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Rumi gilt heute neben Hafis als einer der bedeutendsten persischen Poeten und Sufi-Mystiker des Mittelalters.
Er pries die Liebe und religiöse Toleranz, übertrat alle orthodoxen islamischen Verbote, predigte Wein, Leidenschaft und Gesang, begrüßte Sinnesfreuden und reformierte damit seine Religiösität. Er hielt philosophische Vortragsreihen, entwickelte die griechische Philosophie weiter und wurde Jahrhunderte später z.B. von Hegel bewundert. Der Kern seiner Dichtung basiert auf religiösen Inhalten, Anekdoten, Lebensweisheiten oder der Geschichte der Propheten des Alten Testaments und den Aussagen des Korans.
Seine sprachlich ausgefeilten Verse sind durch ihre Metaphorik, Rhythmik und Musikalität unverwechselbar und einprägsam.

MAULANA DSCHELALUDDIN RUMI, (1207-1273) geb. im heutigen Afghanistan, war einer der bedeutendsten persischen Dichter und Sufi-Mystiker des Mittelalters. Er studierte an der Uni Medresa von Konya islamische Wissenschaften und erhielt dort einen Lehrstuhl. Rumi, gest. 1273 in der heutigen Türkei, ist in Konya, der religiösen Hauptstadt der Türkei, im Mevlevi-Mausoleum begraben.

ULRICH HOLBEIN,
geb. 1953 in Erfurt, wohnt in Hessen, als Autor von etwa 999 Publikationen in FAZ, FR, SZ, ZEIT und Beiträgen beim WDR, SWF u.v.a. und 33 Büchern, darunter ein Lexikon heiliger Narren, mit vielen Querbezügen zu persisch-arabischen Mystikern.
Ulrich Holbein wurde 2012 mit dem Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor ausgezeichnet. Im marixverlag sind von ihm bereits erschienen: Dies Meer hat keine Ufer - Klassische Sufi-Mystik, Heilige Narren - 22 Lebensbilder, Heilige Närrinnen - 22+4 Lebensbilder und Unheilige Narren - 22 Lebensbilder.

»Gewöhn dich nach und nach ans Tageslicht; sonst bleibst du eine Fledermaus

Rumi: Mathnawi, 4, 2184

Zum Buch

Maulana Dschelaluddin Rumi, Sufi-Mystiker, ekstatischer Dichter des islamischen Mittelalters, Drehwirbeltänzer, vielfach als größter pantheistischer Poet des Planeten bezeichnet, hinterließ ein riesiges, bodenloses Werk aus 60.000 inspirierten Versen. Der bisher in deutschsprachigen Auswahlausgaben betonte Rumi zeigt ihn eher als frommen, liebestrunkenen Gottesmann; hier werden nun Seiten an ihm hervorgehoben, die seine Übersetzer bisher weniger betonten: bizarrer Humor, philosophischer Tiefgang, unorthodoxe, indisch anmutende Gedankengänge, unverhoffte Freizügigkeit, mittelalterliche Deftigkeit und Archaik. Rumis weltumspannendes Vers-Epos Mathnawi bietet eine Fundgrube seltsamer Geschichten.

Rumi

Sei Sonne, sonst bleibst Du Fledermaus

Rumi

Sei Sonne, sonst
bleibst Du
Fledermaus

Ausgewählte Texte

Herausgegeben und eingeleitet
von Ulrich Holbein

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Alle Rechte vorbehalten

Copyright © by marixverlag GmbH, Wiesbaden 2013
Der Text basiert auf der Ausgabe marixverlag, Wiesbaden 2013
Lektorat: Dr. Bruno Kern, Mainz
Covergestaltung: Nicole Ehlers, marixverlag GmbH
Bildnachweis: Ein Derwisch neben Löwe und Tiger,
Indische Malerei um 1650; 123rf, Nidderau,
Arabischer Rahmen, Grafik von Gjermund Alsos
eBook-Bearbeitung: Bookwire GmbH, Frankfurt am Main

ISBN: 978-3-8438-0389-2

www.marixverlag.de

Inhalt

I. EINLEITUNG VON ULRICH HOLBEIN

Hier ist im Stroh ein Meer versteckt

Die Lebensgeschichte Maulana Dschelaleddin Rumis (1207–1273)

Im Ozean der Parabelströme

Was steht im Mathnawi?

Die Seele des Gläubigen ist ein Stachelschwein

Rumi, Fariduddin ’Attar und Omar Khajjam

Übersteige dich, bis dir die Sterne untertan sind!

Die Lebensgeschichte von Rumis Seelenfreund Schamsuddin von Täbriz (1204–1248)

Wenn alle meine Teilchen Wollust mit Gott treiben

Die Lebensgeschichte von Rumis Vater Baha’uddin Walad (1150–1231)

The Greatest Pantheistic Poet of Mankind

Rumis Nachleben und Wirkungsgeschichte durch achthundert Jahre

Postume Aufklärung einer Straftat

Schamsuddins Nachleben und Wirkungsgeschichte durch achthundert Jahre

Erotische Atomistik

Baha’uddin Walads Nachleben und Wirkungsgeschichte durch achthundert Jahre

Mein Esel trägt ein Ringlein hold

Mutationen eines Klassikers: Wie unterschiedlich man den Dichterkönig Rumi eindeutschen kann

II. AUSGEWÄHLTE TEXTE

Laß dein Streben dir gefallen und mich strebend weiterwallen!

Der poetisch versifizierte und gereimte Rumi

Der Glanz des Spiegels blitzt durch den Filz hindurch

Eposdichter Rumi, ungeschönt, wörtlich, komplett

Fliege nicht ohne Flügel!

Rumi-Appelle

Hundert Flügel und hundert Zungen

Rumis orientalische Übertreibungen

Dem Maler und dem Pinsel gegenüber ist das Bild hilflos

Rumi als Metaphernschmied und Parabelschöpfer

Auf der Stute des Strebens zum Ozean der Gnade

Genitivmetaphern von Rumi

Wie könnte der Garten lachen, wenn die Wolke nicht weint?

Geflügelte Kernsprüche von Rumi

Der Mensch ist ein Stück Fleisch

Definitionen von Rumi

Wenn du das Wörtlein »wenn« verwendest

Rumi weiß, wo es langgeht

Alle Kriege sind hirnlos

Weiche Weisheit für Hardliner, Dogmatiker und Taliban

Das Universum bettelt uns um Wissen an

Rumi als Kosmologe und Welterklärer

Sonne, Mond und Sterne im Fieber

Sonnenanbetung, Lunatismus und Astralzauber mitten im Islam

Ich zittere, denn Zittern gefällt Gott

Rumi über Tränen, Schmerz und Leid

Wer geringer als diese Lampe ist

Licht und Blindheit und Erleuchtung

Wenn jemand von Kiste zu Kiste geht

Rumi über die Enge der Welt – und unbegrenzte Nichtexistenz

Wer ein Herz hat, versteht die Klage des Baumstumpfs

Schamane Rumi über das angeblich Unbelebte

Keine Rose ohne Dornen, aber viele Dornen ohne Rosen

Rumi und die Pflanzenwelt

Teilchen auf Gottes Waage

Von Atomen und Ameisen

Du Esel, vergiß nicht, daß du ein Hase bist!

Rumis symbolträchtige Menagerie

Mit dem Staub der Erde befreundet

Von Engeln und Eseln

Die Fledermaus beweist, daß ich die Sonne bin

Rumi-Variationen auf ein Thema des Propheten

Und zuletzt des Lichts begierig, bist du Schmetterling verbrannt

Falter und Flamme

Acht Paradiese und sieben Höllen

Rumi über Himmel, Teufel, Satan, Ahriman und Eblis

Dschinne kauen und schlürfen Gerüche

Magisches Gewimmel im Eingottglauben

Durch Zauberei hat eine Kuh geblökt

Rumi über Musa (Moses), Pharao und goldenes Kalb

Isa (Jesus) sprang in den Vierten Himmel

Rumi über den Messias der Christen

Der Götze ist das schwarze Wasser in einem Krug

Was Rumi über Ungläubige, andere Religionsanhänger und Pluralismus sagt

Wer wie ein Hindu ist

Rumi über andere Ethnien

Willst du von Indien träumen? Dann schlaf als Elefant auf dem Rücken!

Rumi, angehaucht von Hindustan

Während hundert Auferstehungen vorübergehen

Rumi über die Liebe

Hunderttausend Geheimnisse wurden ihm offenbart

Überirdische Augenblicke bei Rumi

Entbunden, frei erfahren, was das Leben sei

Rumi in und über Ekstase

Such keinen Riß im vollkommenen Vollmond!

Rumi über den Propheten

Etwas ist über mich gekommen

Rumi zitiert und deutet den Propheten – oder der Prophet spricht durch Rumi

Im Diesseits wie im Jenseits gibt es nichts – außer Gott

Rumi über Allah

Die Meinung nützt nichts im Angesicht der Wahrheit

Rumi zitiert Gott, oder Gott spricht durch Rumi

Verzichte auf Diesseits und Jenseits!

Rumi als Asket über Askese

Sandelholz und Moschus passen nicht zum Arsch eines Esels

Rumi als Frauenversteher

Wenn meine Tante Hoden hätte

Rumi, sexuell unverblümt, unverklemmt und deftig

Eine Riesenstadt, kleiner als eine Untertasse

Rumi als Clown Gottes – komisch, paradox, rätselhaft, verrückt

Die zweiundsiebzig abgespaltenen Sekten, die bin allesamt ich!

Rumi als Abweichler, als Original, als versöhnlicher Ketzer

Üb immer Treu’ und Redlichkeit!

Rumi als Didakt, Platitüdenspender, Moralapostel und Langweiler

Kopflose Körper und körperlose Köpfe

Rumi brutal, von mittelalterlicher Grausamkeit

Sonst brennst du gehirnlos wie Brennholz!

Rumi als Strafprediger

Das Heiße zieht das Heiße an

Rumi als Vorsokratiker

Der Leib ist der Kerker der Seele

Rumi als Gnostiker

Wem der Zweifel das Herz verwirrt hat

Rumi gegen Philosophen und als Philosoph

Werd’ ich zernichtet, bin ich prompt geheilt

Rumi als Dialektiker

Yin und Yang im Zwiegesang

Gesprächsmitschnitte

Was ist Sufismus?

Rumi beantwortet allerlei Fragen

Ein plötzlich von der Zunge abgeschossenes Wort

Rumi über Eskalation und Eigendynamik

Sei offen, o Tor, für den, der das Tor sucht

Rumi kommentiert Franz Kafkas Text »Vor dem Gesetz«

Dieses Thema hat kein Ende

Der weitschweifige, sich manchmal bremsende Rumi an seine Zuhörer

Er steckte die Flöte in den Hintern

Anekdoten und Witze von Rumi

Schwanger von seinem Schrei

Rumi an und über Schamsuddin

Wer es als Spinnerei liest, ist selbst ein Spinner

Rumi über seines Liedes Zauberteppich, das Mathnawi

Ich bin der Sklave dessen, den ich nicht sehe

Rumi über sich selbst

III. STIMMEN ÜBER RUMI UND SCHAMSUDDIN

Ein Magazin göttlicher Geheimnisse

Stimmenkonzert über Maulana Dschellaluddin Rumi

Niemand kannte seine Wirklichkeiten

Stimmenkonzert über Schamsuddin

IV. ANHANG

Kommentierte Literaturempfehlungen

Nach ungefährer Wichtigkeit sortiert

Dank

I. EINLEITUNG VON ULRICH HOLBEIN

Hier ist im Stroh ein Meer versteckt

Die Lebensgeschichte Maulana Dschelaleddin Rumis (1207–1273)

Sein Geburtsname lautet Muhammad Dschelaluddin (Celaleddin bzw. Djalal ud-Din) Walad.

Türken nennen ihn meistens Mevlana, auf Persisch: Maulana, auf Deutsch: Meister. (Meister Eckhart hieße also Maulana Eckhart.) Die ganze westliche Welt nennt ihn bevorzugt Rumi. Geboren in Balch in Transoxanien (heutigem Afghanistan), der »Mutter aller Städte«, Kulturzentrum und Wiege des Zoroastrismus, wuchs Rumi in türkischer Sprache auf und lernte zudem Persisch. Alsbald wurde er ansässig in Konja, der iranisch, persisch-arabisch, griechischrömisch (daher Worte wie rumänisch und Rumi), kappadokisch, byzantinisch, kurdisch, kurz: polykulturell quirlenden Metropole des kleinasiatischen Rum- Seldschukenreichs, im heutigen Zentralanatolien, damals unter dem kunst- und gelehrsamkeitfördernden Sultan Ala’uddin Kaikobad.

Rumi heiratete mit achtzehn Jahren, 1225, Dschauhar Khatun (Gevher Hatun, Gauhar Chatun). 1230 »habilitierte« sich der junge Prediger in Theologie, ohne in die mystischen Fußstapfen seines Vaters Baha’uddin Walad zu steigen, dessen verquer quasipantheistische Lehren er erst nach dessen Tod 1231 bei dessen Schüler Burhanuddin Muhaqqiq i-Tirmidhi (gestorben 1241) neun Jahre lang studierte, bis er dann doch noch hineinwuchs in gewisse Neigungen in Richtung Tassawuf (Sufismus).

Der alsbald recht angesehene eingesessene Grammatiklehrer, Hudavendigar (Urteile Fällender) und Fatwaschreiber lehrte in vier Madresen von Konya vierhundert Schüler, ehe er sich 1244 von einem durchreisenden Fremdling, von dessen Ausstrahlung und Suada, unverhältnismäßig beeindrucken ließ.

Vor diesem seltsamen abgerissenen, provokative Reden schwingenden Qalandar (Wanderderwisch), Schamsuddin al-Täbrizi, fühlte sich der beglückte Theologe unterlegen, neigte sein Haupt, atmete befreit auf, diskutierte mit ihm, trank, lachte, tanzte erst nächtelang, dann monatelang, erwählte den unverhofften Gast zum Leitstern, fühlte sich ihm verwandter als Mutter und Vater. Obwohl der Koran Sterndienst, Magie und Sabäertum als Götzendienerei abtat, mutierte der äußerst korankundige Maulana schier zum Schamsi (Sonnenanbeter). Ohnedies klang Rumis Maxime: »Werde Licht, und du hast nie wieder Angst vor der Finsternis!« eher zarathustrisch als islamisch, was Rumi nicht weiter aufzufallen oder zu stören schien. Abendgebete bekam er kaum noch zustande. Tag und Nacht kreiste er fortan als Spätzünder in pubertärer Überhitztheit um die alles überstrahlende Sonne (Schams) aus Täbriz. Anhimmelung mutierte zu Vergötterung. Rumi verübelte seinem Herzensfreund überhaupt nicht, daß der sich zwischen ihn und Allah hängte. Er zerbrach sein Schreibrohr, tauschte den Gebetsteppich mit dem Tanzboden, legte Gelehrtenturban und Juristenärmel ab (nicht aber die Juristenanrede »Maulana«), trug jetzt nur noch Lalischi-Turbane und ließ sich Schrittfolgen und Wirbeldrehungen beibringen. Wenn sie die Nacht durchtanzten, wünschte der herumwirbelnde Rumi mitten im rauschhaften Ablauf, daß heut Nacht der Schlüssel zum Tag nicht gefunden werden möge. Er versteckte sogar Schams’ Schuhe, damit der zu spät hierzulande Aufgetauchte nicht zu früh fortgehe.

Rumis Umwelt sah das Treiben nüchtern bis kritisch. Seine Muriden (Schüler) und Verwandten sahen ihren lieben, anständigen, hochgeachteten Lehrer und ihr Familienoberhaupt seine Pflichten vernachlässigen, wahnbetört, derangiert, übernächtigt. Man fand den gerüchteumwobenen, vielfach verketzerten Eindringling entsprechend unsympathisch. Rumi wurde in ihren Augen das Opfer einer einköpfigen Sekte; ein totales Irrlicht wickelte ihn ein, ein Menschenfischer, Seelen- und Rattenfänger, ein Scharlatan! Und ein charakterlich dubioser Freak! Welch Unding: Maulana, bisher ein vorbildlich linientreuer Musulmane, der also auch stets gegen die dualistische Kosmogonie der Mudschusi (Magier) gesprochen hatte, also contra guten und bösen Gott, ging jetzt selber so einem windigen Magier auf den Leim – welch Rückfall aus korrekter Religionsausübung in altiranisches, schier schamanistisches Archaikum! Rumi aber ließ sich von den Düpierten nicht dreinreden. Sie sahen ihn um ein goldenes Kalb tanzen und zerrissen sich das Maul (wie siebenhundert Jahre später über eines Dichterfürsten nicht standesgemäße Liaison mit einem Blumenmädchen). Er nahm das Vorrecht in Anspruch, Gott in jedem schönen Gegenstand verehren zu dürfen. Er berief sich auf Ibn Arabi, der es von Allah weise fand, sich zunächst auch in sinnlichen Phänomena anbeten zu lassen, und sich sogar zur Ansicht verstieg, selbst noch das goldene Kalb sei Gott. Er berief sich auf den (nicht anerkannten) Hadith bzw. das (unechte) Bayazidwort: »Ich sah meinen Herrn im Gesicht eines bartlosen Jünglings in einem grünen Gewand.« Im irregeführten Liebestaumel kreiste er so zwanghaft um Schams (Sonne) wie Madschnun, auf den er verdächtig oft zu sprechen kam, um Laila (Nacht), oder wie Ibn Arabi um die glutäugige Nisam (oder wie siebenhundert Jahre später Jorge Luis Borges um den Zahir). Tausendeinhundert Jahre nach Heraklit befolgte Rumi den Heraklit-Satz: »Tausend geb’ ich für einen, wenn er der Edelste ist«, bzw. nahm er unedle Charakterzüge in Kauf, weil er der Schönste war, in Rumis Augen. Man schlief sogar beieinander. Rumi feierte seine Sonne als Kerkerschlüssel, als Messias der Seele – und der blasierte Schams ließ sich’s gerne gefallen und spielte mit ihm, und testete ihn, und foppte ihn. Rumi griff dann doch wieder zum Schreibrohr, um hervorbrechende Sehnsuchtsverse zu notieren: »Der Himmel blickt neidisch auf Schams’ schmutzigen Fuß« – und Schams fühlte sich verstanden. Ständig streute Rumi sich Asche aufs gebeugte Haupt, leckte Speichel, pinselte hündisch den Bauch seines Idols – um als Letzter der Erste zu sein? Bei aller Gegenseitigkeit und unklaren Frage, wer hierbei wessen Lehrer sei und wer den Schüler spielte: Rumi, ein Kieselstein, der sich dank Sonneneinstrahlung zum Rubin aufschwang, spielte den werbenden, symbiotisch abhängigeren Part, also eher den Schüler, und bot sich als zerschlagbaren Spiegel an – so wie sich ein Feueranbeter für nicht würdig hält, das ewige Feuer durch die eigene irdische Puste anzufachen. Entzog sich sein Lieblingsdämon über Tage hinweg, wetteiferten Entzugserscheinungen mit Phantomschmerzen. Dann wurde der aufgeregt kummervolle und schlaflose Rumi schier ungläubig. Sobald Schams zurückkehrte, wurde Rumi sofort wieder ein Mann der Religion.

Dann aber ging die Sonne ohne Vorwarnung monatelang unter. Schams reiste überstürzt und grußlos ab, hinterrücks rausgeekelt von Rumis Familie, die sich aber verkalkuliert hatte: Denn statt einen hervorragenden Lehrer zurückzubekommen, der ordnungsgemäß mit Sachverstand zu seinen Aufgaben und Obliegenheiten zurückkehrte, hatten sie nun einen verrückten Dichter zu ertragen, der diesem verrückten »Freund« hinterherweinte – unangemessen heftig. Der Rubin Rumi kam sich ohne seine Quasi-Sonne ruiniert vor. Er baute das Drama der Trennung abendfüllend zum Epos aus, ruminierte sein Leid und erlosch – und steigerte sich hinein in sein Erlöschen. Der unzerschlagene Spiegel erblindete – und steigerte sich in seine Erblindung hinein. Rumi entfärbte sich zurück zum Kieselstein, zur Wassermühle an ausgetrocknetem Flußbett, zur Muschel ohne Perle, zum Fisch, der ohne Wasser im Sand glühte. Er schrieb Briefe hinterher – und erhielt keine Antwort. Boten und Detektive sandte er aus, ließ ihn überall suchen. Wenn er nachts vom Mond träumte, rannte er von Tür zu Tür, ob Schams nicht genauere Botschaft gesandt habe als geträumtes Mondlicht. Derart ausgefüllt fühlte er sich von Schams, zunehmend unabhängig von dessen reeller Ab- oder Anwesenheit, daß er im Gedicht fragte: »Was suchst du in meiner Rocktasche, meinem Turban, meinem Ärmel?« Seine mystische Identifikation mit dem theomorphen Angreifer ging so weit, daß er eigene Verse mit »Schamsuddin« signierte. Eigentlich klafften zwischen Schams’ (überlieferten) Weisheiten und den Worten Rumis Qualitätsunterschiede: Rumi, der deutlich Reichere, Buntere, Tiefere, überbetonte unterwürfig (aus späterer Sicht masochistisch) seinen angeblich geringeren Rang. Rumi machte sich klein vor einem Kleineren. Rumi bot das Bild einer Sonne, die sich zu einem Trabanten erniedrigte. Rumi japste einem eher grobstofflich, vergleichsweise armselig instrumentierten Mondhorn nach und redete diesem dubiosen Möndlein ein, nicht die Sonne, sondern der Mond sei die Sonne. Andererseits wurde Rumis Dichten, Trachten und Leiden erst dann so richtig subtil und sublim, gleichermaßen qualitativ erheblich und quantitativ uferlos, seit sich die Sonne Rumi vom Mond Schamsuddin aufladen und aufpeitschen hatte lassen: 36.000 Doppelverse summierten sich, Hommage an Schamsuddin, Tendenzkunst erster Güte, der Schamsuddin-Diwan, 2200 Druckseiten.

Jedem Gerücht vom monatelang entbehrten Busenfreund reiste Rumi hinterher, umsonst. Sein just volljähriger Sohn Baha’uddin, der spätere Sultan Walad, trieb Schamsuddin tatsächlich in Damaskus auf und lockte ihn mit zwanzigköpfiger Delegation zurück. Um ihn ab sofort noch enger an sich zu binden, bewies Rumi sich als Familienpolitiker, verheiratete nämlich den glücklich Wiedergefundenen mit einem Pflegekind des Rumi-Clans.

Bald aber eskalierten familiäre Zwistigkeiten, und der Angebundene und Angeheiratete verschwand erneut, diesmal für immer. Rumi wurde zu Ya’kub (Jaakov), zerriß sein Gewand, trug Trauer um Yusuf (Joseph), trug nie wieder einen weißen, sondern stets nur einen rauchfarbenen Turban. Er schwankte zwischen steigerbarer Hoffnung auf nochmalige Rückkehr und dem sich verdichtenden Verdacht, daß sein zweiter Sohn Ala’uddin, der seinen Vater schuldbewußt umschlich, beteiligt gewesen sein könnte am Verschwinden des besten Busenfreundes. Er redete jahrelang nicht mit Ala’uddin und ging nicht zu dessen Beerdigung.

Seit der Trauernde und leidvoll Dichtende jeden Vorbeireisenden, der Schamsuddin z. B. in Damaskus gesehen zu haben behauptete, üppig mit Turban, Schuhen und Stücken beschenkte, wurde Schams immer öfter gesichtet. Als man den Berichterstatter Lügner nannte, sagte Rumi: »Ich gab ihm den Turban für seine Lüge. Wenn er mir Wahrheit gebracht hätte, hätt’ ich ihm mein Leben gegeben.« Maßlose Recherchen ließen sich nicht aufhalten durch ebenso ungebändigte Verse, in denen Rumi immer öfter durchschimmern ließ, daß Schamsuddin, gehüllt in eine immer glühendere Staubwolke, ihm vorausgeritten sei ins Haus der Ewigkeit. Rumi habe, hieß es, auf der Schwelle Schams’ Blut gesehen. Andererseits reiste er zweimal nach Damaskus, blieb monatelang dort, in törichten Hoffnungen – umsonst. Zeitweise sah er ihn im Rückblick als Khadir (Chiser/Khidr), jenen mythischen Halbgott, der stets, sobald er seine Botschaft überbracht hatte, zu verschwinden pflegte. Zeitweise faßte Rumi sich an den fiebernden Kopf und wunderte sich: »Da ich er bin, wen such ich hier?« Sich selbst konnte er auch woanders suchen.

Nach dem Tod seiner ersten Frau heiratete Rumi Kira Khatun. Die äußere Erscheinung des lebendigen Schams traf er tief in sich selber wieder, baute sie immer vollgültiger auf, sowie annäherungsweise in Übergangs- und Notlösungen, wie Salahuddin Zarkub, einem genau wie Schamsuddin relativ analphabetischen Goldschmied, mit dem der alternde Maulana sich gezielt von der »Sonne von Täbriz« ablenkte oder die er in ihm zu erblicken versuchte, wie später dann in seinem hocherfreulichen Meisterschüler Husamuddin Schelebi (Tschelebi/Khelebi/Calabi). Rumis Herz schwoll dergestalt und war übervoll, daß er ausrief: »Ich passe nicht mehr in mich!« Bayazid al-Bistami hatte sich hybrid als die Wohlverwahrte Tafel ausgegeben, als die sieben Abdals (Eckpfeiler der Welt), als Ozean etc.; Rumis mystische Expansion griff noch höher und noch mehr in die Breite: Rumi behauptete dichtend, die Scheiche Bayazid, Schibli, Dschunaid, Abu Hanifa, Schafi’i und Hanbal, diese alle seien allesamt er selbst, Rumi, welchselbiger in einem Aufwasch und Atemzug zugleich Wein und Mundschenk umfaßte, und etliche andere Gegensatzpärchen, bis hinauf zu weitestgehendem Tat twam asi: »Die zweiundsiebzig abgespaltenen Sekten, die bin allesamt ich.« (Nebenan, im Abendland, ließ solch mystische Euphorie, rundum alles und jedes zu umfassen und in eigener Person selber zu sein, lang auf sich warten, bis zu Arno Holz, in dessen »Phantasus«.) Desgleichen: Rumi fand Gott in keiner christlichen Kirche, und nicht am Kreuz, und in keiner Hindu-Pagode (Rumi trug sehr gern Burd-i hindi, einen indischen Mantel), keinem Zarathustriertempel, auch nicht auf den höchsten Bergen von Herat und Kandahar, und nicht auf dem Gipfel des Kaf, wo bloß der Anqa-Vogel wohnte, und verblüffenderweise nicht einmal in der Ka’aba, und nicht in den Schriften des Ibn Sina, sondern nur – wo sonst? – im eigenen Herzen. Aber sein Herz wiederum verwarf er als Bratenkloß, sein Auge als Wolke, seine Träne als Trugbild, seinen Leib als Bruchwerk. Bisweilen versank er derart tiefgründelnd in verzückter Versunkenheit, daß im Winter sein tränennasser Bart am Boden festfror und er kaum gewahr ward, wie ihn dann seine Schüler loseisten. Besuche in Mühlen berauschten ihn; er hörte Mühlsteine »sobbuh! quddus!« (O Allerherrlichster! O Allerheiligster!) rufen und drehte sich mit. Vor Byzantinern, die sich dreimal vor ihm verneigten, verneigte er sich dreiunddreißigmal.

Als Meisterschüler Husamuddin ihn bat, die Überfülle seiner Gedanken und Geschichten in einem Mathnawi (Lehr-Epos) niederzulegen, wie vormals Rumis Lieblingsdichter Fariduddin ’Attar oder Saadi, der König mit der süßen Zunge, zog der Maulana die ersten fertigen achtzehn Doppelverse aus seinem Turban hervor: das Sehnsuchtslied der Rohrflöte. Aber als Husamuddin ihn bat, die Schamsuddingeschichte genauer zu erzählen, zeigte Rumi sich zugeknöpft und erwähnte den verschollenen Derwisch in den 24.660 Doppelversen, in sechs Büchern, die er siebzehn Jahre lang diktierte, namentlich kaum.

Im Jahr 1256 lagen Rumis mitgeschriebene Tischgespräche fertig vor, »Fihi ma fihi« (»Was drin ist, ist drin«).

Gleichwie Madschnun statt um Allah um Laila und Rumi um Schamsuddin kreiste, so dachte Akmaluddin Tahib, Rumis Leibarzt, immer seltener ans Jenseits, sondern kreiste zunehmend immer ausschließlicher um seinen Lieblingspatienten Rumi.

Neben dem nicht ganz zu Ende diktierten Mathnawi lag Rumi dann sterbend darnieder, hörte sieben Tage und Nächte lang ein Erdbeben rumpeln. Es schüttelte alle Knochen durch, zermalmte etliche Häuser und Gartenmauern. Rumi, bettlägerig zwischen schreienden Helfern, blieb ruhig und wandte sich an seine Angehörigen: »Die arme Erde ist hungrig. Bald wird sie einen fetten Brocken bekommen und Ruhe geben.« Augenzwinkern? Galgenhumor? Mimikry? Atavismus? Konnten spätere Zeiten aus dem fetten Brocken schlußfolgern, daß Rumi Pykniker gewesen ist? (Wie man aus der Hamlet-Zeile vom »kurzen Atem« schloß, Hamlet sei dick gewesen.) Andererseits wurde er als gelbgesichtig geschildert. So oder so: Lebenslang sang Rumi monotheistisch von Seele und Allah, um im letzten Moment dann doch archaisch von Körper und Mutter Erde zu reden?

Rumis Katze starb ihrem Herrchen binnen einer Woche nach und wurde dicht bei ihm beigesetzt.

Im Ozean der Parabelströme

Was steht im Mathnawi?

Das indische Sprichwort »Alles, was es gibt, steht im Mahhabharata. Alles, was nicht im Mahhabharata steht, gibt es nicht« könnte auch auf Rumis Mathnawi zutreffen. Alle können untertauchen im Fluß ohne Ufer, im Meer der Seele, in seines Liedes Riesenteppich, im bodenlosen Wildwuchs, im Kompendium und Sammelbecken orientalischer Parabeln, von Legenden, Schnurren, Schwänken, Witzen, Geschichten, Einsichten, wundersam verschachtelt und verschlungen, in der Gedankenflora, im prismatisch sich drehenden, irisierenden Formulierungsdschungel mit aufgehenden Knoten, Ebenenwechseln (sprach Rumi von plätscherndem Wasser, forderte er seine Zuhörer auf, einzutauchen in die Bedeutung dieser Worte, statt ins Plätschern), ständigem Rauf- und Runterzooming ineinandergespiegelter Dinge, Holzkisten, die zwischen Hausrat und dem Käfig des Körpers oszillieren, von der Mücke zum Elefanten, vom Weltbrandstifter Pharao zum Geistentzünder Musa (Moses), von der Fledermaus zur Sonne, vom Stein bis zu Allah, und zurück zu Elefant und Stein, ein Geschlingere zwischen zwei, drei, vier Ebenen, nimmermüdem Dualismus, der in Facetten und Nuancen schillert und zerfasert, Wahnwitz und Wahrheit, die ständig ineinander umschlagen. Engelsfedern band Rumi an Eselsschwänze, auf daß der Esel aufglänze und vielleicht zum Engel werde. Allerschönste Aufschwünge und Hinwärtsbewegungen, vom Schlamm, aus dem keiner einen Fuß ziehen kann, bis zur Himmelsdurchquerung unter Beiseitelassung dann sogar des Himmels! Vorformen von »Sechse kommen durch die ganze Welt« blühten. Einem Jüngling, der durch sechshundert Schleier eine Antwort Gottes gehört zu haben glaubte, platzte vor Aufregung fast die Gallenblase. Spötter bellten als Hunde den Mond an. Gottesbeweise schwammen obenauf im Sturzbach der Gleichnisse: Unsichtbar blieb Allah nur, weil auch Wind nur ablesbar wird am herumgewirbelten Dreck. Kaum begab Rumi sich in Badestuben, sah er Leiber als Kleider, die man auch noch ablegen müßte, um wirklich nackt zu sein, Leiber und Leichen als Kleider. Imposant – und schier unwiderleglich – des Metaphernspenders und -speiers Maulana Dschelaluddin Rumis Darlegung, das Existente, genau wie in Hindustan, sei bloß Schaum und Garnichts, also doch wohl Samsara, und umgekehrt: das scheinbar Nichtexistente das einzig wirklich Vorhandene – alles Metaphern- und Parabelfluten, die weniger nach Koran klingen als Bhagavatgita, Manichäismus und Gnosis. Vollsaftige, quicklebendige, improvisatorische Verse, wahnwitzig, obszön, dämonisch, verrückt, orientalisch undiszipliniert, redundant, geschwätzig, nervend, Themen totreitend. Bettler, denen weder Brot noch Fett noch Mehl noch Wasser gegeben wurde, hoben im Mathnawi sofort den Rock, um dem Geizhals ins Haus zu kacken. Ozean multiphon gequirlter Märchenströme: Suleiman (Salomo) forderte die Königin von Saba auf, nicht länger die Sonne anzubeten, so als wäre Rumi nie in dieser Richtung schwach geworden. Ein beim Seitensprung ertappter Richter versteckte sich in einer Holzkiste, so als wenn Rumi bereits Giovanni Boccaccio wär (geboren dreißig Jahre nach Rumi).

Erquickliche Animismen prasseln unablässig; herzerhebender Panpsychismus floriert – Salomo sprach mit Pflanzen; und alle Dinge gewannen im Mathnawi Stimme: Erde sprach zum Körper: »Kehr zurück zu mir!« Licht sprach zur Maus: »Hier kommst du nicht rein!« Tag und Nacht befaßten sich mit Wahrheit. Der Hals der Leute war zu eng, Wahrheit zu schlucken; aber das Meer vermochte Moses’ Worte zu verstehen. Wasser fragte nach seinem Trinker. Sogar Abstrakta, wie zuvor in Fariduddin ’Attars Musibatname (Buch des Leidens), erhoben jederzeit das Wort: »Wudschud (Sein) sprach: ›Komm, ich bin köstlich!‹ Verderbnis sprach: ›Geh, ich bin nichts.‹« Bei der Auferstehung würde nicht nur die Zunge sprechen, sondern jedes einzelne Glied, also der Fuß z. B. sich bezichtigen, den Weg der Lust gegangen zu sein, oder die Rute, unkeusch gewesen zu sein. All diese Unendlichkeiten hingen nur als ein Atom neben Allahs Unendlichkeit, und nur als ein Krümel neben Rumis Reservoir an weiteren Geschichten, die, wenn er sie alle auch noch diktiert hätte, keine vierzig Kamele hätten abtransportieren können. Rumi sah sowohl sich wie jeden Sufi und Menschen als importierten Elefanten, der vom Mutterland Indien träumt, und als heimwehverzehrten Papageien in einem Käfig für Torkelnde.

Die Welt – ein Brunnenschacht, und ich darin ein Eimer, der im Tod raufgezogen wird ans Tageslicht. Den Elefanten erwähnt Rumi im Mathnawi 95mal, die Ameise 45mal, das Atom 109mal, den Mond 427mal, Engel 166mal, Esel 545mal.

Die Seele des Gläubigen ist ein Stachelschwein

Rumi, Fariduddin ’Attar und Omar Khajjam

Rumi, wie alle Sufis trunken vom Becher liebesdurstig hochgeschaukelter Unvergänglichkeit, sah Diesseits und Jenseits Tür an Tür wohnen, schwelgte unbeirrbar und zutraulich in Evidenzen, sprach als Dichter vom Kuß auf den Todesbecher und von seliger Ankunft hinter dem Vorhang. So sehr Rumi sich die Augen von »Schielblick und Irrtum« wusch: In der Überfülle und Fülle all seiner Gedanken, der Formulierfiguren tiefsinntriefenden Parabelurwalds, tauchte lebenslang ein Gedanke nicht auf, vermutlich nie, oder wenn, dann nur kurz, der im Kopf Omar Khajjams und auch Fariduddin ’Attars Kopf durchaus auftauchte.

Omar Khajjam schrieb den Vierzeiler: »Wenn du das Weltgeheimnis lebend lüftest, / kannst du’s vielleicht in deinen Tod hinüberretten. / Doch was du nicht bei Lebzeit schaust, wie willst du’s greifen, / sobald dir dann die Sinne schwinden?«

Dieser Gedankengang wurde von ’Attar und Rumi bis hin zu allen heutigen Nahtoderfahrungsenthusiastinnen à la Prof. Elisabeth Kübler-Ross geflissentlich überlesen, aus Überlebensstrategie heraus. Er entzieht reihenweise den Mystikern aller Zeiten und Zonen die Basis ihrer Gewißheiten, zieht also den Stöpsel aus jeglicher Mystik und wird deshalb nur selten bis nie formuliert, außer viel später einmal von Eduard von Hartmann: »Es liegt hier der immer wiederkehrende Selbstwiderspruch aller Mystik vor, das Aufgehen des Seins und Bewußtseins in Gott mit einem fortbestehenden Sonderbewußtsein doch noch genießen zu wollen, und die Hoffnung auf dieses widerspruchsvolle Ziel ist es, welche als Abschlagszahlung der schließlichen absoluten Seligkeit auf den verschiedenen Annäherungsstufen dargeboten wird.«

Stattdessen hielten sich Fariduddin ’Attar und Rumi – und vorher Mansur al-Halladsch und alle anderen Sufis – mit Omar Khajjams einfallsreicher, fast atheistisch angehauchter Skepsis nicht weiter auf und klammerten sich ans lebenslang anvisierte, angepeilte, angeforderte, ersehnte, verdiente, herbeibeschworene Gotteslicht, das aber erst eine Viertelsekunde, nachdem das lebenslang im Weg stehende dunkle kleine Körperchen, samt Ich und lichtsüchtigem Bewußtsein, niedersinkt, erstmals so richtig glorios und gültig aufflammt. Aber einmal blitzte in einem trunkenen Vierzeiler Rumis doch eine Ahnung kurz auf, daß das verheißungsvolle Fana, das arabisch-persische Nirwana, orientalisches Entwerden, durchaus nicht als lustvolles Nichts aufwarten könnte, sondern auch einfach nur ausbleiben, mangels Vorhandenheit: »Wir sind zur Not auch ohne Wein betrunken, / schon früh vor Tag erleuchtet, und überfließend selbst spätabends; / man droht, es bliebe uns am Ende nichts. / Wir sind zu guter Letzt vergnügt mit weniger als nichts.«

In ultimativem Atheismus wäre Omar Khajjam näher dran an unaushaltbarer Wahrheit als Rumi, der dann bloß, wie alle weltweit gottestrunken verblendeten Geister, definitiv als heiliger Narr dastünde, als einer, der ausgerechnet im Leeren und Finsteren höchste Fülle und Licht erwartete, schluckweise schon vorher am Türspalt zu ernten glaubte, um alsdann, sobald die Tür richtig aufspringt, bzw. zerebrale Endorphinüberflutung abtropft, genau ab diesem wichtigsten Moment nicht mehr dabei zu sein. Doch indem Rumi vorher den falschen Wunschtraum aufbaute und sich an ihm hochzog und in dieser Glut und Sehnsucht zu Rumi wurde, steigerte er sich zum Rubin, derweilen der von vornherein relativ illusionsfrei sich eher an Wein als an Gott berauschende, ohne Meer der Seele auskommende Omar Khajjam einsilbig, ja kümmerlich, Kieselstein blieb. Daß aber ein gottferner Kieselstein über einen gotterfüllten Rubin recht behielte, das könnte nimmermehr die Wahrheit sein, selbst wenn es zuträfe.

Fast immer bog und log Rumi seines Meisters Fariduddin ’Attars Glaubenszweifel und Glaubensverzweiflungen, also traurige in fröhlichere Wissenschaft um.

Allen vorhandenen Motiven seines Zeitalters gab er einen Drall ins Komische: Ibrahim Adhams »Kamel auf dem Dach« wurde durch Rumi zum »Kamel in der Regenrinne«. Die von Propheten prognostizierten zweiundsiebzig Sekten, die zu einer Inflation der Zahl 72 führten, tummelten sich bei Rumi als zweiundsiebzig Krankheiten und zweiundsiebzig Verrücktheiten. Den Hadith »Vereinige mich mit dem Duft des Paradieses!« ließ Rumi einen aufsagen, der sich soeben sein Gesäß wusch: »Wie kann der Duft vom Paradies durch diesen Popo wehen?« (Mathnawi, Buch 4, Vers 2224) Selbst Koranverse funktionierte Rumi per Kontextverschiebung seltsam um: Muhammads Understatement »Ich bin auch nur ein Mensch wie ihr« zitierte Rumi so: »Der Mond sagt zu Erde und Wolke und Schatten: ›Ich bin auch nur nur ein Mensch wie ihr‹.«

Wunderliche Anachronismen: Leute des siebten Jahrhunderts redeten im Mathnawi problemlos von Alparsalan, einem persischen König des elften Jahrhunderts, genau wie nebenan, im altteutschen Mittelalter, die Schergen Christi mit den Schlitzärmeln und Sacktaschen Nürnberger Zunftgewandung von 1589 auftraten. So sehr auch Dichter in alle, denen sie Stimme verleihen, hineinzufließen pflegen: Rumis sogenannte Götzendiener nannten ihre höchsten Götter alogisch »Götzen«, konnten also über ihren muhammadanischen Tellerrand nicht so recht hinausgucken (ideologische Grenze).

Mongolensturm, Zerstörung von Kalifat und Bagdad, oder daß Balch 1220 von Dschingis Kahn überrollt wurde, erwähnte Rumi fast nie, und wenn, dann so: »Menschen fliehen vor Mongolen. Wir dienen dem Schöpfer der Mongolen…« Rumi fand Türke und Hindu im Mutterleib ununterscheidbar (und außerhalb?), folglich durchschaute er doch wohl Feindbilder, und schwerlich hätte man mit ihm – hoffentlich – in irgendeinen Dschihad ziehen können. Doch solch weltverbrüdernd berauschende Tat-twam-asi-Erkenntnis setzte sich offenbar selten irgendwo durch. Andere Weltanschauungen relativierte Rumi mit dem Satz »Ebenso wird dir die Falschheit jedes Gedankens, der dich begeistert, verborgen«, ohne diesen Satz je auf sich selbst anzuwenden. So oder so: Wer den Käfig sprengte, taumelte nur von Käfig zu Käfig. Indem Rumi 1001 einfallsreiche Varianten des Käfigsprengens ausspendete, verblieb er im Käfig dieses seines Lieblingsthemas. Obwohl er als Mystiker hoch über vielen Dingen schwebte, auch beklagte, die meisten Gottsucher seien bloß Nachahmer, weil sie nicht den Mut besäßen, unmögliche Situationen zu erleiden, übernahm selbst Rumi, so wie ’Attar, Bayazid u. v. a. im Käfig musulmanischer und monotheistischer Konditionierungen, Denkschienen, Widersprüche und pogromauslösender Hauptirrtümer, fast alle religiös vorgegebenen Inhalte, Dogmen, Theoreme möglichst unhinterfragt. Aus seinem koranfesten Gotteslob, Anrufungen, pausenloser Waschsucht, Ritualgebet tauchten schön schräge Denkbilder und Formulierrosinen immerhin gelegentlich auf, schade drum; bisweilen öfter, in Ekstase noch öfter; nur selten bezeichnete er das Glaubensbekenntnis originellerweise als »Schaum vorm Maul eines Kamels«. Indem er die irakische Mystikerin Rabia al-Adawiya totschwieg, aber x mittelmäßige Derwische ständig nannte und eine ihrer Geschichten einem namenlosen Asketen zuordnete, schien er sich größere Frauenverachtung zuschulden kommen zu lassen als ’Attar.

Rumi, statt Muhammads Diktum, der Fatalist sei schlimmer als der Ungläubige, anzuzweifeln, bejahte und begründete es. In etlichen Versen schien er metaphysisch Unbegabte wenigstens nicht zu hassen, sondern bloß zu bedauern; er steckte sie mit Amusischen in einen Topf, verglich sie moderaterweise mit Mistkäfern, die Mond und Sonne nicht schön finden können, also in einem Erdloch göttliches Licht vermissen. Wenigstens schimpfte er nicht ganz so einfallslos auf Ungläubige, verglich Unglauben putzigerweise mit dem »Stein der Un-Weisen«. Einen Alchimisten veranlaßte er, nie wieder Gold herzustellen, da es sich ja bloß um diesseitiges Gold, also Kot, handelte. Seinen eigenen Standpunkt legte er auch gern mal seit sechshundert Jahren toten Muhammad-Gegnern in den Mund. Im Rauschtrank von Rumis Poesie pflegten sogar Abstrakta sich öfters wechselseitig zu köpfen. Ein Musulmane reiste zusammen mit einem Christen und einem Dschahudi (Juden), wie die Vernunft mit der Triebseele und dem Teufel. (Mathnawi, Buch 6, Vers 2378) Rumi ließ sogar Abneigung gegen Farbige durchblicken, vor allem gegen betrunkene Neger; Türken hingegen fand er hell und also schön. Haschischkonsum, obwohl der Koran ihn gar nicht verbot, sah Rumi als so verwerflich an wie Päderastie (seinem Biographen Aflaki zufolge). Gegen seine korankompatiblen Passagen lassen sich seine weisheitsvollen Tat-twam-asi-Passagen mit der Lupe suchen. Auch als Dichter verharrte er im Käfig jener Formalitäten, die seit Saadi und Fariduddin ’Attar das Genre Lehr-Epos ausmachten: Jeder funkelnden Parabel hängte er eine brave, dürre Moral von der Geschicht’ an, oft eine enge und schematische, wenig erhellende. Kaum erzählte Rumi die Mär eines alten Narren, der mitten auf einer Durchgangsstraße einen Baum pflanzte und dessen Ausreißung ständig zugunsten des Baums verschob, sodaß spätere, ökologisch vorbelastete Leser im Abendland lächeln mußten und mit Baum und Mann sympathisierten, hieß die enttäuschende Moral dann bloß, man solle Untugenden schon im Keim rechtzeitig ausrupfen – schade drum!

Übersteige dich, bis dir die Sterne untertan sind!

Die Lebensgeschichte von Rumis Seelenfreund Schamsuddin von Täbriz (1204–1248)

Der Geburtsname von Schamsuddin (Schamseddin = Sams ad-Din Mohammed Ben Ali ibn Malakad Tabrizi = Sonne des Glaubens) lautete Muhammad Malekdad. Drei Jahre vor Rumi geboren, in der erdbebengeschüttelten, von Sarsam (Meningitis), Maschara (Blutgeschwülsten) und Hunaq (Diphterie) heimgesuchten Seldschuken-Metropole Täbriz, von Türken überlaufen und unterwandert, sah er bereits als Kind Allah, alle Engel und anderes Übersinnliche mit Selbstverständlichkeit und wunderte sich dann bald, daß andere nichts dergleichen sahen. Sein Vater, ein Textilexperte, alias: Tuchhändler, und er: die alte archetypische Konstellation: Geschäftstüchtiger Realist (à la Tuchhändler Giovanni Bernardone oder Hermann Kafka) zeugt Taugenichts mit höheren Interessen (à la Francesco von Assisi oder Franz Kafka).