du Schwein.«

Benjamin lachte. »Ich mache gerade eine Serie über unentdeckte Orte der Welt. Dein Hintern kommt aufs Cover.«

Debbie griff nach einem Eimer mit Sahnepudding. »Keine Ahnung, was mit dir los ist, Fox. Oh Mann, siehst du scheiße aus. Und ich weiß auch, warum. Du nimmst deine Medikamente nicht mehr. Schon seit Tagen. Denk daran, wie schnell sich das Zeug abbaut. Und dann fährst du wieder zur Hölle.«

»Was geht dich das an, Deb?« Aus der Art, wie er die Schultern gleichgültig hob, merkte sie, dass sie recht hatte.

Ihr Blick fiel auf den Zwölferpack Super Barbecue Marshmallows, der unter seinem Arm klemmte.

»Warum habt ihr mir nicht Bescheid gesagt?«

»Was meinst du mit Bescheid?«

»Über die Party!«

»Party?«

»Du willst die Marshmallows doch nicht alleine essen, oder?«

»Wer weiß, was die Zukunft so bringt. Ich bereite mich jedenfalls gern vor. Vorräte sammeln und so. Macht man als Eichhörnchen.«

Debbie spürte, wie ihr die Hitze ins Gesicht schoss. »Ich bin sehr genau im Bild, dass später eine Grillparty stattfindet.«

»Und?«

»Und? Ich bin nicht eingeladen.«

Benjamin grinste. »Ich auch nicht. Aber wir leben in einem freien Internet. Gott segne Facebook.«

Debbie behauptete gerne, sie sei aus Facebook wieder ausgetreten, weil es einfach zu gefährlich sei. Im Grunde war das auch richtig. Sie spionierte zwar anderen gerne hinterher, aber hatte keine Lust, dass jemand Daten über sie sammelte. Nein, sie hatte ihre eigenen Wege, sich in die Community einzuschleusen.

Sie stiefelte weiter, ohne Benjamin noch einen Blick zuzuwerfen.

Was seine Medikamente betraf, so hatte sie die Packungen in einer Plastiktüte im Papierkorb neben seinem Schreibtisch entdeckt. Ja, sie interessierte sich für die Mülleimer ihrer Freunde. Warum auch nicht? Schließlich hatte Benjamin auch ihren Hintern auf seinem Speicherchip.

Vielleicht sollte sie mal bei Gelegenheit mit dem Vampir reden, der Krankenschwester am Grace. Schließlich trug man Verantwortung für seine Freunde.

Heute muss mit weiteren heftigen Schneefällen gerechnet werden, plärrte es aus dem Radio. Ein Tief aus Alaska …

Tief? Welches Tief?

Dort draußen brannte die Sonne vom Himmel, sodass Debbie sich einen Sonnenbrand im Gesicht zugelegt hatte. Ihre Haut war nun einmal außergewöhnlich empfindlich. Auch wenn es als Zeichen für eine 1-a-Abstammung galt, so war es doch lästig.

Als Debbie mit ihrem Wagen um die Ecke in Richtung Kasse bog, sah sie, wie Professor Brandon gerade einen riesigen Sack Hundefutter auf das Laufband hievte und der Kassiererin seine Scheckkarte reichte. Sie beeilte sich, um einer Studentin, die ebenfalls auf die Kasse zusteuerte, den Weg abzuschneiden.

»Morgen, Mr Brandon.«

Der Philosophieprofessor schreckte aus seinen Gedanken, wandte sich kurz um und musterte sie. Deborah stapelte ihre Süßigkeiten, Chips, Limonade und Pudding auf das Band.

»Deborah.« Brandon zog die Augenbraue hoch. »Was macht Ihr Essay? Kommen Sie mit der Literatur zurecht?«

Debbie wollte ihm gerade antworten, als seine Scheckkarte wieder aus dem Apparat sprang.

»Tut mir leid«, meinte die Verkäuferin. »Funktioniert nicht.«

»Mist.«

Oh Mann, Brandon fluchte wie ein ganz normaler Mensch.

Debbie erkannte eine Chance, wenn sie ihr sich bot. »Kann ich Ihnen etwas leihen?«, fragte sie eifrig, und bevor Brandon noch antworten konnte, drückte sie der Frau an der Kasse bereits einen nagelneuen Zehndollarschein in die Hand.

Brandon hob die Hand: »Miss Wilder, ich bin Ihnen etwas schuldig.«

Das klang gut. Er war ihr etwas schuldig.

Debbie war zufrieden.

Die zehn Dollar würden zwar ihre Note in Philosophie nicht verbessern, weil es nichts zu verbessern gab, aber man musste immer die Zukunft im Auge behalten. Und das hieß noch ein Jahr College.

Sie packte die Muffins aufs Band und ließ zur Sicherheit noch einmal den Blick über den Laden schweifen.

Womöglich hatte sie irgendetwas übersehen, vergessen oder …

Ihr Blick blieb am Zeitschriftenständer hängen. Ein Cover starrte ihr entgegen. Sie fasste es nicht! Dort steckte eine Sonderausgabe von Mysteries. Normalerweise erschien die nur alle zwei Monate.

Debbie liebte diese Zeitschrift. Ihr Appetit auf Storys über verschollene Schätze, paranormale Phänomene und mysteriöse Orte war unersättlich.

»Fünfundreißig Dollar und …«

Debbie ignorierte die Kassiererin, die Schlange, die sich hinter ihr gebildet hatte, und auch Benjamin, der ihr nachrief: »Die Marshmallows sind ausverkauft.«

Sie zog die Sonderausgabe aus dem Ständer und überflog die Schlagzeilen. Vor Aufregung vergaß sie, dass sie die Kasse blockierte. Sie blätterte sie auf und holte tief Luft.

»Apokalypse. Dead Valley or Death Valley?«

Während sie las, schlurfte sie zurück, übersah einen herrenlosen Einkaufswagen und blieb mit der Schnalle ihres Stiefels an einem der Räder hängen. Sie bemerkte nicht, dass alle ihr ungeduldig entgegenstarrten. Stattdessen legte sie die Zeitschrift aufs Band. Mann, die Kassiererin war vielleicht lahm. Wie lange es dauerte, bis sie auf den Hundertdollarschein herausgegeben hatte. Debbie ließ das Restgeld einfach in ihre Tasche fallen und schlug die Zeitschrift erneut auf. Wer hatte den Artikel geschrieben?

Ihr Blick wanderte nach oben.

Sammy T. Linford. Nie gehört.

Barbecue

Chris beugt sich nach vorne und löst eine Batterie Marshmallows vom Stock. »Scheiße, sind die heiß.« Er wirft einen nach dem anderen in die Luft, um sie abzukühlen. »Irre. Mitte März im Hochgebirge, und wir grillen draußen. Normalerweise müssten wir uns um diese Zeit den Arsch abfrieren.«

»Ich hab nichts gegen die Klimaerwärmung«, murmele ich.

»Klimaerwärmung? Bist du sicher, Benjamin? Überall in den Rockies schneit es, was das Zeug hält, nur wir bleiben verschont.«

»Mir scheißegal, Hauptsache ich sitze im Trockenen.«

»Egoist«, wirft Katie dazwischen.

»Ach ja? Und was ist mit dir? Du freust dich doch genauso, dass du jeden Tag zum Klettern gehen kannst.«

»Würde ich auch tun, wenn es schneit.«

Ich strecke die Beine so weit aus, dass sie die Steine der Feuerstelle berühren. Meine Schuhe sehen aus, als ob sie glühen. Ich lasse sie nicht aus den Augen, bis aus meinen Füßen Feuerbälle werden, die in den nächtlichen Himmel steigen, um sich dort in eine Wolke von Funken aufzulösen.

Es ist früher Abend. Die Temperaturen sind mit der Dunkelheit gefallen, aber es ist immer noch ungewöhnlich warm für diese Jahreszeit. Wir sitzen alle acht um das Feuer. Definitiv zu viele Leute. Vor allem, wenn keiner einen Ton sagt und man in diese Art von kollektivem Schweigen verfällt, das mich unruhig macht. Das Feuer knistert und ein süßer Geruch nach karamellisiertem Zucker hängt in der Luft. Egal wo ich sitze, der Rauch weht immer in meine Richtung.

Der Qualm hat es auf mich abgesehen. Hat mich auf dem Kieker. Inzwischen tränen meine Augen, als ob ich einen Heulkrampf hätte, und jedes Husten scheint meine Brust zu sprengen. Noch immer steckt mir der Traum von gestern Nacht in den Knochen. Mann, der hatte sich so horrormäßig real angefühlt – Scheiße, als ich aufgewacht bin, dachte ich tatsächlich, ich hätte eine Zeitreise in die 70er hinter mir und sei Paul Forster, Grace und den anderen auf dem Ghost begegnet.

Vielleicht war es doch keine gute Idee, die Pillen abzusetzen.

Etwa zwanzig Meter von uns entfernt ertönt lautes Gelächter. Ein lautes Platschen folgt. Eine Gruppe Freshmen hat dieselbe verrückte Idee wie wir und übertreibt das Ganze noch, indem sie schwimmen gehen.

»Ich glaub’s nicht. Da sind welche im Wasser«, sagt Julia.

»Das ist verboten«, mischt sich Debbie ein, ihre dicke Marshmallow-Hand in einer meiner Marshmallow-Packungen. »Steht im Grace Chronicle. Das ist lebensgefährlich. Der Wasserstand des Lake Mirror ist in den letzten Wochen um einen halben Meter gestiegen.«

Tatsächlich schreit jetzt jemand, als ginge es um sein Leben. »Scheiße, Scheiße, Scheiße, ist das kalt. Und da unten ist eine saustarke Strömung. Als ob mich jemand mit der Hand nach unten zieht.«

Kollektives Lauschen. Wir rechnen inzwischen mit allem. Doch als ein lautes Lachen folgt, die Musik bis zum Anschlag aufgedreht wird, entspannen wir uns gleichzeitig, als würden wir bei einer Yogasession auf Kommando ausatmen.

»Eigentlich müssen wir das der Security melden. Du, Julia, du musst das machen. Du bist im Team der Rettungsschwimmer.«

»Klingt nicht gerade so, als müsste jemand gerettet werden«, murmelt Chris. »Eher, als hätten die ne’ Menge Spaß.«

Debbie mampft die Marshmallows einfach so, ohne sie im Feuer zu rösten. In ihrem Schoß liegt eine zusammengerollte Zeitschrift und ihre Stirn ist in Falten gelegt, die verraten, dass sie mit irgendetwas hinter dem Berg hält.

Nein, ich will nicht wissen, worum es diesmal geht.

»Ihr erkennt die Zeichen nicht«, verkündet sie prompt. »Nichts passiert mehr zufällig. Ich habe es schwarz auf weiß. Ich glaube, dass wir …«

»Alle sterben müssen«, unterbreche ich sie. »Mit einer Wahrscheinlichkeit von hundert Prozent. Oder, Robert?«

»Früher oder später«, erwidert er. Er sagt das so, dass aus meinem Witz irgendwie eine tiefgreifende Erkenntnis wird.

»Du musst dich gar nicht über mich lustig machen, Benjamin.« Debbie verschränkt ihre Arme vor der Brust. »Siehst du nicht, was los ist?«

Huch, jetzt deutet sie mit dem pink lackierten Fingernagel auf mich, der immer länger zu werden droht. »Guatemala, das ist nur der Anfang, sag ich dir. Er hat es vorhergesehen!«

Was quatscht sie da nur wieder? Oh Gott, in meinem nächsten Leben erfinde ich garantiert einen Knopf, der Debbie einfach lahmlegt. Das wäre wirklich mal eine gute Tat. Damit könnte ich mir eine Menge Karmapunkte verdienen.

»Du hast keine Ahnung, stimmt’s?«, kreischt sie.

Da hat sie ausnahmsweise recht. »Sollte ich?«

»Kam den ganzen Tag in den Medien. Hallo!!! Santa María de Jesús? Der Sandsturm? Eine rote Wolke, an die tausend Meter hoch, mehrere Kilometer breit, eine Geschwindigkeit von achtzig Stundenkilometern. Und du weißt das nicht? Das Ganze dauerte nur wenige Minuten. Auf den Bildern sieht es aus wie in Pompeji. Die Feuerwehr musste die Leute aus ihren Autos schneiden. Die sind alle erstickt.«

Wenn nur die Hälfte von der Hälfte stimmt, was Debbie erzählt, dann möchte ich es lieber nicht wissen. Wozu auch?

Ein Windstoß fährt durch das Feuer, Asche rieselt vom Himmel. Panik durchfährt mich. Ich ziehe die Kapuze über den Kopf.

»Über fünfhundert Tote. Und es heißt, ihre Haut sieht aus wie verbrannt. Aus dem Nichts kam die Wolke und verschwand wieder im Nichts. Was, wenn sie hier auftaucht?«

Mir wird schlagartig übel. Marshmallows mit Senf. Welcher Idiot ist nur auf die Idee gekommen?

In meinen Ohren beginnt es zu rauschen, ein lang anhaltender Ton. Ich springe auf und beginne, meinen Körper abzuklopfen. Ameisen, schießt es mir durch den Kopf. Überall Ameisen. Sie krabbeln über meinen Körper. Wie kann ich sie wieder loswerden? Ich wage nicht zu atmen, und wenn ich den Mund öffne …

»Alles okay?«, höre ich eine Stimme direkt an meinem Ohr. »He, Ben, alles klar?«

Vor meinem inneren Auge erscheint ein heller Punkt, der immer größer wird. Wie ein Objektiv, das eine Vergrößerung nach der anderen einstellt. Und mir die Details der Umgebung zeigt. Augen, die mich anstarren. Und ich sitze noch an derselben Stelle wie zuvor. Nichts hat sich verändert. Außer, dass an Debbies Mund ein Rest von einem Marshmallow klebt. Es sieht aus, als hätte sie vor Aufregung geschäumt.

»Bin wohl kurz eingenickt«, lache ich. »Und das, obwohl es gerade so spannend war.«

»Achtet nicht auf den«, giftet Debbie. »Er hat seine Medikamente abgesetzt. Nicht mehr lange, und er wird weiße Mäuse sehen.«

Woher, verflucht noch mal, weiß Debbie das mit meinen Medikamenten? Ich habe niemandem davon erzählt, dass ich die Wunderpillen abgesetzt habe. Obwohl die Ärzte auf mich eingeredet haben. Ich müsste damit rechnen, dass die Halluzinationen und Stimmen wieder zurückkehren, die mich noch lange nach der Zeit in der Klinik gequält haben. Eine Folge der magic mushrooms. Das Zeug hat sich in meine Gehirnzellen gefressen, ach was, nicht nur in die, sondern vermutlich auch in jede andere meiner Zellen. Denn in den letzten Tagen, da arbeiten meine Sinne im Turbobetrieb. Ich rieche mehr, schmecke intensiver, höre besser. Was ich anfasse, scheint sich zu verformen. Nicht immer, aber es häuft sich. Auch, dass ich Dinge sehe. Dinge, die gar nicht da sind oder die längst passiert sind. Wie letzte Nacht.

Immer wieder muss ich in diesen Tagen daran zurückdenken, wie es angefangen hat. Als ich damals dieses rechteckige Päckchen in den Händen hielt, stach mir der Absender sofort ins Auge. Ich riss das Papier herunter und starrte ziemlich lange auf die Zigarettenschachtel in meinen Fingern. Sie konnte alles bedeuten. Klar, dass ich die Schachtel öffnete. Ich hatte mit allem gerechnet, nur mit einem nicht. Dass Ronnie mir Pilze schicken würde. Genauer gesagt drei mushrooms, die aussahen wie – sorry – getrocknete Katzenscheiße. Zu diesem Zeitpunkt war ich ziemlich blank, was Drogen betraf. Der Vampir am Grace – so nennen wir hier die Krankenschwester, also Mrs Bates – hatte regelmäßige Drogenkontrollen eingeführt, bis heute hat sie mich auf dem Kieker. Aber erst am Tag, bevor Ronnies Päckchen kam, hatte ihre Stimme mich mitten aus dem Filmseminar gerissen: Mr Benjamin Fox – bitte zur Drogenkontrolle.

Der Zeitpunkt war also günstig, die Katzenscheiße zu probieren.

Ein paar abgefahrene Halluzinationen, dachte ich damals, waren genau das, was mir fehlte. Außerdem war ich felsenfest überzeugt, es handele sich um Ronnies Friedensangebot. Leider erwies sich das im Nachhinein einfach nur als mieser Racheakt. Mordversuch wäre vielleicht zu hoch gegriffen.

Der Idiot, der ich war, schluckte ich das Zeug also einfach. Und es fuhr in mich hinein wie der leibhaftige Teufel. Plötzlich sah ich lauter Hügel hinter der weißen Tapete, die sich nach außen wölbte und sich zu bewegen begann. Als wären unter der Tapete Tausende von Ameisen, die alle in dieselbe Richtung marschierten. Sie wanderten in quadratmetergroßen Strukturen unter dem Papier, es sah irre aus, ich konnte mich kaum daran sattsehen. Der Veloursteppich zu meinen Füßen verformte sich zu einer Landschaft mit hohen Felswänden und tiefen Tälern. Als würde ich mit einem Hubschrauber über den Grand Canyon fliegen, machte ich im Teppich wilde Strukturen aus, die sich ständig veränderten.

Es war einfach unglaublich. Ich kam von der Hölle in den Himmel. Dachte, das Tal sei nie schöner gewesen. Ich ging einfach los. Und als ich wieder aufwachte, lag ich im Krankenhaus und meine inneren Organe taten alles, um mich ins Jenseits zu schicken.

Was in diesen drei Tagen geschehen ist, nachdem ich die Pilze genommen habe? Ich habe keine Ahnung. Mir fehlt die Zeit komplett in meiner Erinnerung. Obwohl: Das ist nicht ganz richtig. Etwas sagt mir, dass meine Halluzinationen nach dem Zusammenbruch damals und die Bilderfetzen heute doch etwas Reales an sich haben. Sie fühlen sich an, als hätte ich alles wirklich erlebt. Sie sagen mir, dass sie Erinnerungen sind. Nur sind sie so absurd, dass man sie besser niemandem erzählt. Zumindest nicht, wenn man nicht für verrückt erklärt werden will.

»He, Benjamin, was sagst du dazu? Was würdest du machen?« Chris stochert mit einem Stock in der Glut, reißt mich aus den Gedanken, indem er mir eine Flasche Bier in die Hand drückt.

»Was?«

»Wir reden gerade darüber, was wir tun würden, wenn wir neu starten könnten. Also, stell dir vor. Dein Gehirn ist leer. Eine nagelneue Festplatte. Unbeschrieben. Unformatiert. Wer du bist – gelöscht. Wie du bist – gelöscht. Denk dir was aus. Deine Vergangenheit ist nie passiert. Nur das, was ab jetzt passiert, hat Bedeutung. Was würdest du tun?« Er macht eine kurze Pause. »Ich zum Beispiel«, Chris legt den Arm um Julia und zieht sie an sich. »Würde mit Julia hier verschwinden. David will Medizin studieren.«

»Ich würde Gedichte schreiben …«, ruft Debbie. Sie wühlt wie ein herrenloser Hund in allen Plastiktüten. »Hat niemand Erdnussbutter mitgebracht?«

»Und Robert will, dass alles so bleibt, wie es ist …«

»Das habe ich nicht gesagt«, widerspricht Robert. »Doch ich würde nichts ändern.«

»Sag ich ja …« Chris nimmt einen Schluck Wein. »Und du, Ben? Was würdest du mit deinem Leben anfangen, wenn du frei wärst von allem?«

Ich starre ihn an. Meint er das ernst?

Fragt er das ausgerechnet mich? Er weiß, dass ich so etwas wie eine Stunde null schon einmal erlebt habe. Einen zeitweisen Stromausfall da oben. Und darüber kann ich nun mal nicht sprechen. Es macht mir eine höllische Angst, obwohl … vergessen, dass man etwas vergessen hat … Ich gebe so etwas wie ein unbehagliches Lachen von mir.

»Habt ihr keine anderen Sorgen?«, frage ich und fühle im selben Moment, wie sich von hinten jemand nähert.

Die Stimme kenne ich gut, die dann sagt: »Aber sie haben recht, Ben, an die Zukunft zu denken. Denn das Ganze hier oben hat ein Ende. Und zwar schneller, als ihr es vermutet.«

Who’s Next?

Das haut echt rein. Und Tim Yellad, der plötzlich neben uns steht, grinst nicht dazu, wie er es normalerweise tun würde. Ich weiß sofort, dass etwas passiert sein muss. Eigentlich ist er jemand, der einem in die Augen sieht. Aber jetzt ist das Gegenteil der Fall. Er schaut zur Seite und ich kann erkennen, wie er die Hände in den Taschen seiner Jacke zu Fäusten ballt.

»Was ist passiert?« Ich beobachte Katie, wie sie aufspringt, zu Tim tritt und ihn am Arm fasst. »Was meinst du damit, dass das Ganze hier ein Ende hat?«

Mir wird eng in der Brust.

»Nichts Gutes. Nicht für euch und vor allem nicht für das College … Es ist wieder passiert.«

»Wer ist es diesmal?« Roberts Ton ist gelassen wie immer.

Ich hebe die Flasche und nehme einen Schluck Smirnoff.

»Harper.«

In mir wird auf einen Schlag alles kalt. Mein Herz bleibt stehen. Ich höre auf zu atmen.

»Harper?«, wiederholt Rose. Ihre Lippen zittern, in ihren Augen sammeln sich Tränen, ihre Stimme ist kaum zu hören: »Du meinst Richard Harper?«

»Der Superintendent?« Auch Katie ist blass geworden.

Richard Harper, denke ich und sehe ihn vor mir. Vor allem sein Gesicht. Das Entsetzen, als er die Explosion hörte. Es verschwand nicht, als klar war, dass Tom sich in die Luft gesprengt hatte. Die Worte, die er zu mir sagte, als ich auf den Knien lag und heulte. »Es ist nicht deine Schuld. Du hättest nichts tun können.«

Richard Haper … tot?

Er war der Chefermittler in Sachen Tal und … er hatte mich wochenlang in der Mangel nach Toms Amoklauf. Erinnern, erinnern, erinnern.

Ich kann einfach nicht glauben, was Tim sagt. Harpers Tod macht keinen Sinn. Es muss ein Irrtum sein. Und Tim Yellad – er würde sich nicht zum ersten Mal als Lügner entpuppen.

Katie scheint ein ähnlicher Gedanke gekommen zu sein. »Behauptet wer?«, fragt sie nach.

»Es kam in den Nachrichten. Man hat ihn in seinem Büro gefunden.«

Neben mir nehme ich eine schnelle Bewegung wahr. Rose, die aufspringt und davonläuft. Sie schafft es gerade noch, sich einige Meter zu entfernen, als die Würgegeräusche eindeutig zu erkennen geben: Sie muss sich übergeben. David will ihr folgen, aber Julia hält ihn zurück. »Ich gehe schon.«

»Er hat sich erhängt.« Tim sagt es einfach so, aber er schaut immer noch zu Boden und genau das verrät mir, dass es die Wahrheit ist.

Das Gelächter der anderen Gruppe dringt zu uns herüber.

»Erhängt?«, schreit Debbie. »Wann?«

»Heute Morgen.«

Manchmal denke ich, Selbstmord hat eine gewisse Logik. Das Armutszeugnis gebührt nicht demjenigen, der sich den Laufpass gibt, sondern der Welt, die ihn in die Enge treibt. Und ab und zu kann man es einem ansehen, dass er die Schnauze voll hat von all dem Mist, der so rundum passiert. Aber der Superintendent gehörte definitiv nicht dazu.

Und: Er ist nicht der Erste. Seit Monaten, genauer gesagt, seit der Sache mit Tom, hält eine Selbstmordserie das Tal in Atem. Nur deswegen hat Robert auch so ruhig gefragt, wen es diesmal getroffen hat.

Den Anfang hatte Susan Hill gemacht, die Tochter der Dozentin, die Tom erschossen hatte. Sie hatte sich an der Brücke erhängt, die hinüber zur Sperrzone führt. Die Nächste, im Abstand von nur zwanzig Tagen, war Jenn gewesen, eine Studentin aus unserem Jahrgang. Auch sie war beim Amoklauf dabei gewesen. Und schließlich kurz vor Weihnachten Taylor, ein Footballstar des Colleges, ein Typ, den normalerweise nichts aus der Bahn werfen konnte.

Und jetzt auch noch Richard Harper, der leitende Ermittler.

»Aber wie kann das sein? Harper kann man nicht mit Susan, Jenn oder Taylor vergleichen«, sagt jetzt auch Katie. »Die waren traumatisiert. Ich meine, Susan hat gesehen, wie Tom ihre Mutter einfach abgeknallt hat. Und Jenn … so was verkraftet man nun mal nicht so leicht. Harper dagegen … er ist für so etwas ausgebildet. Das mit Tom kann nicht der Grund sein.«

Die Trauer um Tom, ich kann sie nicht abstellen, egal für welch ein Monster die anderen ihn halten. Sie hat sich in meinem Körper fest eingenistet. Nur zeigen kann ich sie nicht. Ich muss sie für mich behalten.

Ich starre ins Feuer, als sein Gesicht darin erscheint. Er lächelt. Lächelt. Lächelt immer, wenn ich an ihn denke. Was ist mit ihm passiert? Wie hat es dazu kommen können, dass er ausgerastet ist? Ich verstehe es nicht.

Seit Ronnie war er der beste Freund, den ich je hatte. Und ich habe ihn geliebt. Wirklich geliebt. Sind wir nicht doch so etwas wie Seelenverwandte gewesen? Oder habe ich mich da getäuscht?

»Ausgebildet oder nicht. Die Sache mit dem Amoklauf hat Harper offenbar den Rest gegeben. Es hat eine interne Untersuchung gegeben. Man hat ihn verantwortlich gemacht.«

»Nein.« Robert erhebt sich und blickt in die Runde. »Das ist nicht der Grund für seinen Tod.«

»Robert hat recht«, mischt Katie sich wieder ein. »Das ist Schwachsinn. Harper war einfach nicht der Typ dazu.«

»Woher willst du das wissen?«, fragt Chris. »Klassischer Fall von einem Beamten, der sich zu sehr reingehängt hat. Er hat sich Vorwürfe gemacht und sich die Schuld gegeben. Außerdem …«

Tim schüttelt den Kopf. »Da ist noch etwas. Das Seil, das Harper benutzt hat – es ist das gleiche wie bei Susan Hill und Jenn. Ein rotes Seil, vier Meter lang … alles identisch. Die Enden passen zusammen.«

Tim geht in die Knie, greift nach einem Ast und wirft ihn ins Feuer. Funken fliegen durch die Luft. Ich lasse mich zurückfallen und starre ihnen nach. Winzige Leuchtpunkte, die verglühen, um als schwarze Ascheflocken zurückkommen.

Das alles ist total irre.

Harper? Selbstmord, weil er schuld an dem Amoklauf war? Dass ich nicht lache. Wenn hier einer schuldig ist, dann bin ich es. Ich habe einfach nicht kapiert, was mit Tom los war. Ich, der ihn als Einziger hätte aufhalten können.

Und vielleicht – schießt ein wahnsinniger Gedanke in mir hoch, vielleicht ist es ja Tom auch selbst, der noch nicht genug hat. Der weiter Amok läuft, sie in den Tod treibt, so lange, bis er alle erwischt hat, die dabei waren.

»Ich halte das nicht länger aus.«

Ich habe nicht bemerkt, dass Rose wieder hier ist. Sie fährt mit der Hand durch ihr kinnlanges Haar, das im Feuer rot leuchtet. Sie schiebt sich dichter an David, der den Arm um sie schlingt. Das perfekte Paar, denke ich und spüre, wie ich die beiden beneide.

»Wir können das nicht einfach geschehen lassen«, fährt sie fort. »Wir müssen etwas tun.«