cover
Anja Glunz

Magisches Erbe 2

Die Rückkehr der Macht





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Intro

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Wir müssen das Leben loslassen, das wir geplant haben,

damit wir das Leben leben können, das uns erwartet.

 

Prolog

 

Altreia blickte über das Land, die grünen Hügel versehen mit den lila Tupfen des Heidekrauts, den See. Über die Zeit war es ihr so lieb geworden, wie ihre eigene Heimat. Sie stand am Eingang der Höhle, welche so viele Geheimnisse barg.

Mitunter überkam sie eine bleierne Schwere, die sie nicht recht zu deuten wusste. Vielleicht war es der Jahrhunderte währende Versuch, die Balance zwischen Gut und Böse aufrecht zu erhalten. In letzter Zeit hatte es einige beängstigende Entwicklungen gegeben. Mit wachsender Unruhe beobachtete sie zunehmende Schwankungen in diesem so zerbrechlichen Gefüge.

Es hatte schon einmal eine Zeit gegeben, in der ihnen die Kontrolle zu entgleiten drohte. Altreia seufzte ob dieser entsetzlichen Erinnerungen und schloss die Augen. Welche fürchterlichen Kämpfe damals gewütet hatten, wie viele Opfer es zu beklagen gab. Noch immer, nach all dieser Zeit, weinten ihre Seele und ihr Herz.

Knapp einer Katastrophe entgangen, wurde dereinst beschlossen, eine Gemeinschaft zu gründen. Sie hatte und hat noch immer die Aufgabe, das zu schützen, wonach es die schlimmsten Ausgeburten der Hölle gelüstet. Das, was ihnen ungeheure Macht verleihen würde. Das, was das Gleichgewicht ein für alle Mal zerstören würde: der Zugang zu den Portalen, und einem Wissen, welches mit aller Macht geschützt werden musste.

Diese Gemeinschaft nennt sich: Die Wächter.

Jahrhunderte lang meisterten die Wächter tapfer und besonnen ihre Aufgaben, bis jetzt. Unter den Menschen war einer, der begabteste und furchtloseste von ihnen, der sich vehement weigerte, die Linie seiner Ahnen fortzuführen.

Doch sie brauchten ihn, denn ein uralter Feind erstarkte und hatte bereits seine Klauen in die Welt der Menschen geschlagen.

Vor einigen Monaten hatten sie ihm Einhalt gebieten können. Doch damit war nur eine Schlacht gewonnen, nicht mehr. Keiner von ihnen ahnte auch nur, was auf sie zukam. Würde es dem Dämon gelingen, seine ganze Kraft wiederzuerlangen, es wäre ihr Untergang. Das Ende einer Welt, wie die Menschen sie kannten. Und vielleicht auch der Untergang noch vieler anderer Welten. Sie alle waren nun abhängig von dem Einen, denn es war an ihm, das verlorene Buch wieder in seinen und somit in ihrer allen Besitz zu bringen.

Altreia schlug sich mit der Faust in die andere Handfläche. Sie musste, nein sie würde eine Möglichkeit finden, um diesen Sturkopf von einem Menschen dazu zu bringen, sich zu dem zu bekennen, für das er geboren war. Er musste endlich begreifen, dass niemand seinem Schicksal entfliehen kann. Dabei kam es nicht darauf an, ob dieses einem nun gelegen kam oder nicht, ob es einem verständlich war oder nicht, nein noch nicht einmal, ob es schon tiefe Wunden geschlagen hatte. So tiefe Wunden, dass diese einfach nicht heilen wollten. Nein, die Aufgaben eines jedem erklären sich nicht, sie geben demjenigen weder Hoffnung, noch stürzen sie ihn in den Abgrund. Das Schicksal und die damit verbundenen Aufgaben sind ein universelles Vermächtnis, welches mit keinem momentanen Verständnis einhergeht.

Es war nun an der Zeit, dass dieser Mann sein Schicksal annahm, sich zu dem bekannte, was er war: Er war der Anführer der Wächter!

Kapitel 1

 

London 2011

 

Kim schlug die Augen auf und streckte sich genüsslich. Trotz des dauergrauen Himmels war ihre Laune blendend. Es war erst Mitte September, doch der Sommer begann bereits, sich zu verabschieden, und die leichte Melancholie des Herbstes lag in der Luft. Früher hatte ein solcher Morgen sie oft in eine leicht depressive Stimmung versetzt, brachte doch gerade diese Zeit des Jahres bereits ein Gefühl von Abschied mit sich. Jedoch hatte sie nicht nur hervorragend geschlafen, sondern auch das ein oder andere sehr befriedigende Erlebnis mit Art teilen dürfen. Nein, von Trübsinn war trotz dieses Grau-in-Grau keine Rede.

Kim setzte sich im Bett auf, und lies ihre Gedanken schweifen. Waren es wirklich nur Monate, gerade mal ein halbes Jahr? Ihr kam es vor wie ein ganzes Leben. Alles hatte sich verändert, sie hatte sich verändert. Nicht zum Besseren oder Schlechteren, einfach nur anders.

Vor nicht einmal einem Jahr lebte sie noch in Deutschland, war Single und glaubte, außer ihrem Ziehvater Mortimer Fraser keine Familie mehr zu haben. Sie nannte ihn ob seiner schottischen Herkunft liebevoll Scotty. Nachdem ihre Mutter und Großmutter bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren, hatte er sich ihrer angenommen und sie wie eine eigene Tochter großgezogen. So hatte sich einst ihr Leben im Alter von gerade einmal fünf Jahren erstmalig grundlegend verändert. Von nun an lebte sie mit Mortimer sowohl in Deutschland als auch in Schottland.
Ihren leiblichen Vater hatte sie für tot gehalten, denn so wurde es ihr von klein auf erzählt.
Doch nun wusste sie nicht nur, dass ihr Vater Dario Danutti noch lebte, nein, sie hatte plötzlich auch noch eine Halbschwester. Lita war mit ihren vierundzwanzig vier Jahre jünger als sie, und auch wenn die beiden sich erst vor kurzem gefunden hatten, so waren sie doch bereits ein Herz und eine Seele. Ganz wundervoll wurde das alles von einer Großmutter vervollständigt. Die Mutter ihres Vaters war 72 und einfach unglaublich. Sie entstammte einem sehr alten Zigeunerstamm, war bewandert in Kräuterheilkunde und auch die Magie war ihr nicht nur vertraut, nein für Vincenza gehörte sie zu ihr wie das Atmen. Ihr langes Haar war immer noch schwarz, nur von einigen grauen Strähnen durchzogen. Ihre dunklen, braunen Augen hatte sie an ihren Sohn und auch an Kim, ihre Enkelin, weitergegeben.

Vincenza hatte ein großes Herz, jedoch auch ein aufbrausendes Wesen. Dieses oft überbrodelnde Temperament war eins zu eins an ihre andere Enkeltochter Lita übergegangen.

Kim ließ sich wieder zurück in die Kissen sinken. Sie hatte nun tatsächlich eine Familie, einen Vater, eine Schwester, eine Großmutter.

Nein, sie wollte nicht undankbar sein, Nichts und Niemand würde jemals etwas an ihren Gefühlen zu Scotty ändern. Er war, ja, er war eben ihr Scotty. Ihr Vertrauter, ihre Stütze, ihr Lehrmeister, ihr Beschützer. Scotty war auch ihre Familie, und es war so unglaublich schön, dass alle sich auf so wunderbare Weise ergänzten und mochten.

Tja, und zu alldem hatte sie dann auch noch erfahren, dass sie eine Druidin vom alten Blut war. Eine ihrer Ahninnen, Altreia, stammte von einem Volk aus einer anderen Welt, den Drah Dunah. Zu ihrem Schutz wurde Kim schon vor ihrer Geburt mit einem Zauber belegt, so dass ihre außergewöhnlichen Fähigkeiten unbemerkt blieben.

Doch da war noch Cathbad, ein sehr alter Druide, beseelt von einer anderen Macht und geleitet von einem noch älteren, unglaublich bösen Wesen, Er bedrohte jetzt die Welt und es musste gehandelt werden. Der Schutz wurde von ihr genommen, und ihre Kräfte entfesselt. Mit Hilfe von Scotty, auch ein Druide, wie sie erfuhr, seinen Gefährten, und ihrer Familie, konnte diese Gefahr abgewendet werden.

Und dann waren da ja auch noch Art, Arthur Bramley, Inspektor einer Sondereinheit von Interpol, und sein Kollege und bester Freund Ian Finnegan. Ian hatte im Kampf gegen das Böse einen Blick auf seine außergewöhnlichen Fähigkeiten preisgegeben, war jedoch nicht bereit, sich in irgendeiner Weise dazu zu äußern.

Ja, und Art, Art war über sie hereingebrochen wie eine Naturgewalt. Sie hatten sich kurz vor diesen Ereignissen in London kennengelernt und sich ineinander verliebt.

Dass sowohl Art und Ian, sowie auch ihr Vater und ihre Schwester Lita für sie ihr Leben riskiert hatten, berührte sie auch jetzt noch zutiefst.

Das Aufeinanderprallen von Kim und Cathbad war schlimm, einem Gemetzel gleich, aber am Ende hatten sie gesiegt. Doch konnte man von einem Sieg sprechen, wenn tapfere Frauen und Männer in diesem Kampf ihr Leben gelassen hatten?

Nach all diesen anstrengenden, schönen, erschreckenden, intensiven und auch fürchterlichen Ereignissen, hatten sie sich alle auf dem Weingut ihres Vaters in der Toskana getroffen. Es war ein wunderbarer Ort, ein Ruhepol in einer hektischen und bedrohlichen Welt. Das große Steinhaus lag inmitten der Weinberge, und überall grünte und blühte es. Oleander in tiefem Rot, Bougainvillea in zartem Rosa, kräftigem Pink und Lila.

Kim erinnerte sich an einen Abend, an dem sie alle an dem wuchtigen Holztisch im Garten gesessen hatten. Um sie herum wuchs Sternjasmin, welcher an diesem außergewöhnlich warmen Abend noch intensiver seinen betörenden Duft verströmte. Die Stereoanlange schickte leise Jazzmelodien zu ihnen, und der schwere Rotwein, den ihr Vater sein Glanzstück nannte, rundete diesen für sie vollkommenen Moment ab. Sie aßen die köstliche Pasta ihrer Großmutter, reife, süße Tomaten, Oliven und würzigen Käse, mit selbstgebackenem Brot. Es wurde gelacht, erzählt, diskutiert, und über allem hing dieser Hauch von Leichtigkeit.

Kim hatte sich auf ihrem Stuhl zurückgelehnt, für einen Moment die Augen geschlossen und tief die samtweiche Luft eingeatmet. Dies war für sie ein Moment der absoluten Vollkommenheit, und Kim begrub diesen wunderbaren Augenblick tief in ihrer Seele.

Irgendwann, wenn ihr Mut sie verlassen würde, wenn die Welt um sie herum im Chaos zu versinken drohte, dann würde sie sich dieses Augenblicks erinnern. Er würde ihre Seele wärmen, und ihr Kraft spenden. Die Gewissheit, dass es solche Momente in ihrem Leben gab, solche Menschen, würde sie durch alle Zweifel, Gefahren und Unwägbarkeiten leiten.

Kim schwang die Beine aus dem Bett und wuschelte sich durch ihre nicht mehr ganz so kurzen, braunen Haare. Wie lange war es jetzt her, dass sie einen Friseursalon von innen gesehen hatte? Sie ging zum Spiegel, und sah sich seit einer gefühlten Ewigkeit bewusst an. Es war so viel auf sie eingestürmt, da war ihr Äußeres in den Hintergrund getreten. Kim hatte sich darüber nicht wirklich Gedanken gemacht, geschweige denn sich intensiv darum gekümmert. „Sträflich vernachlässigt hast du dich“ murmelte Kim ihrem Spiegelbild entgegen. Es war ein Wunder, das Art nicht schon das Weite gesucht hatte. Sie zog ihr Schlafshirt hoch, und inspizierte ihre Figur. Nein, daran gab es nichts zu bemäkeln. Das ständige Kampftraining mit Altreia und Ian hatte ihren Körper geformt und gestählt. Vielleicht etwas zu sehr, ein wenig mehr an Weichheit würde ihr nicht schaden, schließlich war sie nicht nur eine Druidin, und Kämpferin, sondern auch eine ganz normale Frau, mit ganz normalen Bedürfnissen.

Sie hatten Cathbad zur Hölle geschickt, und so könnte sie eigentlich ein bisschen kürzer treten. Doch tief in ihrem Innern wuchs dieses ungute Gefühl. So etwas wie die Ruhe vor dem Sturm. Alles lief im Moment so gut, zu gut. Ihrer Erfahrung nach konnte das nicht lange anhalten, meistens kam dann unerwartet der große Knall.

„Schwarzseherin“, schalt sie sich, und ging energisch Richtung Dusche.

Mittags würde sie sich mit Lita in Soho treffen, und als erstes würde sie ihre Schwester mit zum Frisör schleifen, um endlich wieder auszusehen wie ein Mensch.

Lita war vor ein paar Monaten nach London gezogen, und wohnte nun vorübergehend bei Paul, in Kims altem Zimmer.

Paul, ihr liebster Freund. Mit ihm verband Kim ein ganz besonderes Band, und dass, seit sie sich vor Jahren das erste Mal bei der Cathbin Corporation begegnet waren. Paul leitete, und leitet, die IT-Abteilung des riesigen Unternehmens, und Kim hatte dort als Übersetzerin gearbeitet. Sie hatten sich gesehen, waren sich sofort sympathisch und seitdem unzertrennlich.

Paul hatte damals ein Zimmer in seinem schicken Loft in Soho für sie eingerichtet. Von da an wohnte Kim, immer wenn sie einen Job in London hatte, bei Paul. Und da sie London schon immer geliebt hatte, nahm sie jeden Auftrag an, und das waren nicht wenige im Jahr, der sie in diese wunderbare Metropole führte.

Kim und Paul waren ein eingeschworenes Team, und schon mehr als einmal hatte sie es zutiefst bedauert, dass dieser geradezu unverschämt gut aussehende, und wahnsinnig tolle Kerl sich einfach nichts aus Frauen machte.

Sie war in den letzten Jahren, mit einer ungeheuren Zielstrebigkeit, immer an die absurdesten, und zum Teil charakterlosesten Typen geraten.

Doch nun gab es ja Art.

Kim war zu ihm gezogen, und Lita hatte sich vehement geweigert, auch dort einzuziehen.

„Ihr glaubt doch nicht im Ernst, dass ich mir tagtäglich dieses – ‚oh wir sind ja so verliebt, und leben das auch total und überall aus‘ - Ding antue“ war ihr einziger Kommentar, und sie hatte somit Pauls Einladung, bei ihm zu wohnen, dankend angenommen. Einen kleinen Stich hatte es Kim schon versetzt, das ihr allerliebster Freund sie so einfach ersetzt hatte.

„Schwachsinn, du wirst echt noch total bescheuert“, regte Kim sich über ihre unangemessenen Gedanken auf. Sie freute sich doch, dass Paul und Lita sich vom ersten Moment an ganz wunderbar verstanden hatten. Außerdem kam ihr und Art die Zeit zu zweit weiß Gott gelegen.

Zudem kam Lita fast täglich bei Ihnen vorbei. Die Distanz zwischen Soho, wo Pauls Wohnung lag, und Arts Stadthaus in Mayfair war nicht groß und leicht zu Fuß zu bewältigen. Art hatte seinen Dachboden für Lita entrümpelt, und ihr somit eine Möglichkeit geboten, ihrer großen Leidenschaft nachzugehen, dem Malen.

Art hatte mit Ians Hilfe aus dem ehemaligen Dachboden ein kleines Atelier gezaubert, womit er sich nicht nur Litas Dankbarkeit, sondern auch die Option auf gar köstliche Pasta Gerichte gesichert hatte, welche sie ihm nach alten Familienrezepten einmal die Woche aufzutischen versprochen hatte. Komischer Weise fanden sich meist auch Paul und Ian ganz zufällig an diesem Tag bei Ihnen ein, und so war der „Lita-kocht“-Abend immer ein großes Hallo.

Der einzige Makel an diesen Abenden war der Eiertanz, den Lita und Ian umeinander aufführten. Jeder, der nicht total verblödet war, konnte auf drei Meilen Entfernung riechen, wie es um die beiden stand. Doch ganz besonders Ian tat sein Bestes, um sich selbst vorzumachen, das Lita ihm nicht mehr bedeutete als eine gute Freundin.

Lange würde Lita diesen Mist ganz bestimmt nicht mehr mitmachen, zeigte sie Ian doch ganz offen, wie sehr sie an ihm interessiert war, und ganz bestimmt nicht als an einem brudermäßigen Freund.

Lita war eine sehr leidenschaftliche und temperamentvolle, junge und extrem schöne Frau. Wer wusste schon, wie lange es noch dauern würde, bis sie auf eines der zahlreichen Angebote eingehen würde, die sie mit konstanter Regelmäßigkeit von durchaus sehr attraktiven Herren bekam.

Aber irgendeine Veränderung war seit den Ereignissen in Schottland mit Ian einhergegangen. Nicht nur seine – „wir sind mal da, und dann wieder fort Tattoos“ - hatten selbst seinen langjährigen, und besten Freund Art verwirrt, und in Staunen versetzt. Nein, auch seine Art zu kämpfen.

Er war offensichtlich in mehr als nur einer Kampfsportart ausgebildet, und sein Umgang mit einem wirklich alten, ja eigentlich antiken Breitschwert hatte dann doch die eine oder andere Frage aufgeworfen.

Doch nach wie vor weigerte Ian sich, auch nur in irgendeiner Art und Weise darüber zu reden, und er konnte so verdammt stur sein.

Wenn Ian etwas nicht wollte, dann half alles Bitten und Flehen nichts. Sogar zu Schmeicheleien hatte Kim sich hinreißen lassen, ohne Erfolg. Dieser Mann war nicht verschlossen, nein Ian war undurchdringlich. Was auch immer ihn zu dieser Haltung trieb, für die Menschen, die ihn mochten und liebten, war es wahrlich eine Geduldsprobe, im Besonderen nach den Erlebnissen, die sie geteilt hatten.

Es war für Ian kein Problem gewesen, sein Leben für jeden von ihnen zu riskieren, aber etwas von sich preiszugeben, nein. Ein Ire, mit einem Dickschädel, schlimmer als ein Panzer.

Nun gut, Kim hatte sich vorerst damit abgefunden. Art jedoch traf es weitaus härter, das sein bester Freund und Partner in keinster Weise bereit war, sich ihm anzuvertrauen.

Im Job konnte Art immer auf ihn bauen, Ian würde ihn jederzeit mit seinem Leben schützen. Seine distanzierte Haltung diesen anderen Bereich betreffend machte Art jedoch sehr zu schaffen.

Hatte eine gewisse Offenheit nicht auch etwas mit Vertrauen zu tun? Und wenn dem so war, brachte Ian ihm dieses nicht genug entgegen? Und wenn nicht, und diese Frage quälte Art am meisten, warum nicht?

Das Erlebte der vergangenen Monate hatte offensichtlich bei ihnen allen tiefere Wunden geschlagen, als anfangs sichtbar waren.

Hier ging es nicht mehr darum, eine körperliche Verletzung zu heilen, jetzt meldete sich bei jedem von ihnen die Seele zu Wort. Bei dem einen war es nur ein Flüstern, bei dem anderen ein Schreien.

Sie hatten Cathbad besiegt, doch die Nachwehen vergifteten noch immer ihrer aller Gedanken. Ein Kampf endet nie auf dem Schlachtfeld, er begleitet die Involvierten weit über dieses Ende hinaus.

 

Der Körper verzeiht schneller als die Seele. Sie hat die unangenehme Eigenschaft, alles zu speichern und so lange von links nach rechts zu drehen, bis der Anblick aus jeder Perspektive passt.

Und so waren die Monate ins Land gezogen, für jeden von ihnen mit unterschiedlichen Begleiterscheinungen.

 

 

 

 

 

Kim war gerade dabei, Teewasser aufzusetzen, da läutete es an der Tür.

„Es ist offen“, rief sie, und nahm eine zweite Tasse aus dem Schrank. Kurz darauf erfüllte Litas unglaubliche Präsenz nicht nur die Küche, sondern auch ihr Herz. Einem Wirbelwind gleich rauschte diese herein und zog Kim in eine überschwängliche Umarmung.

„Und. Was steht an?“ Lita entließ Kim aus ihren Armen, und betrachtete sie prüfend.

„Was“, mehr fiel Kim zu diesem Blick nicht ein. Sie hatte sich dezent geschminkt, tolle Jeans an, trug sogar fast Highheels-ähnliche Schuhe und ein echt cooles Shirt. Was sollte also dieser Blick!

„Wie was? Habe ich irgendwas gesagt?“

„Als ob du das müsstest! Dein Blick schreit für sich selbst!“

„Sind wir im Moment ein bisschen empfindlich, und wenn ja, warum?“ Lita nahm sich die Tasse Tee, welche Kim ihr anbot, und setzte sich auf einen der Hocker an die Küchentheke. Kim nahm einen Schluck Tee und sah Lita an. Wie konnte man nur so unglaublich exotisch, sexy und gleichzeitig absolut natürlich aussehen.

„Musst du morgens eigentlich auch noch etwas anderes machen als deine Haare kurz zu schütteln, um so auszusehen?“ Automatisch fasste Kim sich in ihre Haare, und beschloss, dass der Friseurbesuch oberste Priorität hatte. Lita lachte und schüttelte ihre dunkle Lockenpracht.

„Deinen Haaren würde ein Schnitt echt nicht schaden, aber ansonsten ist bei dir doch alles super, in jeder Richtung.“ Lita stellte ihre Teetasse auf den Tresen, und als sie hochblickte, wirkten ihre rauchgrauen Augen traurig.

„Was ist los, Lita?“ Kim stellte ihre Tasse ab, und beugte sich zu Lita über den Tresen.

„Ach, eigentlich ist nichts, nicht wirklich“, seufzte Lita, und stellte ihrerseits die Tasse ab.

„Es ist furchtbar, das zu sagen, aber ich bin so neidisch auf dich und Art.“ Lita schluckte schwer, und atmete dann tief ein.

„Es ist so schön, euch zu erleben, so verliebt, so vertraut, wie eine Einheit. Ihr zwei verkörpert das, was ich mir immer gewünscht habe.“ Lita seufzte. „Ich habe wirklich gedacht, da wäre etwas zwischen Ian und mir, etwas Ähnliches. Doch er benimmt sich mir gegenüber so, so überaus korrekt“, Lita warf in einer Geste der Verzweiflung ihre Arme hoch. „Ich halte das echt nicht mehr aus, Kim. Ich dachte, etwas Besonderes, fast würde ich sagen Magisches sei vom ersten Moment an zwischen Ian und mir gewesen. Da war gleich so eine unglaubliche Anziehungskraft, aber er benimmt sich, als sei ich seine kleine Schwester, und das halte ich nun wirklich nicht aus. Ich wünschte mir, er würde mich packen, in eine dunkle Ecke zerren, und über mich herfallen.“

Kim verschluckte sich an ihrem Tee.

„Oh, mein Gott, jetzt tu nur nicht so schockiert. Vergiss nicht, dass du mir erzählt hast, wie das mit dir und Art an eurem ersten Abend abgelaufen ist. Von so was kann ich nur träumen, und träumen reicht mir langsam nicht mehr.“

„Gib ihm etwas Zeit, Lita. Ich glaube, Ian hat irgendwelche Schwierigkeiten in Irland.“

Lita rutschte von ihrem Hocker.

„So gut müsstest du mich doch langsam kennen, um bemerkt zu haben, dass Geduld nicht unbedingt zu meinen Tugenden gehört.“

Kim stellte die Tassen in die Spülmaschine, und seufzte.

„Ja, ich weiß, scheint eine Familienkrankheit zu sein. Doch wenn dir wirklich etwas an Ian liegt, musst du ihm die Zeit geben, die er braucht. Du musst eben lernen, Geduld zu haben.“

„Aber wer sagt mir denn, das Ian auch so denkt, dass er sich auch so nach mir sehnt, wie ich mich nach ihm?“ Lita seufzte, und machte dann eine wegwischende Handbewegung. Energisch packte sie ihre Handtasche, und schwang sie sich über die Schulter.

„Wie auch immer, genug von diesem depressiven Gequatsche, Männer machen immer nur Ärger, wer braucht die schon!“ Kim wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, da bedeutete Lita ihr mit einer Handbewegung, wie sie nach Kims Meinung nur Italienerinnen zustande bringen, zu schweigen.

„Kein Wort, nicht von dir. Du bist in deinem momentanen Zustand nicht zurechnungsfähig, auf jeden Fall nicht, was dieses Thema angeht. Nun beeil dich mal ein bisschen, ich habe vor, heute mit jedem passablen Mann zu flirten, der mir über den Weg läuft.“

Kim zog die Augenbrauen hoch, das konnte ja was werden.

„Wenn wir irgendwo zwischen deinen Frustflirts noch Zeit hätten, mir die Haare schneiden zu lassen, wäre ich dir sehr verbunden“, brummte Kim, und handelte sich damit einen leichten Boxhieb auf den Oberarm ein. In gespieltem Schmerz entschlüpfte Kim ein „Aua“, woraufhin Lita die Augen verdrehte.

„Tu nicht so, als ob das wehtäte. Seit deinem Training mit Altreia und Ian, und dem ganzen anderen Kram könnten nicht mal Arnold Schwarzenegger und einer der Klitschkos im Konglomerat dir Schmerzen zufügen.“ Lita hatte die Hände in die Hüften gestemmt, und wippte ungeduldig mit dem rechten Fuß. Kim grinste, griff ihrerseits nach einer Tasche, und drückte Lita einen Kuss auf die Wange.

„Ist ja schon gut. Wir lassen mich verschönern, und dann darfst du einem unwissenden, armen Tropf den Kopf verdrehen.“

Nun war es an Lita zu lachen, sie hakte sich bei Kim unter, und die Schwestern verließen das Haus.

 

 

Kapitel 2

 

Als Kim an diesem Abend fröhlich nach Hause kam, und zu ihrer großen Freude wieder mit kurzem Haar und sie sah echt gut aus, erwartete sie ein düster dreinblickender, nachdenklicher Arthur. Er saß in seinem geliebten, braunen, schon etwas abgewetzten Ledersessel, und starrte in einen nicht brennenden Kamin. In der Hand hielt Art ein Glas mit dem Single Malt Whisky, den Ian ihm zum letzten Geburtstag geschenkt hatte. Dieses gute und für ihn auch emotional hochwertige Tröpfchen wurde nur selten hervorgeholt.

Gedankenverloren schwenkte Art das Glas mit der goldenen Flüssigkeit, zu entrückt, um ihre Ankunft wahrzunehmen.

Einen Moment blieb Kim in der Tür stehen, betrachtete ihn, und stellte dann ihre Tasche und die Tüten ab. Sie zog ihre Lederjacke aus und warf sie auf den Boden.

Leise ging sie zu dem Sessel hinüber, und setzte sich auf die Armlehne. Art sah mit seinen unglaublich grünen Augen zu ihr auf, und seine Gesichtszüge wurden weich. Wie konnte ein Mann nur so unglaubliche Augen haben, ging es Kim durch den Kopf.

„Hallo Schönheit“, murmelte er und zog sie auf seinen Schoß. Art zog ihr Gesicht zu sich heran und küsste Kim ausgiebig. Sofort tobte die Leidenschaft in ihr, und sie hatte Schwierigkeiten, einen klaren Gedanken zu fassen. Art fuhr mit der Hand durch ihr Haar.

„Es ist wieder kurz, genauso, wie zu der Zeit, als wir uns kennengelernt haben.“ Wieder suchte er ihren Mund.

„Gefällt mir, du bist so sexy mit kurzem Haar“, murmelte er an ihren Lippen. Kim setzte sich auf, und sah ihn an.

„Es ist schön, dass dir das auffällt, aber irgendwas stimmt doch nicht. Es ist schon eine Weile her, dass ich dich in dieser Stimmung erlebt habe.“ Kim löste sich von Art, und stemmte sich aus dem Sessel. Sie nahm ihm das Glas aus der Hand und trank einen kleinen Schluck. Angenehm überrascht zog sie die Brauen hoch.

„OK, das ist der gute Tropfen von Ian, was ist los?“ Sie gab ihm das Glas zurück, und setzte sich auf die gemütliche Couch. Art nahm einen Schluck, atmete tief ein und lehnte sich vor.

„Wir haben heute einen wirklich beunruhigenden Fall auf den Tisch bekommen. In den letzten drei Wochen wurden drei Leichen gefunden“, Art trank erneut einen großen Schluck.

„Das ist schlimm, aber doch in deinem Job leider nicht unbedingt ungewöhnlich.“ Kim stand auf und schenkte sich einen Gin Tonic ein.

„Das beunruhigende an dieser Sache ist nicht der Tod an sich, es ist die Todesursache. Diese Toten hatten Pestsymptome.“

Kim fuhr zu Art herum. Sie brauchte einen Moment um das Gehörte zu begreifen.

„Was meinst du mit Pestsymptome, ist die Pest nicht schon seit ewiger Zeit erfolgreich bekämpft worden? Und überhaupt, ist das nicht eher ein Fall für den medizinischen Sektor?“ Art stand auf und ging zum Fenster.

„Ja, und ja. Drei Tote in drei Wochen, alle mit den gleichen Symptomen, die eindeutig der Pest zuzuordnen sind, und das in der heutigen Zeit?“ Art ging zur Bar, und schenkte sich noch zwei fingerbreit Whisky nach.

„Haben diese Menschen sich denn nicht schlecht gefühlt, sind sie nicht zu einem Arzt gegangen?“

Art drehte das Glas in seinen Händen, dann sah er Kim an. „Und weil das Fragen sind, die noch mehr Fragen aufwerfen, und die Umstände dieser Sache äußerst mysteriös anmuten, ist dieser Scheiß auf meinem Tisch gelandet.“ Art nahm einen großen Schluck, und ließ sich wieder in seinen Sessel sinken.

Plötzlich überlief Kim ein Schauer. Ihre Nackenhaare stellten sich auf, und eine eisige Hand schien sich um ihr Herz zu legen. Kim wurde aschfahl und schwankte. Art stellte sein Glas ab, sprang besorgt auf und nahm sie in die Arme.

„Was ist los, Kim? Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.“ Kim lehnte sich kurz an ihn.

„Oh nein, sag jetzt bitte nicht, du hast tatsächlich wieder irgendetwas erspäht, wahrgenommen, wie auch immer.“ Schweißtropfen bildeten sich auf Arts Stirn, und als Kim ihn ansah, musste sie ob seiner entsetzten Miene lächeln. Sie trat einen Schritt zurück und rieb sich die Arme.

„Nun mach dir nicht gleich ins Hemd, du großer Inspektor, mir war nur kurz etwas schummerig. Lita hat mich heute durch so viele Läden geschleift, da ist das ja kein Wunder.“ Kim ging Richtung Küche, um Teewasser aufzusetzen. Abrupt blieb sie stehen, drehte sich um und sah Art an. Theatralisch presste sie ihre Hände auf ihren Bauch.

„Vielleicht bin ich ja schwanger!“

Arts Augen schienen aus dem Kopf zu treten, und er sah aus, als hätte er einen gehörigen Schlag in den Magen bekommen. Wie ein begossener Pudel stand er da, und starrte sie an. Kim konnte nicht mehr an sich halten, und prustet los. „Nun mach dir mal nicht ins Hemd“, presste sie unter Lachen hervor.

„Das war doch nur ein Witz!“ Sie setzte ihren Weg in die Küche fort. Art stand immer noch wie vom Donner gerührt auf der Stelle. Erstaunt stellte er nun fest, dass sich so etwas wie Enttäuschung in ihm breit machte. Kim lies derweil Wasser in den Kessel laufen, und legte Teebeutel in eine Teekanne. Dann nahm sie zwei Tassen aus dem Schrank.

Art stellte sich an den Küchentresen, und sah Kim an.

„Was, wenn es so wäre“, sagte er, und beobachtete sie genau. Kim drehte sich langsam zu ihm um. Entgeistert schaute sie zu ihm rüber.

„He, es war ein Scherz, nichts weiter.“

„Ja, das habe ich schon verstanden, aber…“, energisch schnitt Kim ihm mit einer Handbewegung das Wort ab.

„Das kann nicht dein Ernst sein, nicht wirklich!“ Kims Stimme hatte sich um zwei Oktaven erhöht.

„Bei all dem, was im letzten Jahr los war, und ich möchte betonen, dass diese Geschichte immer noch nicht ausgestanden ist, und nachdem du mir eben von einem Pestrevival erzählt hast, kann das unmöglich dein Ernst sein!“ Entsetzt starrte Kim Art an, und fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare.

„Ja, du hast ja Recht, es, hat mich selbst überrascht.“

„Was hat dich überrascht?“

„Na, wie gut mir der Gedanke gefallen hat, dass du und ich ein Kind zusammen haben würden, dass ich Vater würde. Das wir eine Familie sind, so was eben.“ In einer hilflosen Geste hob Art die Hände, und steckte sie dann in der ihm so eigenen Art und Weise in die Taschen seiner grauen Jeans. Eigentlich war es ja niedlich, und auch sehr schmeichelhaft, dass Art bei dem Gedanken einer möglichen Schwangerschaft nicht davonraste, als seien die Höllenhunde persönlich hinter ihm her, sinnierte Kim. Doch falscher Zeitpunkt, falsche Situation, alles falsch. Da konnte man mal sehen, was eine Gedankenlosigkeit so alles auslösen konnte.

„Jetzt ist ganz bestimmt nicht der richtige Moment, um über derlei Dinge nachzudenken. Ich werde nie wieder einen solchen Scherz machen, komm wieder runter. Wir müssen noch etwas anderes besprechen.“ Kim goss das mittlerweile kochende Wasser auf die Teebeutel, und stellte Milch und Zucker auf den Tresen.

„Was ist mit Ian los“, ging sie nahtlos in die Frage über. Etwas verwirrt, und gedanklich immer noch an dem anderen Thema haftend, dauerte es einen Moment, bis das Gesagte sich einen Weg durch seine im Moment doch sehr konfusen Gedanken gebahnt hatte.

Was war mit Ian los?

Tja, dachte Art, wenn er das wüsste, dann wäre eines der zahlreichen Geheimnisse dieses Universums gelüftet. Diese Frage beschäftigte auch ihn seit geraumer Zeit, war jedoch ob der neuen Entwicklungen mehr und mehr in den Hintergrund getreten. Mittlerweile hatte Kim den Tee eingegossen und schob Art seine Tasse entgegen.

„Hallo, bist du noch anwesend, ich habe dir eine Frage gestellt!“ Etwas entnervt trank Kim zu hastig und verbrannte sich prompt den Mund.

„Scheiße“, fluchte sie, und stellte ihre Tasse unsanft ab. Wie aus einer Trance erwacht, sah Art sie nun an.

„Hattest du zu viel Whiskey, oder macht es dir einfach nur Spaß, mich auf die Palme zu bringen?“ Ungehalten tippte Kim mit einem Fuß auf die Erde, da seine Antwort ihrer Meinung nach zu lange auf sich warten ließ.

„Süße, es ist mir immer ein Fest, dein Blut in Wallung zu bringen, doch in diesem Fall bin ich…, ich weiß auch nicht, einfach überfragt.“ Art setzte sich an den Tresen, und schob seine Teetasse zur Seite. Ihm war nicht nach Tee, ihm war nach Vergessen, nach Normalität, nach Ruhe. Doch all dies war seine Normalität, und das nicht erst, seit Kim in sein Leben getreten war. Nicht umsonst war er Inspektor der Extraordinary Cases Unit, der ECU, er hatte es immer mit so genannten „außergewöhnlichen Fällen“ zu tun.

Doch diese Sache mit Ian ging in einen so persönlichen Bereich, da war er einfach nur ratlos. Was hatte Art nicht alles versucht, um Ian zum Reden zu bringen. Die unzähligen Pub Besuche, mit noch mehr Drinks, hatten Ian nicht nur nichts, sondern gar nichts Aufschlussreiches entlocken können. Sie waren die besten Freunde, und jeder würde für den anderen ohne weiteres sein Leben riskieren, doch was diese eine Seite in Ians Leben betraf: Nichts! Wenn auch nur im Ansatz dieses Thema gestreift wurde, gab Ian sich verschlossener als eine Auster.

Ians Seele litt, Art konnte sie förmlich schreien hören, aber aus ihm unerfindlichen Gründen war Ian nicht bereit, oder nicht fähig, irgendetwas von seiner Misere preiszugeben. Art wusste, dass das, was immer es auch war, für Ian furchtbar sein musste.

Ian, der Fels in der Brandung, der loyalste und taffste Mensch, dem er jemals begegnet war. Ein Mann, der sich durch nichts so leicht erschüttern ließ. Was konnte so schmerzhaft sein, so verstörend, dass es einen Mann wie Ian Finnegan derart aus der Bahn zu werfen vermochte. Doch am meisten schmerzte es ihn, dass Ian sich ihm nicht anvertraute. Wenn nicht ihm, wem dann? Waren sie nicht mehr als beste Freunde, ja waren sie nicht eher wie Brüder?

Ian bedeutete Art weit mehr als seine leibliche Familie. Mit seinen Eltern und seiner Schwester hatte er so gar nichts gemein, oft waren sie ihm auf eine merkwürdige Art fremd. Er teilte weder deren Werte noch ihre Moralvorstellungen. Diese in Arts Augen merkwürdigen Konstrukte, welche mit ihrer Gesellschaftsschicht einhergingen, sehr reich und zudem noch alter Adel, konnte und wollte er nicht bedienen. Natürlich hatte sein Name ihm einige Türen geöffnet, doch durchgegangen war Art allein. Er hatte sich bewusst gegen das Familienunternehmen entschieden, was ihm mehr als nur eine unangenehme Diskussion mit seinem Vater und viele Tränen seitens seiner Mutter eingebracht hatte. Doch auch als sein Vater ihm damals den Geldhahn zugedreht hatte, änderte dies rein gar nichts an seiner Entscheidung oder Einstellung.

Art hatte sich in eine WG eingemietet, nebenbei alle möglichen Arbeiten verrichtet, und seine Ausbildung mit Bravour abgeschlossen, trotz etlicher durchzechter Nächte.

Irgendwann hatte sein Vater soweit Einsicht gezeigt, dass er gute Miene zum bösen Spiel machte. Nachdem auch Art eingesehen hatte, dass er einige Schritte auf seine Eltern zu machen konnte, ohne seine Prinzipien zu verraten, herrschte eine gewisse Form von Harmonie zwischen ihnen. Ab und zu versuchte seine Mutter, sich als Kupplerin zwischen Art und der ein oder anderen meist sehr attraktiven Dame aus Adelskreisen. Doch nicht eine dieser von seinen Eltern so geschätzten Frauen hatte auch nur annähernd solch eine Wirkung auf ihn gehabt wie seine Kim. Gott stehe ihm bei, denn die erste Begegnung zwischen ihr und seinen Eltern stand noch aus, und irgendwie hatte er das untrügliche Gefühl, dass dieses Zusammentreffen alles bisher Dagewesene in den Schatten stellen würde.

Aber eins nach dem anderen, und seine Gedanken kehrten wieder zu Ian zurück. Was konnte so schlimm sein, das Ian ihn derart ausschloss? Was quälte ihn so sehr?

„Ich würde sonst was dafür geben, wenn ich wüsste, was mit Ian los ist, aber er hält mich da genauso im Dunkeln wie dich.“ Art stand wieder auf, und begann ruhelos umherzugehen.

„Er wird Lita verlieren, wenn dieser Dickkopf so weitermacht“, stellte Kim resigniert fest.

„Was meinst du denn mit verlieren? Hat Ian sie denn schon gehabt, und wenn ja, warum habe ich das verpasst?“

 

Art hielt in seiner Wanderung inne und schaute Kim verständnislos an.

„Oh, bitte, das ist wieder so typisch Mann. Hast du denn nicht mitbekommen, das zwischen Ian und Lita etwas ganz Besonderes, etwas Heißes vor sich geht?“ Wieder einmal konnte Art Kim nur verständnislos anstarren. Doch Kim ging einfach darüber hinweg. „Aber selbst der geduldigste Mensch fängt irgendwann an zu resignieren, wenn seine Bemühungen nicht auf fruchtbaren Boden fallen. Und ich befürchte, das Lita kurz davor ist, die Flinte ins Korn zu schmeißen.“

Langsam begann er zu begreifen, dass sein Job und alles was damit zusammenhing, nur eine Art Vorbereitung gewesen war für die Dinge, welche sich gerade ereignet hatten. Und anscheinend ganz besonders auf jene, die noch folgten.

Doch Art konnte es nicht einordnen, wusste nicht, wo noch eine Nische frei war für derlei Dinge. Irgendwie hing alles zusammen, er konnte es förmlich riechen, doch der Zusammenhang an sich blieb ihm weiterhin verborgen.

„Sag mir, was ich tun soll, und ich werde es machen“, Art schloss die Augen, lehnte sich zurück, und atmete tief ein und aus.

„Wir werden das schon hinkriegen“, sagte Kim zu Art gewandt. Art sah sie an, und er konnte immer noch nicht fassen, dass diese außergewöhnliche Frau ein Teil seines Lebens war. Es gab nichts, über das er mit ihr nicht reden konnte, nichts. Natürlich würden sie einen Weg finden, für alles.

„Taten sagen mehr als Worte“, entgegnete Kim, erhob sich, und streckte ihm ihre Hand entgegen. Art ergriff diese und ohne ein weiteres Wort stiegen sie die Treppe hinauf, Richtung Schlafzimmer. Dort würde es für einige unglaubliche Momente nur sie beide geben. Sie beide, und ihre Liebe, ihre unglaubliche Leidenschaft, und den kurzen Moment der Vollkommenheit.

Tief in ihrem Innern spürten sowohl Kim als auch Art die anstehende Gefahr. Aufgewühlt, wie sie waren, schlug die Leidenschaft ihre Klauen nur umso tiefer in ihrer beider Seelen.

„Ich kann heute nicht zärtlich, einfühlsam, oder sonst was sein“, knurrte Art an Kims Hals.

Während sie sich die Kleider sprichwörtlich vom Leib rissen, stolperten Kim und Art ins Schlafzimmer, um dort alles zu vergessen, und nur sich selbst zu gehören.

Wie kurz doch so ein Jetzt sein konnte, beide ahnten es, doch in ihrer beider Ekstase verlor sich jeglicher Gedanke an derlei Dinge.