Über Heike Koschyk

Heike Koschyk wurde 1967 in New York geboren und wuchs in Hamburg und Travemünde auf. Bevor sie zu schreiben begann, arbeitete sie als Heilpraktikerin in ihrer eigenen Praxis. Sie veröffentlichte Krimis, historische Romane sowie Biografien. 2008 wurde Heike Koschyk mit dem Agatha-Christie-Krimipreis ausgezeichnet. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in Hamburg.

Informationen zum Buch

Hildegard von Bingen gilt als eine der bedeutendsten Frauen des Mittelalters. Sie war eine Frau mit einer charismatischen Ausstrahlung, die andere Menschen mit flammendem Einsatz für ein christliches Leben in ihren Bann zog. Ihr Ruf als Visionärin und Heilerin war legendär. Doch sie scheute sich auch nicht, sich mit den Mächtigen ihrer Zeit anzulegen; so ergriff sie wiederholt das Wort, um Kirchenfürsten, Päpste, ja selbst den gefürchteten Kaiser Friedrich Barbarossa in die Schranken zu verweisen.

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Heike Koschyk

Hildegard von Bingen

Ein Leben im Licht

Biographie

Diese Biographie basiert,

auch wenn sie keinen

wissenschaftlichen Anspruch erhebt,

auf den neuesten Erkenntnissen

der Hildegard-Forschung.


Hamburg, im Jahr 2009.

Inhaltsübersicht

Über Heike Koschyk

Informationen zum Buch

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Prolog: Die sanfte Macht der Hildegard von Bingen

1. Kapitel: Hildegards Kindheit und Lehrjahre

2. Kapitel: Kloster Disibodenberg

3. Kapitel: Hildegards Berufung

4. Kapitel: Entscheidung auf der Synode in Trier

5. Kapitel: Umzug auf den Rupertsberg

6. Kapitel: Richardis

7. Kapitel: Briefwechsel

8. Kapitel: Ringen um Unabhängigkeit

9. Kapitel: Politisches Wirken

10. Kapitel: Hildegards Naturheilkunde

11. Kapitel: Predigtreisen in Zeiten der Unruhe

12. Kapitel: Im Ringen um die Weltordnung

13. Kapitel: Die Vorbereitung des Vermächtnisses

14. Kapitel: Klare Worte an Kaiser Barbarossa

15. Kapitel: Die Heilung der besessenen Frau Sigewize

16. Kapitel: Letzte Predigtreise und Volmars Tod

17. Kapitel: Wibert von Gembloux

18. Kapitel: Das Interdikt

19. Kapitel: Tod einer Heiligen

Epilog: Die heilige Hildegard

Zeittafel: Übersicht der Stationen in Hildegards Leben

Literaturverzeichnis

I. Werke Hildegards von Bingen

II. Sekundärliteratur

III. Weiterführende Links

Impressum

Prolog
Die sanfte Macht der Hildegard von Bingen

Die Kaiserpfalz Ingelheim im Spätsommer 1155: ein Ort der Ruhe und des Rückzugs, auf einem Hang gelegen mit weiter Aussicht auf die Rheinebene.

Kaiser Friedrich I., von den Italienern wegen seines rotblonden Bartes Barbarossa genannt, war gerade aus Rom zurückgekehrt, wo er am 18. Juni 1155 in der Peterskirche zum Kaiser gekrönt worden war – trotz aller Hindernisse. Am Tag der Kaiserkrönung hatte es einen Aufstand gegeben. Papst Hadrian IV., dem er durch den Konstanzer Vertrag mit gegenseitigen Verpflichtungen und Zusagen verbunden war, hatte Feinde in Rom. Die von Arnold von Brescia angeführte Volksbewegung, die Roms Selbständigkeit zurückforderte, sah auch Barbarossa als Gegner des römischen Volkes. Hatte er doch schroff betont, er sei als Herrscher über das Heilige Römische Reich Deutscher Nation der rechtmäßige Besitzer von Rom.

Der Aufstand konnte durch die kaiserlichen Truppen abgewehrt werden. Arnold von Brescia wurde als Ketzer gehenkt, sein Leichnam verbrannt und die Asche in den Tiber gestreut, um einen Reliquienkult zu verhindern. Der Papst war zufrieden.

Als Friedrich Barbarossa aber noch im Süden gegen die Normannen ziehen sollte, kehrte er auf Bitten mehrerer Fürsten nach Deutschland zurück und ließ damit den Papst im Stich.

Wann hatte der Kaiser erfahren, dass Papst Hadrian IV. sich aus Zorn gegen ihn wandte und einen Vertrag mit Barbarossas Gegner, dem neuen Normannenkönig, schloss? Er, der sonst so Ausgeglichene, muss getobt haben.

War es diese Situation, in der er Hildegard von Bingen einlud, um ihren Rat zu hören? Einiges spricht dafür, andere Quellen vermuten den Besuch der Hildegard noch vor seiner Kaiserkrönung, im Jahr 1154.

Oder lud er sie nur ein, weil er nach ihrem freundlichen und gleichzeitig mahnenden Brief anlässlich seiner Königswahl neugierig war, mehr von ihr zu erfahren?

Kaiser Barbarossa war bekannt dafür, mit viel Diplomatie und Verhandlungsgeschick selbst härteste Gegner zu bezwingen. Er war gewohnt, dass andere sich seinem Willen beugten. Wie muss es ihm ergangen sein, als er, geschmückt mit den Insignien der Macht, im königlichen Saal der Pfalz auf Hildegard traf, gekleidet im einfachen schwarzen Wollkleid der Nonnen? Eine Frau mit großem Herzen, aber ebenso großer Wortgewandtheit und Durchsetzungsvermögen, die sein Weltbild zurechtrückte und ihn Jahre später mit scharfen Worten ermahnte, als es infolge seines Italienfeldzugs zu einer Kirchenspaltung kam.

Hildegard, zum Zeitpunkt des Treffens fast sechzig, vierundzwanzig Jahre älter als Friedrich, hat ihn tief beeindruckt. So schrieb er ihr nach dem Treffen einen Brief, in dem er versprach: »Aber trotzdem werden wir nicht aufhören, in allen Unternehmungen uns für die Ehre des Reiches abzumühen. ... Vielmehr haben wir uns vorgenommen, einzig im Blick auf die Gerechtigkeit gerecht zu urteilen.« Ein Eingeständnis, das für einen Kaiser ungewöhnlich war.

Es erging ihm wie vielen anderen. Hildegard von Bingen, die sich selbst gerne als ungebildet beschrieb, besaß eine ungewöhnliche Verstandesschärfe und gleichzeitig die Fähigkeit, die Herzen der Menschen zu erreichen.

Es waren diese Fähigkeiten, die ihren Einfluss in kirchlicher und weltlicher Politik nachhaltig vermehrten. Doch nicht jeder war darüber erbaut. Immer wieder gab es geistliche Würdenträger, denen Hildegards Macht ein Dorn im Auge war und die danach strebten, ihr das Leben zu erschweren ...

1. Kapitel
Hildegards Kindheit und Lehrjahre

Hildegard wird im Jahre 1098 geboren – in eine Zeit des Umbruchs, in der das Christentum gespalten ist und ein erbitterter Streit zwischen kirchlicher und weltlicher Macht um die Oberhoheit im Reich herrscht.

Sie ist das zehnte Kind der Adeligen Hildebert und Mechthild von Bermersheim. Der Gutshof der von Bermersheim liegt zwischen Weinbergen und ertragreich bewirtschafteten Feldern in der Nähe von Alzey im rheinfränkischen Land zwischen Rhein, Mosel und Maas.

Das Leben der Adeligen dieser Zeit ist angenehm. Auf dem elterlichen Herrenhof gibt es eine Amme, Mägde und Knechte, Stallburschen und Köche. Die Bauern, die das Land der von Bermersheim bewirtschaften, liefern von ihren Erträgen Abgaben an den Gutsherren. Getreide, Obst und Gemüse, Wolle, Flachs und Hanf, Wein und Bier, Honig, Fleisch und Fisch. Der Großfamilie geht es gut, sie ist mit äußeren Gütern reich gesegnet.

Hildegard wächst mit Kühen und Pferden auf und lernt wie ihre Geschwister reiten. Sie erlebt den Wechsel der Jahreszeiten, den beständigen Rhythmus der Natur, den festen Halt von Feiertagen und Ritualen, zu denen der sonntägliche Kirchgang gehört.

Außerhalb der »familia«, der Hausgemeinschaft, die auch die Bediensteten des Hofes mit einschließt, ist das Leben härter. Der warme Kamin im Winter, das regelmäßige Bad, ein fester Platz für den Abort ist ein nur wenigen zugänglicher Luxus. Mangelnde Hygiene und ständige Hungersnot sind Nährboden vieler Seuchen, die sich dort ausbreiten, wo Menschen zusammenleben. Typhus, Pocken, Cholera, Tuberkulose, Ruhr und andere Erkrankungen enden meist tödlich. Wer sie übersteht, stirbt vielleicht durch wilde Tiere, die in Wäldern, Buschland und Mooren lauern, durch Fehden oder infolge des Unwesens zahlloser Räuber.

Unheilbare Krankheiten sind an der Tagesordnung: Lähmungen, Blindheit, Epilepsie und vielerlei andere schwere Gebrechen. Besonders schlimm trifft es die Leprakranken, deren Körper unansehnlich verstümmelt sind. Es sind Aussätzige, denn diese Erkrankung ist ansteckend, man stirbt ganz langsam, nach qualvollen Jahren.

Die Menschen fühlen sich als Spielball des Schicksals, ausgeliefert einem strafenden Gott oder gar dem Teufel. Machtlos gegen Hunger, Kälte und Krankheit oder die unberechenbaren Stimmungen anderer Menschen. Der Kampf um die Existenz, manchmal auch nur um ein Stück Brot, beherrscht das Leben in den immer größer werdenden städtischen Siedlungen, wo die neue Freiheit abseits der Leibeigenschaft so manchen das Leben kostet.

Auch auf Gut Bermersheim bleibt die Schattenseite des Lebens nicht verborgen, aber sie dringt nicht bis zu den Bewohnern vor. Und so bleibt Hildegard der alltägliche Kampf ums nackte Überleben im behüteten Umfeld der gut versorgten Großfamilie fern.

Hildegards Kindheit hätte ein Paradies sein können. Aber sie ist anders. Von Geburt an ist sie schwach und kränkelnd, muss fast ständig mit Schmerzen leben. Während ihre Geschwister sich innerhalb des elterlichen Besitzes frei bewegen können, bekommt sie viele Dinge aufgrund der Krankheiten nicht mit. Und trotz der verlässlichen Rhythmen ihrer Umgebung lebt sie mit einer ständig zitternden Unruhe, vermisst das Gefühl der Sicherheit.

Hildegard ist ein sensibles, schüchternes Kind, mit ungewöhnlichen Fähigkeiten. Im Alter von drei Jahren sieht sie ein großes Licht, das ihre Seele tief bewegt. Kaum kann sie sprechen, erzählt sie mit Worten und Gesten die Bilder ihrer Visionen und versetzt damit die Umwelt in Erstaunen.

Anfangs noch empfindet sie die göttlichen Botschaften mit einem natürlichen Selbstverständnis, so sagt sie ganz unbedarft die Flecken eines noch ungeborenen Kalbes voraus. Bis sie bemerkt, dass ihr eine Gabe verliehen worden ist, die andere nicht haben. Als sie ihre Amme fragt, ob sie denn – abgesehen von äußeren Dingen – etwas sehe, verneint diese. Hildegard erschrickt, bekommt Angst vor ihrer Gabe. Die Visionen verwirren sie, grenzen sie von den anderen ab. Warum ausgerechnet sie? Warum sieht nur sie seltsame Dinge und hört die Stimme des göttlichen Lichts? Hildegard beschließt, ihre Visionen für sich zu behalten.

Zu dieser Zeit ist Deutschland zerstritten in der Machtfrage der irdischen und himmlischen Vorrechte.

Weltliche und kirchliche Belange sind eng miteinander verwoben, jede Seite beansprucht die Ausübung der Macht. Weder Papst Gregor VII. noch König Heinrich IV. wollen dem anderen Vorrechte einräumen.

Als der Papst für sich in Anspruch nimmt, Bischöfe, Könige und Kaiser bestimmen und absetzen zu dürfen, erklärt der König im Gegenzug den Papst für abgesetzt.

Es wird ein Gegenkönig gewählt, ebenso wie ein Gegenpapst, der den soeben abgewählten König in Rom zum Kaiser krönt. Die Zeiten sind unruhig. Selbst Adelige müssen vorsichtig sein, wem sie ihre Gunst öffentlich zugestehen. Jede Seite sieht sich im Recht, und um das göttliche Recht zu verteidigen, wird gemordet. Aber auf welcher Seite steht Gott?

Erst als sich der Sohn des Königs 1105 mit der Mehrheit der Fürsten gegen den Vater stellt, ihn nach erbittertem Krieg zur Abdankung zwingt und selbst den Thron besteigt, scheint der dreißig Jahre währende Kampf zwischen Kirche und weltlichem Herrscher beendet. Vorerst.

Hildegard, die mit wachem Geist und kindlicher Neugier am Leben auf dem Gutshof teilnimmt, kann sich den Gesprächen in ihrem Elternhaus, die sich um den Konflikt zwischen Kirche und Herrscher drehen, nicht entziehen. Noch versteht sie die Hintergründe der Diskussionen nicht. Später aber, als die Welt erneut in einen Streit um die Vorrechte versinkt, wird sie sich an die Unruhe erinnern, die immer wieder in das idyllische Leben der Bermersheimer eingebrochen ist.

Gegenüber der Burg Böckelheim, in der der abgesetzte König zeitweilig gefangen gehalten wird, liegt am nördlichen Nahe-Ufer Burg Sponheim, nur einen Tagesritt von Bermersheim entfernt. Dort lebt die hochadelige Familie von Sponheim, mit der Hildegards Familie freundschaftlich verbunden ist.

Graf von Sponheim war 1095 gestorben, Gräfin Sophia zieht zwei Söhne und eine Tochter alleine auf. Das Mädchen, Jutta, ist sechs Jahre älter als Hildegard und im Gegensatz zu dieser selbstbewusst und wortgewandt; traut sich, ihre Meinung vehement zu vertreten. Sie wächst in einer liebevollen Umgebung auf und wird von ihrer Mutter in die Heilige Schrift eingewiesen. Das Mädchen ist wissbegierig und saugt das Gelernte in sich auf, so dass sie bald vieles auswendig aufsagen kann.

Als Jutta zwölf Jahre alt ist, erkrankt sie so schwer, dass ihre Angehörigen das Schlimmste befürchten. Jutta ist jedoch noch nicht bereit zu sterben, sie kämpft um ihr Leben und betet zu Gott. Wenn sie wieder gesund wird, gelobt sie, dann wird sie als Gegenleistung ihr Leben dem Herrn weihen.

Die Genesung erscheint wie ein Wunder. Als Jutta aber ihr Gelöbnis erfüllen will, ist die Familie dagegen. Ihre Zukunft ist anders geplant: Jutta stammt aus einer hochangesehenen Familie und ist für ihre Klugheit und Schönheit bekannt. Es gibt vielversprechende Heiratskandidaten, einige haben Jutta bereits einen Antrag gemacht.

Jutta weigert sich jedoch. Nein, sie will nicht heiraten, sie möchte sich zu einem religiösen, enthaltsamen Leben verpflichten, so wie sie es in ihrer Krankheit gelobt hat.

Jutta setzt sich durch, wie schon so oft. Gegen den Willen der Familie reist sie als Dreizehnjährige nach Mainz und lässt sich von Erzbischof Ruthard zur Jungfrau weihen.

Die Verwandtschaft, von Jutta vor vollendete Tatsachen gestellt, muss diesen Schritt akzeptieren. Eine Weihe kann man nicht rückgängig machen. Das Mädchen hat ihr Leben unwiderruflich Gott dargebracht.

Jutta ist zielstrebig. Sie entscheidet sich für eine religiöse Ausbildung außerhalb einengender Klostermauern und wird schließlich von der frommen Witwe Uda von Göllheim, einer nahen Verwandten, auf Burg Sponheim unterrichtet. Das Mädchen verbringt die Tage und Nächte mit Fasten, Nachtwachen und Beten, ist ständig für Gott, den Herrn, da.

Der Wunsch nach einer Wallfahrt entsteht. Jutta möchte die Orte sehen, die Christus, der Heiland, zu Lebzeiten geprägt hat. Vor gut einem halben Jahrhundert hatte Bischof Gunther von Bamberg eine Jerusalem-Wallfahrt mit fast 12 000 Pilgern unternommen, noch immer wird darüber gesprochen.

Auch der Pilgerweg zur Heiligen Stadt Rom ist reizvoll, mit seiner unerschöpflichen Strahlkraft. In Rom, so heißt es, kann man sein Seelenheil finden oder es sich zumindest für das Lebensende sichern. Andere Pilger suchen ihr Heil im Weg nach Santiago de Compostela, am Ende der Welt, der Finis Terra, das durch das Apostelgrab des Jakobus, einem der engsten Jünger Jesu und Patron aller Pilger, geheiligt ist. Was kann aufregender sein, als sich ihnen anzuschließen!

Die Familie ist entsetzt. Das Pilgern ist gefährlich. Vor vierzig Jahren starb Graf Siegfried von Sponheim auf der Rückreise vom Heiligen Land, seine Frau nur wenige Jahre später auf einer Wallfahrt nach Santiago.

Aber Uda von Göllheim hat Jutta gut im Auge, kommt jedem ihrer Versuche, auszureißen, zuvor.

Hildegard ist fasziniert von Jutta, die so anders ist als sie selbst. Sie möchte es ihr gleichtun, ebenso mutig und selbstsicher werden und drängt die Eltern zu einer religiösen Lerngemeinschaft mit ihr.

Die Eltern stimmen zu, wenn auch schweren Herzens. Hatten sie doch schon früh daran gedacht, Hildegard als zehntes Kind Gott zu weihen, so war eine religiöse Lerngemeinschaft ein erster Schritt in diese Richtung. Mit Sicherheit aber dachten sie an das Wohl ihrer sensiblen, wegen ihrer Visionen ängstlichen und unsicheren Tochter, als sie Hildegard 1106, mit acht Jahren, zu der klugen und selbstbewussten Jutta nach Burg Sponheim gehen lassen.

Dort, wo das Nahetal schmaler wird und die Ufer steiler ansteigen, liegt Burg Sponheim hoch über dem Fluss. Von hier hat man einen weiten Blick über das Tal, bei klarer Sicht kann man fast bis zum Rhein sehen.

Hier verbringt Hildegard sechs Jahre der spirituellen Erziehung, lernt zusammen mit Jutta von Sponheim und einer anderen, gleichaltrigen Jutta lesen und schreiben, zunächst unter Aufsicht der frommen Witwe, Juttas religiöser Mentorin. Auch Jutta von Sponheim kennt das Empfangen von Visionen und nimmt Hildegard in ihrer Sensibilität ernst.

Disibodenberg, im Mai 1108. An der Stelle, wo Glan und Nahe zusammenfließen, errichtete einst der irische Wandermönch Disibod, überwältigt von der Schönheit der Naturlandschaften, eine Mönchsansiedlung. Zu Beginn des 12. Jahrhunderts sind dort nur noch Ruinen. Das aber soll sich bald ändern.

Der Mainzer Erzbischof Ruthard, der wenige Jahre zuvor Jutta zur Jungfrau weihte, schickt zwölf Mönche aus dem Mainzer Kloster St. Jakob zum Disibodenberg, um auf den Ruinen eines mehrfach zerstörten Kanonikerstifts eine Benediktinerabtei zu errichten. Bereits im Juni wird der Grundstein für die neue Klosterkirche gelegt.

Noch während der Bau beginnt, stirbt Sophia von Sponheim. Jetzt, wo sie nichts mehr zu Hause hält, beschließt Jutta, ihren noch immer brennenden Wunsch, zu pilgern, in die Tat umzusetzen.

Gutes Zureden ist sinnlos, erst als ihr Bruder Meinhard sich an Bischof Otto von Bamberg wendet, der sich zu dieser Zeit im Rheingau befindet, lenkt Jutta ein. Der Bischof rät ihr zu einem Leben hinter Klostermauern, erzählt von dem Kloster ganz in der Nähe, auf dem Berg des heiligen Disibod, das sich im Aufbau befindet.

Hildegard lauscht den neuen Plänen mit leiser Furcht. Auch Hildebert und Mechthild von Bermersheim sind von der Aussicht angetan, ihre Tochter in die Obhut eines Klosters zu geben. Hildegard möchte ihrer Freundin Jutta gerne folgen, doch will sie wirklich so weit weg von ihrer »familia«? Dem Verbund aus Eltern und Geschwistern und all den Menschen, die der Hausgemeinschaft des Bermersheimer Hofes angehören? Aber als Kind hat sie nicht selbst zu entscheiden. Sie ist die zehnte Tochter, die Gott dargebracht werden soll, und so beugt sie sich den Plänen ihrer Eltern.

Später, als erwachsene Frau, wird sie in ihren Schriften immer wieder betonen, dass eine Jungfrau sich aus freien Stücken für ein monastisches Leben entscheiden soll. Nicht die Eltern sollen das unmündige Kind zu dieser Lebensform bestimmen, sondern die eigene Entscheidung aus leidenschaftlicher Liebe zu Christus.

»Si infantem tuum mihi offers, ... et tamen sine voluntate ipsius eum offers ... non recte fecisti.« – Wenn du mir ein Kind ohne seine Zustimmung bringst, hast du nicht richtig gehandelt.

Der Standort aber erscheint wie ein Geschenk. Zu dieser Zeit gibt es in der Umgebung kaum Frauenklöster. Das entstehende Benediktinerkloster liegt nicht einmal eine Tagesreise entfernt, es fehlt nur noch eine Frauenklause, die Juttas und Hildegards Familien zu stiften bereit sind.

Jutta lässt sich von der allgemeinen Vorfreude zunächst kaum mitreißen. Die Aussicht, derart in ihrer Freiheit beschnitten zu werden, gefällt ihr nicht, sieht ihr Bruder doch das Kloster als »sichere Verwahrung« der umtriebigen Schwester. Auch Hildegard fällt es schwer, nicht voller Sorge an den nahenden Abschied von der Familie und der ihr vertrauten Welt zu denken. Schließlich aber siegt in beiden Mädchen der Wunsch nach religiöser Verwirklichung.

Klausnerinnen genießen zu dieser Zeit großes Ansehen. Die Aussicht, gemeinsam ihrer religiösen Berufung nachzugehen und Gott in einer Klause zu dienen, erscheint immer verlockender. Es ist ein Leben, das viele anstreben, doch nur wenigen möglich ist. Nicht zuletzt, weil nur wenige Klöster es sich leisten können, arme Personen in die klösterliche Gemeinschaft aufzunehmen.

So sichert auch eine hohe Mitgift der Familien von Bermersheim und von Sponheim das künftige klösterliche Leben der beiden Mädchen. Dementsprechend geht das Dorf Nunkirche inklusive aller Hörigen, die dort leben, aus dem Familienbesitz der von Sponheims an das Benediktinerkloster über.

Die Zukunft von Hildegard und Jutta ist beschlossen. Bis zur Fertigstellung der Frauenklause bleiben die Mädchen auf Burg Sponheim, mit Jutta als religiöser Lehrmeisterin. Vorklösterlich, aber in Zielrichtung auf ein gottgeweihtes Leben.

Mit Spannung verfolgen sie die Entwicklung auf dem nahen Disibodenberg. Die Aussicht, Klausnerin zu werden, hat sich tief in ihnen eingegraben, bestimmt ihr ganzes Denken. Und hier ist der richtige Ort dafür. Hier, ganz in der Nähe ihrer Heimat, auf einer sanft bewaldeten Bergkuppe, fast vollständig umschlungen von Flüssen, entsteht das Ziel ihrer Sehnsucht. An einem Platz, der schon früher, zur Zeit des heiligen Disibod, eine ganz besondere Ausstrahlung gehabt hat.

Immer wieder reiten sie hoch zu Pferde zur Baustelle und beobachten den Fortschritt des Klosterbaus. Es entstehen mehrere Gebäude. Die Abteikirche, die in ihrer Breite dem Mainzer Dom gleichkommt, der Kreuzgang, der Kapitelsaal, die Bibliothek mit dem Skriptorium, die Schlafsäle und der Baderaum, die Küche und der Speisesaal. Am Schluss die Frauenklause.

Am 1. November 1112, dem Allerheiligentag, ist es soweit: Hildegard und Jutta werden Klausnerinnen. Auch die andere Jutta aus der religiösen Lerngemeinschaft ist dabei.

Die Nacht zuvor verbringen sie gemeinsam mit ihren Eltern als Gäste des sich teilweise noch in Bau befindlichen Klosters. Für die Familie erscheint es wie ein Abschied für immer. Viele Jahre hat Hildegard sich auf diesen Moment vorbereitet, und doch ist es etwas anderes, wenn er bevorsteht.

In der Abteikirche legen die jungen Frauen vor Abt Burchard das Gelübde klösterlichen Lebens ab. Viele Menschen sind gekommen, Adelige wie auch Persönlichkeiten mittleren Ranges. Hildegards Vater Hildebert spricht in der feierlichen Messe die Formel zur Übergabe seiner Tochter an Gott und überlässt sie dann im Namen des dreifältigen Gottes ihrer Meisterin Jutta.

In einer gemeinsamen Prozession ziehen die drei Frauen in ihre Klause ein, geleitet von brennenden Fackeln. Die Frauen sind nun Inklusen, Eingeschlossene im übertragenen Sinne. In Abkehr vom weltlichen Leben.

Lange Zeit nahm man an, dass die jungen Frauen tatsächlich eingemauert wurden und nur durch ein kleines Fenster mit der Außenwelt Kontakt hatten. Meist wurden diese Klausen an den Chorbereich der Kirche angebaut, damit die Eingemauerten dem Gottesdienst und Chorgebet folgen konnten. Inzwischen gilt aber als gesichert, dass Hildegards Vergangenheit als Klausnerin für ihre Biografen nur Mittel zum Zweck war. Hildegard sollte heiliggesprochen werden. Die Beschreibung der Einmauerung in Hildegards Vita erfolgte zu einer Zeit, als sich das Frauenbild in der Kirche wandelte und strengste Klausur verlangt wurde, lange nach Hildegards Tod. Aus Juttas Vita, die rund vierzig Jahre vorher geschrieben wurde, gibt es keinerlei Hinweise auf eine Einmauerung, ebenso wenig von den archäologischen Studien der Klosterruinen, die keinen dafür typischen Kirchenanbau erkennen ließen. Schon aus baulichen Gründen war dieses auch nicht möglich, da die Klosterkirche zu diesem Zeitpunkt noch nicht fertiggestellt war.

Dagegen wird auch heute noch ein Platz südlich der Kirche als Ort der ehemaligen Klause verehrt. Ebenfalls im Gespräch ist die eigenwillige zweischiffige Kapelle im Bereich des ehemaligen Kanonikerstifts, deren nördliches Seitenschiff einen kleinen Raum bildet, der durch ein eigenes Portal von der Nordseite aus zugänglich ist.

So ist die Umschreibung »est inclusa« nicht zwangsläufig als die »Einmauerung in eine kleine Zelle« zu verstehen, sondern als die Aufnahme in einen geschützten klösterlichen Raum.

Sicher ist, dass Juttas Ruf als angesehene, kluge Frau die Gemeinschaft der Frauen anwachsen ließ. Aus der Klause wurde ein traditioneller Nonnenkonvent, aus dem Kloster Disibodenberg ein Doppelkloster.

Hildegard ist zum Zeitpunkt des Einzugs vierzehn, Jutta von Sponheim zwanzig Jahre alt. Nur wenige Monate später legen sie vor Bischof Otto von Bamberg das monastische Gelübde ab und erhalten von ihm den geweihten Schleier. Es ist für Hildegard der Beginn einer langen Zeit völliger Abgeschiedenheit, einer Zeit des Lernens und der Innenschau.

Jahre später, als Hildegard ihre Visionen als Gottesgeschenk wahrnimmt und sich der Verantwortung der Auserwähltheit bewusst ist, wird aus dem schüchternen, ängstlichen Mädchen eine starke, charismatische Frau.

2. Kapitel
Kloster Disibodenberg

Der Aufstieg zum Kloster ist steil, doch wer den Berg auf halber Höhe erklommen hat, wird von der grünen Natur und der Weite des Blicks gefangen genommen. Von dort aus kann man über die beiden Flusstäler blicken, die den Berg umgeben, bis hin zu den gegenüberliegenden Höhen. Das letzte Stück führt durch die bewaldete Kuppe, durch dicht stehende Bäume zum Kloster. Hier oben herrscht Ruhe, es ist ein Ort der völligen Abgeschiedenheit. Hildegard liebt die herrliche Umgebung des Disibodenbergs, erlebt sie als eine Offenbarung Gottes.

An manchen Tagen wird die Stille zerrissen vom Hämmern und Klopfen und den barschen Rufen der Zimmerleute und Steinmetze. Das Kloster Disibodenberg ist noch nicht fertig. Einige Gebäude der großzügigen Klosteranlage sind noch im Entstehen, auch an der Abteikirche wird noch gebaut.

Die Bewohner der Anlage lassen sich in ihrem Alltag von der immer wieder einbrechenden Unruhe nicht stören. Ihr Leben ist der Stille gewidmet, dem religiösen Rückzug im Dienst an Gott.

Für Hildegard beginnt ein Leben nach festen Ritualen. Gemäß dem heiligen Benedikt von Nursia, Begründer des europäischen Mönchtums, der im 6. Jahrhundert erstmals für Mönche verbindliche Regeln aufstellte, ist der Tag in feste Abschnitte eingeteilt. Die Zeit wird mit Sonnenuhren oder Wasseruhren gemessen, ein Gongschlag kündigt die Abschnitte an.

Der Tag beginnt früh, gegen zwei Uhr morgens. Noch im Dunkeln der Nacht findet die Morgenfeier statt, bei Tagesanbruch singen die Mönche und Nonnen Lobgesänge. Dann ist Zeit bis sechs Uhr früh. Ab da folgen alle drei Stunden die kleinen Horen, Stundengebete mit einem Vers, drei Psalmen, Lesung, Gesang und Schlussgebet.

Am frühen Abend dann die länger dauernde Vesper und schließlich das Komplet, der Gesang des Nachtgebetes zwischen sechs und acht. Danach herrscht Schweigepflicht.

Geschlafen wird im Dormitorium, auf kargem Strohlager und grober Decke, die Nonnen, von den Mönchen getrennt, in der engen Klause. Es bleibt nicht viel Zeit zum Schlafen, nur etwas länger als die halbe Nacht. Auch für die Mittagsruhe, die innerhalb eines festen Rahmens erlaubt wird, ist nicht viel Raum, und daher gibt es immer wieder Mönche und Nonnen, die sich auch tagsüber nicht gegen den Schlaf wehren können, beim Chorgesang, bei der Handarbeit oder im Skriptorium.

Ora, lege et labora – bete, lese und arbeite, lautet das Gebot, und so wird zwischen den Gebeten und Mahlzeiten gearbeitet oder in den Schriften der Klosterbibliothek gelesen, denn Müßiggang ist der Feind der Seele.

Im Kloster gibt es einen Kräutergarten, der bearbeitet werden muss, ebenso wie die landwirtschaftlichen Flächen, die der Selbstversorgung dienen. Manche Mönche sind handwerklich oder künstlerisch begabt, stellen liturgische Geräte her oder schmücken kostbare Schriftstücke mit Miniaturen. Andere wieder kümmern sich um die Krankenpflege, die Armenfürsorge oder um die Aufnahme von Gästen – Pilgern und Reisenden. Gasthäuser gibt es zu diesem Zeitpunkt nur wenige.

Wichtig ist auch die Arbeit im Skriptorium, der Schreibstube, in der bedeutende Werke mühevoll abgeschrieben oder neue selbst verfasst werden. Hier entstehen auch die Klosterannalen, welche die wichtigsten Ereignisse des Klosters festhalten. Zunächst als Konzept auf Wachstafeln mithilfe eines Metallgriffels, mit dessen abgeflachtem Ende man die Schrift später wieder löschen kann, später in Reinschrift auf Pergament, in schönen kalligrafischen Buchstaben, mit einer Gänsefederspitze sorgfältig gemalt. Schreiben gilt als tugendhaftes Werk, das Sünden abgleichen und himmlischen Lohn verschaffen kann, darum ist diese Arbeit im Kloster beliebt.

Die Mönche erhalten eine fundierte Ausbildung. Aus der Klosterbibliothek erfahren sie das gesamte Wissen dieser Zeit: Hier gibt es Lehrbücher über die sieben freien Künste: Grammatik, Rhetorik, Dialektik, Arithmetik, Astronomie, Geometrie und Musik. Und natürlich die Bibel und liturgische Schriften für den Gottesdienst. Ebenso theologische Werke und Heiligenviten, Klosterregeln, wissenschaftliche Traktate und Enzyklopädien. Dazu noch Werke antiker Autoren. Die Nonnen sind von der Ausbildung ausgenommen, denn Frauen steht in dieser Zeit keine offizielle theologische Ausbildung zu. Dennoch erhalten sie Gelegenheit, die Schriften aus der Klosterbibliothek zu studieren.

Hildegard bezeichnet sich später immer wieder selbst als »ungelehrt«. Beteuert, nur das Singen von Psalmen gelernt zu haben, aber weder das Benutzen von Wort und Schrift noch die Unterweisung in die Musik. Ein Umstand, der inzwischen widerlegt worden ist.

Klöster waren damals Zentren der Bildung und Erziehung. Es ist ihnen zu verdanken, dass ein großer Teil der klassisch-antiken Bildung erhalten ist. Die Forschung sieht es als erwiesen an, dass auch Hildegard der Zugang zur umfangreichen Bibliothek nicht verschlossen war. Das Leben im Kloster ist karg. Nach den benediktinischen Regeln ist persönlicher Besitz verboten. Jeder erhält eine Unterlage aus Reisig oder Stroh, ein Betttuch, eine Decke und ein Kopfkissen sowie die schwarze Klosterkleidung und ein Paar Schuhe.

Hildegard wohnt mit Jutta und der dritten Frau eng zusammen, die Frauenklause umfasst anfangs nur einen Raum. Das Vollbad ist nur zu Weihnachten und Ostern erlaubt, an den übrigen Tagen werden Waschungen vorgenommen, einschließlich der Füße.

Die ärmlichen Mahlzeiten werden zugeteilt. Es gibt eine Hauptmahlzeit mit zwei gekochten Speisen aus Fisch, Getreide oder Hülsenfrüchten und – wenn vorhanden – Obst und Gemüse als Beilage. Fleisch ist nur zu besonderen Anlässen erlaubt oder bei schwerer Krankheit. Im Sommer gibt es abends noch einen kalten Imbiss, meistens Brot. Häufig müssen die Frauen den Tag über fasten, erst abends ist Essen gestattet.

Beim Essen herrscht Schweigen. Man lauscht einem für eine Woche bestimmten Lektor, der aus der heiligen Schrift liest. Schweigen ist wichtig, das Hören macht wach und sensibel in der Wahrnehmung. Nur der, der schweigt, kann seinen Geist füllen und offen sein für das Wort Gottes.

Hildegard passt sich dem Alltag an. Anfangs scheu und zurückhaltend, nimmt sie das strenge Reglement noch als gegeben hin.

Jutta von Sponheim, die erste Magistra des Kloster Disibodenberg, erweist sich als gute Lehrmeisterin. Ihre aufgeschlossene, selbstbewusste Art prägt Hildegard, die ihre engste Vertraute ist.

Mit großem Selbstverständnis beschränkt Jutta ihr Wirken nicht nur auf die religiöse Ausbildung ihrer Mitschwestern. Bald öffnet sie sich nach außen und nimmt regen Kontakt mit den Mönchen wie auch den Menschen außerhalb des Klosters auf.

Hildegard, die alles, was um sie herum geschieht, mit großem Interesse verfolgt, erlebt, wie das Ansehen ihrer Lehrmeisterin stetig wächst.

Die Mönche und der Abt schätzen die Gespräche mit Jutta und sind auch ihren Ermahnungen gegenüber aufgeschlossen. Immer mehr Menschen kommen zum Kloster, um ihren Rat zu hören, welchen Standes auch immer. Adelige, Nichtadelige, Reiche und Arme, Pilger und Gäste. Ihre Ratschläge sind hoch geachtet, man bewundert und verehrt die Magistra, bis weit über das Rheintal hinaus.

Innerhalb der Klostermauern erweist Jutta sich als ähnlich zielstrebig, wie schon zuvor gegenüber ihrer Familie. Als der Abt stirbt und die Mönche mit einstimmigem Beschluss die Wahl des Nachfolgers bis zur Rückkehr des Erzbischofs verschieben, betet sie Tag und Nacht, bis vor ihrem geistigen Auge ein göttliches Bild erscheint, in dem zunächst Folkard (1128 –1136) und nach ihm der von ihr hoch geschätzte Kuno (1136 –1155) dem Kloster vorstehen. Niemand wagt ihrer Prophezeiung zu widersprechen. Zumal Kritik an Jutta schaden könnte. Ein Mönch, der sich schlecht über sie äußerte, kann plötzlich drei Tage lang nicht mehr sprechen. Erst als sie um seine Genesung betet, erholt er sich. Ein Zeichen Gottes? Kaum einer wagt, es anzuzweifeln. Das Risiko ist zu groß, sich gegen die selbstbewusste Magistra aufzulehnen.

Während Jutta sich in ihrem Wirken auch weltlichen Belangen öffnet, lebt Hildegard weiter in religiöser Abgeschiedenheit. Immer wieder erfährt sie Visionen, die sie nach wie vor beunruhigen und traurig machen. Ängstlich darauf bedacht, den Menschen dadurch nicht fremd zu werden, versucht sie, diese Visionen zu verbergen. Aber auf dem engen Raum ist es nicht möglich. Zumal sich Hildegard während der Schau sichtbar verändert: Sobald die Visionen kommen, wird sie wie ein Kind, redet über Dinge, die fremd klingen. Die anderen Schwestern meiden sie, wenden sich irritiert ab. Hildegard schämt sich. Lieber würde sie schweigen, aber es ist ihr nicht möglich. Kommen die Visionen über sie, ist sie machtlos, sie muss reden, kann die Worte, die durch ihren Mund dringen, nicht aufhalten, obwohl sie bei vollem Bewusstsein ist. Es ist wie früher, als sie noch ein Kind war und sich von den Geschwistern isoliert fühlte! Nichts hat sich geändert, seit sie in den heiligen Mauern lebt. Sie bieten keinen Schutz vor ihr selbst, vor der Erfahrung des Ausgegrenztseins. Warum nur – warum nur sie? Wer kann ihre Tränen trocknen, wenn nicht Gott?

Jutta, die Hildegard bereits früh in ihr Geheimnis eingeweiht hatte, beschließt, einen ihr vertrauten Mönch zu Rate zu ziehen: Volmar ist sehr einfühlsam und kann Hildegard die schwere Bürde nicht abnehmen, ihr aber durch sein Verständnis das Gefühl geben, mit dem Kummer nicht alleine gelassen zu werden. Mit großem Interesse verfolgt er ihre Entwicklung, steht ihr mit Rat und Tat zur Seite. Jahre später, als Hildegard beginnt, ihre Visionen aufzuschreiben, ist er ihr engster Freund und Berater.

Hildegard fühlt sich aufgefangen, verstanden von der klugen Jutta und dem sensiblen Volmar. Aber da ist noch etwas, das Grund zur Beunruhigung gibt: Jutta hat sich zu einer extrem strenggläubigen Frau entwickelt, die die benediktinischen Regeln und den langen Pflichtenkatalog sehr ernst nimmt – zu ernst.

Zu dieser Zeit macht ein junger Abt von sich reden: Bernhard vom Kloster Clairvaux, ein Mann mit starkem Heilseifer. Seinen Mönchen predigt er ein engelsgleiches Leben als Ideal. Engel essen und schlafen nicht, sie schauen Gott. Und daher versucht Bernhard von Clairvaux mit seiner Askese und seinen mystischen Erhebungen eben jenen Wesen gleichzukommen und kasteit sich und seine Mönche mit Fasten und nächtlichen Offizien.