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»Immerhin hat man jeden Tag einen neuen Wurf frei«. Irgendwann, irgendwo hatte sie das gelesen. Evelyn Fischer, geschieden, Single, vierzig Jahre jung (Schrägstrich alt), sagte sich das jeden Morgen. Beschwörend wie ein Mantra. Es war ein tapferer, täglicher Anlauf, unterlegt von Verzweiflung. »Immerhin«. Immerhin bestand die Chance, doch noch einen Mann zu finden.

Sie schlug die gestrige, noch nicht gelesene Zeitung auf, die komischerweise, obwohl sie morgens erschien, noch immer Hamburger Abendblatt hieß. Als sie das Foto sah, stutzte sie und rückte ihre Lesebrille zurecht. Dieses vierstöckige, ockerfarbene Jugendstilhaus war ganz in ihrer Nähe, ja sogar in ihrer Straße. Tatsächlich – Isestraße stand in der Bildunterschrift. Erst jetzt glitt ihr Blick zu der Schlagzeile: »EINSAM, VERGESSEN: TOD IN EPPENDORF«. Sie fühlte, wie ihr trotz Juniwärme ein Frösteln über die Haut kroch. Wieder so ein Fall.

»Die Leiche einer 63-jährigen pensionierten Buchhalterin lag länger als ein halbes Jahr in einer Wohnung in der zweiten Etage ... Unbemerkt. Obwohl der Briefkasten überquoll und es süßlich-beißend roch ... bereits skelettiert ... auf dem Boden eine Zeitung vom 19. Dezember ...« Wodurch wurde sie überhaupt gefunden? »In der darüber liegenden Wohnung gab es einen Wasserschaden. Die Polizei brach die Tür auf ...« Die Todesursache? »Sicher ist: Mord war es nicht«. Und die Familie? »Angehörige gibt es nicht ... seit 23 Jahren lebte sie dort allein ... von niemandem vermisst ...«

Evelyn ließ die Zeitung sinken. Damals war die Frau also vierzig gewesen. So alt wie sie jetzt. Nein, so wollte, so durfte sie nicht enden. Verenden, müsste man treffender sagen. Evelyn schenkte sich einen Trebbiano ein. Immer trank man dasselbe Zeug, und das sogar täglich. Vielleicht war sie ja schon, ohne es zu merken, Alkoholikerin. Dreiundsechzig Jahre war diese Rentnerin geworden. Zum Sterben eigentlich zu jung, zum Leben oder gar Lieben aber vielleicht zu alt. Mit über sechzig sollte man männermäßig unter Dach und Fach sein. Wenn man dann erst mit der Suche anfing, war es zu spät. In dem Alter sind die passenden Männer vergeben oder verstorben.

Warum rief Helena nicht an? Erst sechs. Klar, da schwitzte die Freundin noch unter Volldampf im Kellinghusen-Bad. Selbst schuld, dass sie sich nie anschloss. Was hatte Helena neulich gesagt? »Was meinst du, was da an Endorphinen ausgeschüttet wird! Hättest gerade du dringend nötig.«

Stimmt. Sonntage waren generell traurig, die Stille, besonders im Sommer, hatte etwas Erdrückendes, man hörte plötzlich das eigene Herz schlagen. »Trauriger Sonntag«, da gab es doch so ein Lied, von einem Ungarn. Ungarn hatte eine der höchsten Selbstmordraten in Europa. Ja, die verstanden etwas von Schwermut.

Evelyn griff nach einer Zeitschrift. »Gönnen Sie sich ein Verwöhnbad mit duftenden Ölen aus Rosen und Jasmin«, stand dort geschrieben. Gute Idee, ab in die Wanne, das war noch immer das sicherste Rezept gegen den Sonntagsblues. Eine Ladung Lavendel würde es auch tun. Noch war sie keine sechzig. Der Selbstmord musste warten.

Sie drehte den Hahn auf und tauchte langsam in das zu heiße Wasser ein. Konnte man mit vierzig einen Herzinfarkt bekommen und schlagartig bewusstlos werden? Dann würde sie in der Wanne ertrinken und könnte nichts dagegen tun ... In der Zeitung hatte mal gestanden, dass eine Achtundzwanzigjährige bei einem Schäferstündchen an Herzversagen gestorben war. Die jungen Dinger können gar nichts mehr ab, dachte Evelyn. Aber so ein Schäferstündchen ... könnte sie jetzt auch gebrauchen. Nein, mehr. Einen Ehemann. Oder besser: einen Lebensgefährten. Das klang schön. Lebensgefährte ... ein Mann, der mit ihr gemeinsam auf Lebensfahrt ging.

Evelyn nahm den Handspiegel vom Bord. Ganz passabel sah sie aus, fand sie, ziemlich attraktiv sogar. Feine blonde Haare, intensive blaue Augen. »Deine Augen leuchten wie Edelsteine.« Männerworte. War schon etwas her.

Sie drehte den Doppelspiegel um und sah ihr Gesicht in Vergrößerung. Dieser Faltenkranz um den Mund! Wann war der entstanden, warum hatte sie nichts bemerkt? Jetzt hatte Dampf das Glas beschlagen. Das ist auch besser so, dachte Evelyn und legte den Spiegel zurück.

Allein, sie war allein. Bald vielleicht sogar einsam. Trotzdem war es richtig gewesen, dass sie nicht länger gewartet hatte, und dass sie es gewesen war, die vor zehn Jahren die Scheidung eingereicht hatte. Dieses ständige Gerede von »Freiheit«. Nun hatte er sie, die Freiheit. Für Frauenwechsel und Selbstverwirklichung. Das volle Programm: künstlerische Fotografie – sogar Ausstellungen! –, Abenteuerurlaub bei den Aborigines, heilkräftige Sitzungen bei dem Mineralien-Guru. Wie lange sein Esoterik-Trip wohl noch anhielt? Egal. Der soll sich nicht noch einmal bei mir blicken lassen, dachte Evelyn und hüllte sich bis zu den Fingerspitzen in ihren fliederfarbenen Frotteemantel. Erneut las sie den Artikel. Darüber stand: »Wir kommen allein auf die Welt, wir leben allein, wir sterben allein. Orson Welles«. Sie schnitt den Artikel aus und legte ihn zu den anderen Einsamkeitsfällen in einen Schuhkarton. Als könne sie damit irgendetwas bannen, als wirke dies wie ein Talisman gegen ein ähnlich tristes Schicksal. Ich werde mir sofort einen Mann besorgen, dachte sie. Nein, nicht übers Internet. Das war doch nur eine einzige große Sexfalle. Über eine Heiratsanzeige in der Zeitung – ganz konventionell. Keine Discobesuche mehr im »Mandalay«, keine Zeitvergeudung mehr auf den Alsterwiesen oder im Spielkasino. Morgen würde sie die Anzeige formulieren. Zusammen mit Helena. Allein machte so etwas keinen Spaß.

 

Helena Blomberg wohnte schräg gegenüber von Evelyn. Hier, in der Isestraße nicht weit vom Eppendorfer Baum, hatte der Krieg die Jugendstilhäuser verschont. Die vierstöckigen Gebäude unterschieden sich nur dadurch, wie perfekt oder weniger perfekt sie renoviert waren. Helenas Haus gehörte zu den perfekten und leuchtete in mattem Weiß. Eigentlich war die Vier-Zimmer-Wohnung für einen Single zu groß, gestand sie sich ein. Dennoch: Diesen Luxus würde sie sich nicht nehmen lassen. Trotz allem nicht.

Es war Montag. Später Morgen. Helena saß in ihrer Designer-Küche, einer Kreation in Weiß und Blau, und stärkte sich mit Müsli, Grapefruitsaft und Kräutertee. Sie dachte, was sie an jedem ihrer arbeitsfreien Montage dachte: Gäbe es doch keinen Dienstag. Dienstag ging die Wochenfron wieder los. Mit schwierigen Kunden, für die sie stundenlang coole italienische Küchen plante und die dann mit dem Entwurf in der Hand zur Discounter-Konkurrenz überliefen. Mit Ehemännern, die sie zwar schnell zur Unterschrift manövrierte, deren zickige Frauen aber im letzten Moment »noch einmal alles überschlafen« wollten.

Helena seufzte laut auf und griff zu einem Körbchen. Vitamine, Mineralien, Pillen fürs Haar und für die Haut – sie warf sich grüne, rote, gelbe und weiße Kapseln ein. Bloß gesund bleiben. Sonst ging ihr auch dieser Job noch flöten.

Sie zog die schwarzen Leggings und den schwarzen Pulli aus, zwängte sich in einen mikrokurzen Rock, der ihren Bauch eher hervorhob als wegdrückte, und fischte ein getigertes T- Shirt aus dem Schrank. Während sie sich vor dem Spiegel drehte und an ihren schulterlangen Locken zupfte – zur Zeit ein Schwarz mit Kupferglanz – klingelte es zweimal.

Helena sah durch den Spion. In den letzten Monaten hatte es in Eppendorf wieder etliche Mordfälle gegeben, sie erinnerte sich zwar nur vage, wollte es auch gar nicht so genau wissen, das heißt, da war doch gerade diese alte Frau gestorben, direkt ein paar Häuser weiter, oder war das ein natürlicher Tod gewesen? Helena schüttelte sich. »Natürlich«! Tod ist immer grausam. Jedenfalls war neulich in der Zeitung Eppendorf in der Mordgrafik zwar nicht blutrot, aber immerhin schon hellrot markiert.

»Hey, Darling!« Helena war erleichtert, ihre Freundin zu sehen und bedeckte Evelyn mit Küsschen. »Möchtest du noch Frühstück haben?«

Sie stakste von der chromblinkenden Diele, der nur eine Bronzestatuette von Valvassori einen Hauch Wärme gab, zur Küche.

»Nein, danke. Am besten, wir legen gleich los.« Evelyn ließ sich im Wohnraum in einen der lagunenblauen Sessel fallen.

»Ich hol uns nur noch den Kräutertee. Du weißt, keine Schönheit ohne zwei Liter Flüssigkeit am Tag.«

Evelyn sollte etwas mehr für sich tun, dachte Helena. Augenringe wie Krater, nie Nagellack, ewig diese platten Schuhe – der jetzige optische Status würde auf die paar Kandidaten, die sich auf die Heiratsanzeige melden würden, nicht gerade attraktiv wirken.

»Was schreibe ich? Erst, wer ich bin und dann, wen ich suche? Oder umgekehrt?« Evelyns selbstverordneter Schwung war bereits in Missmut umgeschlagen.

»Du fängst natürlich mit dir selbst an. Hast ja etwas zu bieten. Wie wäre es damit: ›Attraktive langbeinige Blondine in den Dreißigern, Pressereferentin, in Klammern Museum, sucht – ‹«

»Bist du noch zu retten? Soll ich meine zweite Ehe gleich mit einer Lüge beginnen?«

»Ist ja gut, Darling. Dann mach du mal einen Versuch.«

»Etwa so: ›Ansehnliche Pressereferentin – ‹«

»Nein! Viel zu betulich. Da kriegst du keine einzige Zuschrift.«

»Dann eben: ›Attraktive Pressereferentin in Klammern Museum, schlank, Ende dreißig, sucht ...‹«

»› ... intellektuellen, humorvollen und sportlichen sexy Mann in guter Position‹. Na, wie klingt das?«

»Bescheuert. Ich will keinen Bettgespielen, sondern einen Mann zum Heiraten. Verstehst du: einfach nur einen warmherzigen Gefährten. Einen treuen Hucken, wenn du so willst. Aber das kannst du wohl nicht nachvollziehen.«

»Stimmt.« Helena schob ihren gut gefüllten Ausschnitt noch weiter südwärts. »Du glaubst ja nicht, wie froh ich bin, dass ich meine beiden Geschiedenen los bin. Nein, meine Seele verkauf ich nicht mehr. Mal so einen knackigen Typen für den kleinen Hunger zwischendurch, das ist ideal, besser kann’s mir gar nicht gehen.«

Evelyn rührte im Kräutertee. »Ich weiß, ich hab dich das schon mal gefragt: Warum hast du eigentlich keine Kinder?«

Helena blätterte weiter in einem Modeprospekt. »Hat sich nicht ergeben.«

»Und wer betreut dich dann im Alter?«

Helena hob ihre kajalumrandeten Augen und grinste provozierend. »Ich brauch nur Elfis Erbe.«

Elfriede von Schwarzenegg war zweiundachtzig Jahre alt. Helena nannte sie unverblümt »die Erbfreundin«.