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Titelseite

 

 

 

Für Jamie und Kiara

 

 

 

Flach ist das Land, ohne Bäume, ohne Häuser.

Ein Wind geht. Ein warmer. Er trägt dich.

Du bist so leicht. Alles ist leicht.

Du schwebst. Wie ein Vogel. Ein Engel im Aufwind.

Tag für Tag misst du das Land.

Es scheint unendlich zu sein – leer.

Kein Tier, kein Mensch.

Nur Ebene, nur wogendes Gras, nur Stille.

Schön ist es, dein Land. Friedlich. Einsam.

Nur der Wind ist da. Dein treuer Freund.

Er trägt dich fort. In eine Richtung, die ihm gefällt.

Mal hierhin, mal dorthin, nie zurück.

Du willst nicht zurück.

Dein Flug gefällt dir.

Du lächelst.

Ja, sieh nur, du lächelst.

Tag 1

Wie schön er ist. Vom Schlaf ist die Haut ganz samtig. Die Lippen rot. Die Haare zerzaust. Sie umfassen das Gesicht wie der Rahmen sein Kunstwerk. Die Augen bewegen sich unter den Lidern. Sie wandern hin und her, als würden sie etwas suchen. Vielleicht mich. Ich bin hier.

Nur wenige Millimeter trennen unsere nackten Körper. Ich kann die Wärme seiner Haut spüren. Der Augenblick vor der Berührung verursacht mir Gänsehaut. Jedes Mal. Meine Körperhaare streifen seine. Mir läuft ein Schauer über den Rücken. Erst als der verebbt ist, schmiege ich mich an ihn.

»Guten Morgen«, flüstere ich.

Er knurrt, dreht sich weg, weiß noch nicht, dass ich es bin, die seine Träume kreuzt.

Ich zeige ihm, dass es Grund gibt, herüber zu den Wachen zu kommen, schlinge die Arme um seinen Körper, presse die Knie in die Kuhle, die seine angewinkelten Beine bieten. Zwei Löffel, die keine Lust auf Frühstück haben. Aber es ist spät. Zu spät.

»Schule«, flüstere ich. »Dornsted wartet.«

Er knurrt wieder, zieht das Kissen unter dem Kopf hervor und presst es aufs Ohr. Er weiß jetzt, dass ich es bin. Von nun an ist es ein Spiel. Unser Spiel. Das Kissen über dem Kopf heißt, ich muss deutlicher werden.

Meine Hand wandert über seinen Rücken. Hier ist die kleine Vertiefung, in der die Haut dunkler ist. Darunter ist es hügelig. Ich kneife feste zu.

»Aua! Mein Arsch! Bist du wahnsinnig! Das gibt einen blauen Fleck!« Er tut verletzt und möchte doch mehr.

Ich kneife wieder zu, ein bisschen höher. »Ja, wahnsinnig verliebt«, sage ich.

Und das stimmt. In diesem Moment besonders. Es sind immer solche Momente. Wenn er schläft. Wenn er sich unbeobachtet fühlt. Wenn ich ihn aus der Distanz betrachte. Dann fließt alles in einer Sekunde zusammen. Dann ist alles ganz leicht. Ja, wirklich, das Leben ist jetzt leicht wie eine Feder, die ich vor mir herpuste.

Er dreht sich um. Er kann nicht widerstehen. Die eine Hand schiebt sich mühsam unter meine schwer im Bett versunkene Hüfte, die andere kommt von oben. Er hat mich. Und er will mich nicht mehr loslassen.

»Es ist schon nach halb acht«, sage ich.

»Die erste Stunde ist also verloren.«

»Nicht, wenn wir uns beeilen. Komm. Wir müssen unter die Dusche.«

»Ich mag, wenn du schmutzig bist.« Er biegt meinen Arm nach oben und vergräbt die Nase in der Achsel. »Wenn ich mich nicht irre, grassiert im Moment eine elende Magen-Darm-Geschichte. Dass ich mich bei dir anstecke, wird sogar Dornsted einleuchten. Also, wir sind krank.« Er verzieht das Gesicht, als würde er damit ernst machen.

»Wie hässlich du sein kannst«, sage ich.

Und er: »Ich würde dich auch lieben, wenn du hässlich wärst. Hässlich. Dümmlich. Von mir aus auch mausetot.«

»Und ich würde dich auch lieben, wenn du dein Abi schaffst«, sage ich und rutsche zwischen seinen Armen hindurch ans Bettende. Die Decke ziehe ich mit mir. Als ich Richtung Badezimmer verschwinde, werfe ich einen Blick zurück. Das Morgenlicht sieht nirgends so schön aus wie auf seinem nackten Körper. Es formt Hügel und Täler. Er ist gemalt. Vielleicht sollte ich zurückgehen, nur noch für einen Moment.

»Wirst du dich nächstes Mal wieder genau da genauso hinlegen?«, frage ich.

»Wieso?«

»Sag einfach Ja. Merk dir, wie du jetzt liegst, und mach es exakt so, okay?«

»Okay!«

Ich gehe nicht zurück. Ich verschiebe es auf morgen.

Mein Blick wandert auf die gegenüberliegende Seite des Raumes. Er schaut nicht zu mir herüber. Er spricht mit Aron und gestikuliert so ausladend, wie sein Grinsen breit ist. Ich kann nicht erkennen, worum es geht. Vielleicht um mich.

Es sind bestimmt sieben Meter. Er ist zu weit weg. Konzentrieren kann ich mich ganz sicher nicht besser, wenn er weit weg ist. So was kann auch nur einem Lehrer einfallen.

»Habt ihr was geplant?«

»Ja. Wir wollen essen gehen. Drei Gänge. Kerzenschein. Champagner.«

Susanne lächelt, versucht, sich für mich zu freuen, aber es will ihr nicht gelingen. Ich kann sehen, dass sie mit etwas kämpft. Sie möchte das auch. Schon viel zu lange.

»Ein ganzes Jahr. Das ist wirklich … lang«, sagt sie und schaut auf ihr Heft. Zum Glück muss sie noch etwas abschreiben.

»Wir sind ein altes Ehepaar.« Ich versuche, ihr etwas zu geben, an dem sie sich aufrichten kann.

»Was wirst du anziehen?«

»Ein sehr ausgeschnittenes und kurzes Teil.«

Jetzt lächelt sie besser. Irgendwas ist von ihr abgefallen. Sie kann mir sogar wieder in die Augen schauen und es sagen, wie es ist: »Du bist wirklich zu beneiden.«

Ich zucke mit den Schultern.

Es liegt mir auf der Zunge: Du wirst auch bald jemanden finden. Jemanden, mit dem du Pläne schmieden kannst. Jemand, der, wenn wir alle in die Welt hinausgehen, deine Angst wegbläst und an deiner Seite ist. Jemand, von dem du jetzt schon weißt, dass du mit ihm alt und runzlig werden willst.

Aber ich sage: »Bist du fertig?«

»Ja.« Sie gibt mir das Heft zurück.

Dornsted betritt die Klasse und sieht aus, als würde er am liebsten gleich wieder verschwinden. Er hasst uns. Er starrt sicher jeden Morgen auf das abgerissene Kalenderblatt und fragt sich, wann es endlich vorbei ist. Lange kann es nicht mehr dauern. Er sieht alt aus. Wie jemand, der alleine alt geworden ist.

Ohne Begrüßung schreibt er mit quietschender Kreide eine Zahl an die Tafel. Vier. Er schaut uns an. Wie etwas, das er nicht vergessen kann, sosehr er es auch möchte.

»Was bedeutet diese Zahl, meine Damen und Herren?«

Keiner antwortet. Also übernimmt er es selbst.

»Das sind die Monate, die Ihnen noch bleiben, um Reife zu erlangen.« Er wartet, aber niemand reagiert. »Reife«, wiederholt er. »Ist irgendjemand hier der Ansicht, die in vier Monaten zu erlangen?«

Niemand sagt etwas.

»Dann sind wir ja ausnahmsweise mal einer Meinung.«

Er will nicht, dass wir ihn mögen.

Ohne die Schatten des Schulgebäudes ist der Tag voller Sonne.

»Wie kann man nur so drauf sein?« Aron lässt die Gesichtsmuskeln erschlaffen und starrt ins Leere. Die Ähnlichkeit ist verblüffend. Sogar die Stimme kann er imitieren. »Was Sie hier in meiner Visage sehen, ist Reife, meine Damen und Herren. Vertrocknete, verhärmte Reife. Etwas, das Sie niemals erreichen werden.«

»Bei dem ist das Verfallsdatum längst überschritten«, sagt Susanne. »So jemand müsste wirklich suspendiert werden. Den kann man doch nicht mehr auf Schüler loslassen.«

»Weiß jemand, wie der lebt?«, frage ich.

»Der hat ganz sicher noch nie eine Klasse zu sich nach Hause eingeladen. Ich hab aber mal gehört, dass er alleine lebt. Also ohne Frau. Wer würde diesen Zombie schon haben wollen.«

»Er kann einem irgendwie leidtun«, sagt Rico.

Er bekommt meinen Ellenbogen in die Rippen. »Zu gut für diese Welt!«

»Ich hab ja nicht gesagt, dass er mir leidtut. Ich hab nur gesagt, er könnte.«

»Machen wir was heute?«, will Aron wissen.

»Wir bleiben zu Hause«, antworte ich.

»Paare sind so langweilig. Man sollte echt nicht mit einem Paar befreundet sein. Susanne, was ist mit dir?«

»Ich hab Zeit.«

Aron hakt sich bei ihr unter und zieht sie weg. Er wirft uns einen Blick zu, der jedes Paar im Umkreis von drei Kilometern eliminieren soll, aber bevor er ganz verschwindet, lacht er doch und ruft: »Ich liebe euch, Leute, auch wenn ihr verdammt öde Freaks seid! Passt auf euch auf.«

»Wir lieben dich auch, Idiot!«, ruft Rico und wendet sich an mich: »Was soll das eigentlich heißen, passt auf euch auf. Ich auf mich. Und du auf dich. Oder wir aufeinander?«

»Das sagt man halt so.«

»Ja, aber warum sagt man das halt so. Muss doch irgendeinen Sinn machen. Ich meine, ich kann doch nicht auf mich aufpassen. Ich kann mich ja nicht zweiteilen. Der eine Teil handelt und der andere passt auf, dass der erste keinen Fehler begeht?«

»Belassen wir es doch dabei, dass wir aufeinander aufpassen, okay?«

»Okay.«

Ich will wie gewohnt rechts abbiegen. Aber Rico lässt meine Hand los. »Ich muss heute mal nach Hause. Die denken sonst, mir wäre was passiert.«

»Ruf doch an.«

»Im Ernst, Elena, meine Eltern wissen schon gar nicht mehr, wie meine Stimme klingt.«

»Sag ich doch, ruf an.«

Er schüttelt den Kopf. »Komm doch mit zu mir. Die würden sich riesig freuen, dich mal wieder zu sehen. Mein Vater meinte letztens schon, dass wir bestimmt gar nicht mehr zusammen sind und ich das nur erzähle, um in Ruhe um die Häuser zu ziehen.«

»Geh doch morgen.«

»Nein.« Er schaut weg. Wenn er nicht wegschauen würde, könnte er nicht widerstehen. So ist er. Er muss sich richtig anstrengen, um anders zu sein, als er ist. »Ich gehe jetzt nach Hause. Basta! Und wir sehen uns morgen Abend. Um sieben.« Er schiebt mich von sich, um sicherzugehen.

Ich könnte, aber ich will ihn nicht überzeugen. Vielleicht hat er recht. »Es kommt mir vor wie eine Woche. So schnell ist die Zeit mit dir verflogen«, sagt er.

»Mir kommt es vor wie ein Jahrzehnt«, sage ich. »Ich kann mich gar nicht mehr daran erinnern, wie es ohne dich war.«

»Komisch. Zeit ist echt eine subjektive Sache.« Jetzt hat er doch nach meiner Hand gegriffen. Und es dauert ewig, bis sich auch der letzte Finger dazu entschließen kann, wieder los- und Rico auf die andere Straßenseite zu lassen.

»Und weißt du, was es morgen zum Dessert gibt?«, rufe ich ihm nach.

»Nein, was?«

»Jubiläums-Elena im Schlafrock.«

»Hört sich lecker an.«

»Ist es auch.« Ich fasse mit den Daumen hinten in den Hosenbund. Zwei, drei Zentimeter ziehe ich die Jeans nach unten. Gerade so weit, dass der Ansatz meiner Poritze zu sehen ist. Ich weiß, dass er sich noch einmal zu mir umsieht. Ich weiß, dass ich ihn damit zurücklocke. Für einen letzten Kuss. Den brauche ich noch, bevor ich ihn gehen lassen kann.

Ich werfe einen Blick über die Schulter. Er rennt schon, zieht eine Show ab, die Arme ausgestreckt, die Zunge aus dem Mund hängend wie ein brünstiger Hirsch.

Er sieht ihn im selben Augenblick wie ich. Für den Bruchteil einer Sekunde bleibt er wie angewurzelt stehen, dann ist er weg. Mit uns ziehen sie sicher um. Ich lese jeden einzelnen Buchstaben. Dann ist er wieder da.

* * *

Weißt du noch, wie verrückt du nach mir warst? Du hättest alle haben können, aber du wolltest mich. Die Neue. Gerade weil ich dich nicht beachtete. So war das doch, oder? Ich sah dich nicht und das machte etwas mit dir. War es sportlicher Ehrgeiz? Am Anfang? Sag ruhig. Ich kann das aushalten. Ich weiß ja, dass es das nicht blieb.

Erinnerst du dich, du legtest dich richtig ins Zeug. Tanztest um mich herum wie ein Irrer um eine Salzsäule. Ich war ganz starr damals. Ein Witz nach dem anderen kam aus dir heraus. Du lachtest eigentlich immer. Aber ich konnte so viel Lachen gar nicht aushalten. Und mitlachen erst recht nicht.

Ich weiß noch genau, in welchem Moment du das kapiertest. »Du denkst auch, der Typ hat null Tiefgang, was?«, fragtest du.

Wir standen am Getränkeautomat und ich zog Bouillon, die so ekelig war, dass ich sie gleich wieder aussspuckte. Vor deine Füße.

»Ja, ich find mich auch zum Kotzen«, sagtest du.

Da konnte ich das erste Mal lachen. Das erste Mal, seit ich hier war. Das erste Mal seit einer Ewigkeit.

Du dachtest, damit sei das Eis gebrochen, oder? So bist du. Du denkst, die Dinge sind einfach. Aber so schnell ging das nicht. Ich sagte: »Sorry, aber ich hab es grad nicht so mit Typen, also, lass gut sein.«

Ich dachte, damit seist du in die Flucht geschlagen. So bin ich. Ich denke, die Menschen lassen sich fernhalten. Aber du sagtest etwas Ungeheuerliches. Du sagtest: »Ich lass dich wieder gut sein.«

Und ich dachte: Was für ein eingebildetes Arschloch! Was für ein Spinner! Ich konnte das nicht verstehen. Aber genau das passierte. Du machtest mich wieder gut. Später.

Erst mal gingst du auf Abstand. Du merktest, dass du mich in Ruhe lassen musstest, wenn du nicht alles verderben wolltest. Du behieltst mich aus der Ferne im Auge. Ich spürte deinen Blick im Rücken. In den Kursen. In der Pause. Manchmal sogar, wenn ich alleine zu Hause im Bett lag. Ob ich wollte oder nicht. Und ich wollte nicht.

Ich hatte andere Sachen zu tun. Alles war neu. Ich kannte ja niemanden. Ich musste erst mal die Lage checken. Kapieren, wie eure Schule läuft. Stoff nachholen. Susanne als Freundin gewinnen.

Aber dann, eines Tages, es war Winter, es hatte geschneit, ich stand mit Susanne in der Pausenhalle, da fehlte plötzlich etwas. In meinem Rücken. Ich drehte mich um. Ich suchte überall. Aber du warst nicht da. Und am nächsten Tag auch nicht. Und nicht am übernächsten. Es schlich sich dieses dumpfe Gefühl in meine Brust. Und als ich es erkannte, war es Sehnsucht. Ich vermisste dich und wusste nicht, wieso.

»Wo ist eigentlich dieser, na, wie heißt der noch«, fragte ich Susanne. Ich wusste genau, wie du heißt.

»Rico?«

»Ja, der.«

»Hat Sonderurlaub.«

»Wieso das denn?«

»Weil sein Vater die Schule sponsert. Ricos Eltern sind ziemlich reich.« Susanne zog die Augenbrauen hoch. »Findest du den also doch gut?«

»Ich weiß nicht.« Ich wusste es nicht.

»Dann finde es mal raus. Er ist nächste Woche wieder da. Ist irgendwo in Afrika. Eine wohltätige Sache. Sein Vater ist Megachefarzt von so einer Schönheitsklinik. Und er hat in Afrika entstellte Kinder zusammengeflickt. Rico durfte das dokumentieren. Als Schulprojekt. Na ja, das war der offizielle Grund für den Sonderurlaub. Du kannst ihn also ein bisschen ausfragen, wenn er zurückkommt.«

Ausfragen über Afrika, das war eine gute Idee, fand ich. So hätte ich dir später immer noch sagen können, dass es nur die geflickten Kinder waren, die mich interessiert haben. Nicht du.

* * *

»Verdammte Scheiße!«, brüllt er und springt vom Fahrersitz des Lkws. Er ist nicht alt. Mit Schnauzer. Mit Tattoo auf dem Oberarm. Er rennt an mir vorbei. Bleibt stehen. Stöhnt. »Verdammte Scheiße! Nein. Nein. Nein.«

Doch.

Er kniet sich hin. Steht auf. Dreht sich halb. Verharrt. Zieht ein Handy aus der Tasche. Wählt.

»Komm schon. Komm schon. Hallo? Ein Krankenwagen in die …!« Er dreht sich um. Sucht etwas.

»Nussbaumweg.« Das ist meine Stimme.

»Nussbaumweg … Ein Junge.«

Mein Junge.

»Ich weiß nicht. Er rührt sich nicht.«

Schläft.

Das Handy verschwindet in der Tasche. Er dreht sich zu mir. »Ich hab ihn nicht gesehen. Er ging in die andere Richtung und dann plötzlich … Kannst du das bezeugen? Hast du das gesehen?«

Ja.

»Ich hatte keine Chance.«

Keine Chance.

»Wieso ist er auch …«

Er wollte an meinen Po.

»Verdammte Scheiße. Ich bin nicht schuld. Ich …«

Ich.

»Du hast das doch gesehen.«

»Ja.«

»Und jetzt? Was machen wir denn jetzt?«

Wir.

Ich gehe. Links vor. Rechts vor. Es geht. Ich gehe.

So sieht das jetzt aus.

»Stabile Seitenlage? Oh Mann. Wie funktioniert das noch mal.«

»Nein, nicht anfassen.«

Schläft doch.

»Ja, richtig, viel zu gefährlich. Nachher machen wir noch mehr kaputt als … Verdammte Scheiße!«

Kaputt.

Aber gar kein Blut.

Wird alles wieder gut.

Heile, heile Gänschen.

Die Katze hat ein Schwänzchen. Mausespeck.

Weg.

»Rico.«

»Was? Du kennst den?«

»Rico.« Ich beuge mich zu ihm hinunter, halte meine Wange an seine Nase.

»Rico. Alles klar. Okay. Rico wird wieder. Der wird wieder.«

Wird wieder.

»Pass auf. Der Krankenwagen kommt gleich.«

Atmet nicht.

Schläft doch.

Atmet nicht.

Schläft doch.

Atmet aber nicht.

»Atmet nicht.«

Er bückt sich. »Oh, nein, nein. Bitte nicht. Nein, das nicht.«

Nicht.

»Was ist passiert?« Noch eine Stimme. »Soll ich den …«

»Schon unterwegs. Er kam aus dem Nichts. Er ist mir einfach vor die Kühlerhaube gerannt. Ich konnte gar nichts …«

»Ist er …? Oh Gott!«

Schläft nur.

Verdammt, schläft nur!

»Wieso dauert das so lange?«

Lange.

Lange.

Lange.

»Da. Ich hör was.«

»Ich nicht.«

»Doch, da, ein Martinshorn.«

»Endlich.«

Endlich.

Er winkt.

Das ist eine Schlange, die sich um einen Baum windet. Jetzt erkenne ich es. Vielleicht die Schlange aus dem Paradies. Er winkt wild, bis neben uns der Krankenwagen hält.

Meine Mutter. Es ist meine Mutter. Ich erkenne ihren Gang. Sie hat Absätze an. Sie muss klingeln, wenn sie hier hereinwill. Oder ich öffne die Tür von innen.

Ich öffne die Tür. Und setze mich sofort wieder hin. Die Sitzfläche ist noch warm.

»Elena.« Sie kniet sich vor mich und ist ganz klein. Viel kleiner als ich. »Elena?«

»Ja.«

Sie streckt die Arme aus, schlingt sie um mich, vergräbt ihren Kopf in meinem Schoß. Ich lege die Hand auf ihren Kopf. Die Haare sind feucht. Sie hat geschwitzt.

»Zieh die Jacke aus, Mama. Es ist zu warm.«

Sie schaut auf und sieht mich verständnislos an. »Stehst du unter Schock?«

»Nein. Deine Jacke ist zu warm. Du schwitzt.«

»Das ist doch jetzt egal.«

»Ja.«

Sie lässt mich los, ächzt, als sie aufsteht.

»Setz dich.«

Sie setzt sich. Legt die Hände in den Schoß wie etwas, das nicht mehr zu gebrauchen ist. »Das ist so schrecklich«, sagt sie.

»Ja.«

»Haben sie schon irgendwas gesagt?«

»Nein. Es hat niemand mit mir gesprochen.«

Sie fasst in ihre Jackentasche. Etwas knistert. Sie vergewissert sich, dass sie noch da sind, auch wenn sie weiß, dass sie hier nicht rauchen kann.

»Wo sind …?«

»Sie sind bei ihm.«

»Und du? Wieso bist du nicht …?« Jetzt rühren sich die Hände doch noch, sie flattern nach oben und wieder herunter. Zwei Vögel, die nicht flügge werden. »Können wir nicht rein?«

»Mama!«

»Kann man nicht irgendwo nachfragen? Hast du nicht geguckt?«

»Nein.«

Ich habe gesessen. Hier auf diesem Stuhl. Ich habe mein Handy aus der Tasche geholt. Ich habe Ricos Eltern angerufen. Sie sind hergekommen. Sie haben vor mir gestanden. Sie haben etwas gesagt, ich weiß nicht mehr was. Der Arzt ist gekommen und hat sie mitgenommen. Ich habe meine Mutter angerufen. Ich habe gesessen. Ich habe die Tür aufgemacht.

»Du stehst unter Schock.«

»Nein.«

»Hat man dich untersucht?«

»Nein.«

Sie nickt, als wollte sie sich selbst zustimmen, wenn es sonst keiner tut. »Du hast ein Recht darauf.«

Sie steht auf, geht einmal im Kreis. Sieben Stühle. Wasserspender. Tischchen mit Zeitschriften Hat ihre Liebe noch eine Chance? – Alles aus nach Streit in der Öffentlichkeit! – Entschuldigung vor laufenden Kameras – Tür, die nur von innen aufgeht. Tür, die nicht aufgeht. Ich.

»Das ist ja wie in einem Käfig hier«, sagt sie.

»Da sind Zeitschriften.«

»Ich kann doch jetzt nicht lesen.«

»Nein.«

Sie setzt sich. Schlägt ein Bein über das andere. Der Fuß wippt auf und ab.

»Kannst du das lassen?«

»Was?«

»Das Wippen.«

»Wieso? Stört dich das?«

»Sonst würde ich es ja nicht sagen.«

»Dass du dich jetzt mit so einem Kleinkram beschäftigen kannst.«

.Ich bin hartherzig.

.Wie bitte?

.Im Ernst. Wenn ich einen platt gefahrenen Igel auf der Straße sehe, dann setze ich zurück, um noch mal drüberzufahren.

.Du hast keinen Führerschein.

.Aber wenn ich einen hätte. Und du, du hältst an, packst ihn in dein T-Shirt und bringst ihn in die Klinik.

.Einmal.

.Du hast ja auch gerade erst deinen Führerschein. Im Laufe deines Lebens wirst du noch Hunderte platt gefahrene Tiere retten.

.Und du wirst hundert Igeln den Gnadentod geben.

.Ich fahr sie platt, das ist einfacher.

.Elena. Ich würde dich nicht lieben, wenn du hartherzig wärst. Und ich liebe dich wahnsinnig. Okay?

.Okay.

Die Tür, die ich nicht öffnen kann, öffnet sich. Ricos Eltern kommen hindurch. Und der Arzt. Meine Mutter springt auf. Ricos Mutter hat ein nasses Gesicht. Sie weint. Ricos Vater holt ein Taschentuch aus der Jacke. Sein Mund ist ein Strich. Auf seiner Stirn steht eine Falte senkrecht.

Ich habe beide lange nicht gesehen. Jetzt sehe ich sie so.

»Fahren Sie erst mal nach Hause«, sagt der Arzt. »Sie können gerade ohnehin nicht zu ihm rein. Holen Sie ein paar Sachen. Machen Sie ein paar Anrufe. Und dann kommen Sie wieder.«

»In Ordnung.« Ricos Mutter lehnt sich an Ricos Vater. Er legt einen Arm um ihre Taille. Wenn sie fallen würde, wäre er da, um sie zu halten.

Er schaut zu mir. »Er liegt im Koma. Schädel-Hirn-Trauma. In den nächsten 48 Stunden können sie mehr sagen.« Er streckt den Arm aus, den er nicht um Ricos Mutter gelegt hat. Der Arm zeigt in meine Richtung. Ich stehe auf, stelle mich neben ihn, lasse ihn den Arm um mich legen. Er zieht mich an seine Seite. Ich stehe nur auf einem Fuß, bis er mich loslässt.

»Wir müssen jetzt alle an einem Strang ziehen«, sagt er. »Rico braucht uns jetzt.« Er schluckt mit einem lauten Geräusch. »Es gibt eine Menge zu organisieren.«

»Ja.«

Ich muss den Tisch abbestellen. Haben die unsere Nummer? Ist das bei Tischen so wie bei Flugzeugen? Muss man zahlen, wenn man nicht kommt?

.Welchen Tag nehmen wir?

.Nehmen wofür?

.Als Jahrestag. Wir müssen doch feiern. Du bekommst einen Strauß rote Rosen und ich eine Krawatte.

.Eine Krawatte?

.Was bekommen Männer denn?

.Eine Flasche Whiskey.

.Oder ein Nacktfoto.

.Das ist also der Grund, wieso du einen Jahrestag haben willst.

.Was denkst du, wie schön das ist. Wir erzählen uns bei Kerzenschein, wie alles angefangen hat.

.Wenn wir dann noch zusammen sind.

.Natürlich sind wir das dann noch.

.Du wirst mich vielleicht schneller leid, als du denkst.

.Ich werde dich nicht leid. Wir nehmen den Tag, an dem wir uns das erste Mal geküsst haben. Einverstanden?

.Einverstanden.

»Das Wichtigste ist jetzt, dass Ihr Sohn Zuwendung von vertrauten Menschen bekommt«, sagt der Arzt.

»Wir werden uns abwechseln. Es wird immer einer von uns bei ihm sein«, sagt Ricos Vater und schaut von seiner Frau zu mir, wieder zu seiner Frau. Sie nickt. »Wir schaffen das. Alles wird gut.«

Alles wird gut.

»Spielen Sie ihm vertraute Musik vor. Lesen Sie ihm aus seinen Lieblingsbüchern vor. Erzählen Sie ihm Geschichten. Er muss kämpfen. Und Sie müssen ihm die Kraft dafür geben«, sagt der Arzt.

Hinter mir sackt meine Mutter auf den Stuhl zurück. Ich hatte sie ganz vergessen. Ihre Augen sind nass geworden, ihr Mund verzieht sich, ihr Kehlkopf geht auf und nieder. Gleich wird sie schluchzen. Sie wird sich nicht zusammenreißen. Sie wird schwach sein. Gleich. Ich packe sie am Arm und ziehe sie hoch.

»Rufen Sie mich an, wenn ich zu ihm kann?«, frage ich Ricos Mutter.

»Ja, das machen wir.«

Meine Mutter ist zu schwach, um sich zu wehren. Ich habe leichtes Spiel. Wir schaffen es durch die Tür, bevor es losgeht.

* * *

Weißt du noch, du nutztest deine Chance sofort.

Erst seit dem Morgen warst du aus Afrika zurück und kamst trotzdem noch zu den letzten beiden Stunden in die Schule. Weil du mich unbedingt wiedersehen wolltest. Kurz nachdem der Unterricht anfing, tratest du ohne anzuklopfen in die Klasse und suchtest meinen Blick. Als ahntest du, dass es so weit war. Dass ich so weit war. Dass es losgehen konnte.

Susanne war krank. Der Platz neben mir war frei. Als hätten sich alle verschworen. Du setztest dich so dicht neben mich, dass ich dich riechen konnte. Du rochst nach Schweiß, Flugzeugluft, fremder Welt. Ich konnte nicht aufhören, dich einzuatmen.

Erinnerst du dich, Dornsted wollte nicht, dass du berichtest, obwohl alle Fragen nach dir warfen. Er wollte Unterricht nach Plan. Wie immer.

Du bekamst vier Zettelchen. Ich habe gezählt. Du schriebst auf alle dasselbe, bevor du sie durch die Reihen zurückschicktest. Schön wieder hier zu sein, ich erzähle später. Sie gingen alle an Mädchen. Und ich dachte: Als wenn er ausgerechnet dich… du dumme Ziege. Es war so schwer zu glauben.

Aber dann öffnetest du dein Heft und schriebst an mich. Hast du mich vermisst?

Ich antwortete: Nicht die Bohne.

Darauf du: Du bist eine schlechte Lügnerin.

Du hattest recht. Ich war ein einziges augenscheinliches Indiz für meine Lüge. Meine Wangen waren heiß, mein Nacken schwitzig, mein ganzer Körper verwandelte sich in einen warmen, schweren Klumpen Teig. Meine Hände waren so fahrig, als sie den Stift führten. Ich interessiere mich für die afrikanischen Kinder.

Wie augenscheinlich. Wie durchschaubar. Wie dumm. Aber du warst erfreut. Es stand in dein Gesicht geschrieben und in dein Heft. Dann treffen wir uns heute Abend im Café Feynsinn und ich zeige dir meine Fotos.

Du kannst das nicht wissen, ich habe es dir nie erzählt, aber als die Schule vorbei war, dauerte es den ganzen Nachmittag, bis aus dem Klumpen Teig wieder ich wurde. Mit Konturen, mit Grenzen, mit einer Form, in der ich mich auskannte. Ich saß auf dem Bett und sah dabei zu. Du kannst dir nicht vorstellen, wie erleichtert ich war, als ich auch die letzte Zelle wieder unter Kontrolle hatte.

Meine Mutter kam ins Zimmer. Sie redete ohne Unterlass über ein Geschenk ihres Lovers. Ich weiß nicht mehr, was es war. Aber sie regte sich auf, weil sie fand, es sei zu billig. Sie sei mehr wert. Sie habe Besseres verdient. Es ging um nichts Ernstes. Ich machte mir keine Sorgen. Ich wusste, in weniger als einer Stunde würde sie mit ihm im Schlafzimmer verschwinden und Versöhnung feiern. Hinter ihrem Kopf erschien für Sekunden immer wieder die Uhr mit dem kaputten Sekundenzeiger. Die war alles, was ich wirklich wahrnahm. Es war höchste Zeit zu gehen, wenn ich nicht zu spät kommen wollte.

Aber, ehrlich, ich wollte zu spät kommen. Ich wollte sogar gar nicht kommen.

Ich wollte einfach auf dem Bett sitzen bleiben, meiner Mutter zusehen, wie sie sich immer weiter in Rage redete, und für immer die sein, die ich war.

Aber dann bin ich doch aufgestanden, an meiner Mutter vorbei zur Tür gegangen und aus der Wohnung gerannt. Es war einfach Zeit, mich selbst zu überholen.

Ich kam eine Dreiviertelstunde zu spät, aber du warst noch da. Dein Laptop stand aufgeklappt auf dem Tisch, sein Licht strahlte dein Gesicht an, sodass ich dich zwischen all den Menschen sofort finden konnte.

Du fragtest nicht, wieso ich mich verspätete. Du sagtest: »Auf dich zu warten, war so ziemlich das Aufregendste, das mir je zugestoßen ist. Adrenalin pur. Da kann Afrika echt nicht mithalten.« Und dann: »Setz dich.«

Und ich setzte mich.

* * *

Es regnet. Das hat es seit Tagen nicht. Jetzt sieht es aus, als wollte der Himmel alles ertränken. Meine Mutter zieht die Kapuze über den Kopf. Ich habe keine. Der Regen braucht nur wenige Sekunden, um meine Haare zu durchweichen. Er ist kalt. Er läuft in den Ausschnitt, rinnt den Rücken herunter, sammelt sich als kleiner Bach, um meine Poritze herunterzulaufen. Als wollte er den Weg weisen, um alles zu erklären. Aber niemand verfolgt seinen Fluss.

Ein Krankenwagen biegt in die Einfahrt, fährt durch eine Pfütze, groß wie ein See, durchtränkt auch noch den letzten trockenen Rest von mir.

.In so einem Ding möchte ich es mal machen.

.Wieso das denn?

.Weiß nicht. Weil alles drin ist. Ein Bett. Sauerstoffflasche für danach.

.So verausgaben willst du dich?

.Logo. Bis der Arzt kommt. Ach, ne, der ist ja dann schon da.