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JAMES BOND

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007

MOONRAKER

von

IAN FLEMING

Ins Deutsche übertragen
von Stephanie Pannen und Anika Klüver

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Titel der Originalausgabe: JAMES BOND – MOONRAKER

German translation copyright © 2012, by Amigo Grafik GbR.

Copyright © Ian Fleming Publications Limited 1955
The moral rights of the author have been asserted.
Die Persönlichkeitsrechte des Autors wurden gewahrt.

JAMES BOND and 007 are registered trademarks of Danjaq LLC, used under license by Ian Fleming Publications Limited. All Rights Reseved.

Print ISBN 978-3-86425-0743 (September 2012)
E-Book ISBN 978-3-86425-075-0 (September 2012)

WWW.CROSS-CULT.DE · WWW.IANFLEMING.COM

INHALT

TEIL EINS MONTAG

1. Geheimer Papierkram

2. Der Kolumbit-König

3. Gezinkte Karten und so weiter

4. Der Spiegel

5. Abendessen im Blades

6. Kartenspiel mit einem Fremden

7. Die Schnelligkeit der Hand

TEIL ZWEI DIENSTAG, MITTWOCH

8. Das rote Telefon

9. Ab hier übernehmen Sie

10. Der Agent der Spezialabteilung

11. Polizistin Brand

12. Projekt Moonraker

13. Tödliche Berechnungen

14. Juckende Finger

15. Harte Gerechtigkeit

16. Ein goldener Tag

17. Wilde Vermutungen

TEIL DREI DONNERSTAG, FREITAG

18. Unter dem flachen Stein

19. Vermisste Person

20. Drax’ Gambit

21. »Der Überreder«

22. Die Büchse der Pandora

23. Zero Minus

24. Zero

25. Zero Plus

TEIL EINS

MONTAG

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1

GEHEIMER PAPIERKRAM

Die beiden Achtunddreißiger dröhnten gleichzeitig.

Der Lärm hallte zwischen den Wänden des unterirdischen Raums hin und her, bis wieder Schweigen herrschte. James Bond sah zu, wie der Rauch aus jeder Ecke des Raums zum zentralen Ventaxia-Ventilator gesaugt wurde. Die Erinnerung in seiner rechten Hand, wie er in einer flüssigen Handbewegung von links gezogen und abgedrückt hatte, machte ihn zuversichtlich. Er klappte die Trommel des Colt Detective Special seitlich heraus und richtete die Mündung seiner Waffe auf den Boden. Dann wartete er, während der Ausbilder im Halbdunkel die zwanzig Meter des Schießübungsstands auf ihn zuging.

Bond sah, dass der Ausbilder grinste. »Ich kann es kaum glauben«, sagte er. »Aber dieses Mal habe ich Sie erwischt.«

Der Ausbilder schloss zu ihm auf. »Ich liege jetzt vielleicht im Krankenhaus, aber Sie, Sir, sind tot.« In einer Hand hielt er den Pappumriss eines männlichen Oberkörpers, in der anderen ein Polaroid in Postkartengröße. Er reichte es Bond, und sie drehten sich zu einem Tisch hinter ihnen um, auf dem sich eine grüne Bankerlampe und eine große Lupe befanden.

Bond nahm die Lupe und beugte sich über das Bild. Es war eine Hochgeschwindigkeitsaufnahme von ihm. Um seine rechte Hand herum war ein Ausbruch weißer Flammen zu sehen. Er richtete die Lupe sorgfältig auf die linke Seite seines dunklen Jacketts. Über seinem Herzen war ein winziger Lichtfleck zu erkennen.

Wortlos legte der Ausbilder die große weiße Zielscheibe in Form eines menschlichen Körpers unter die Lampe. Ihr Herz war ein etwa acht Zentimeter breites Fadenkreuz. Direkt darunter und etwa zwei Zentimeter weiter rechts befand sich das Einschussloch von Bonds Kugel.

»Durch die linke Magenwand und im Rücken ausgetreten«, kommentierte der Ausbilder zufrieden. Er zückte einen Stift und schrieb etwas neben das Ziel. »Zwanzig Schuss, und wenn ich richtig rechne, schulden Sie mir sechsundsiebzig, Sir«, sagte er ungerührt.

Bond lachte. Er zählte Kleingeld ab. »Am Montag verdoppeln wir den Einsatz«, versprach er.

»Mir soll’s recht sein«, erwiderte der Ausbilder. »Aber Sie können die Maschine nicht schlagen, Sir. Und wenn Sie ins Team wollen, um die Dewar-Trophäe zu gewinnen, sollten wir die Achtunddreißiger mal ruhen lassen und uns der Remington zuwenden. Diese neue Zweiundzwanziger-Patrone, die sie gerade herausgebracht haben, bringt mindestens siebentausendneunhundert von möglichen achttausend Punkten zum Sieg. Ein Großteil Ihrer Kugeln muss im X-Ring landen, und der ist schon direkt unter Ihrer Nase nur so groß wie ein Schilling. Auf hundert Meter Entfernung ist er so gut wie nicht vorhanden.«

»Zur Hölle mit der Dewar-Trophäe«, sagte Bond. »Ich bin einzig und allein hinter Ihrem Geld her.« Er schüttelte die nicht abgefeuerten Kugeln aus der Trommel seiner Waffe in seine hohle Hand. Dann legte er sie mitsamt der Kanone auf den Tisch. »Dann also bis Montag. Gleiche Zeit?«

»Zehn Uhr passt gut, Sir«, erwiderte der Ausbilder, und drückte die beiden Griffe der Eisentür herunter. Er lächelte Bond hinterher, während der Agent die steilen Betonstufen zum Erdgeschoss hinaufstieg. Er war mit Bonds Ergebnissen zufrieden, aber er hätte ihm niemals direkt gesagt, dass er der beste Schütze des Secret Service war. Das durfte nur M wissen, und sein Stabschef, den man damit beauftragen würde, die Ergebnisse des heutigen Trainings in Bonds vertrauliche Akte einzutragen.

Bond marschierte durch die mit grünem Filz bezogene Tür am oberen Treppenabsatz und ging zum Aufzug, der ihn in den achten Stock des hohen grauen Gebäudes am Regent’s Park brachte, in dem sich das Hauptquartier des Secret Service befand. Er war mit seinem Ergebnis zufrieden, aber nicht stolz darauf. Sein Abzugsfinger zuckte in seiner Hosentasche, während er überlegte, wie er um diesen letzten Sekundenbruchteil schneller werden konnte, der fehlte, um die Maschine zu schlagen. Diese komplizierte Trickkiste, die das Ziel für nur drei Sekunden hochhielt, feuerte mit einer leeren .38 zurück, schoss dabei einen stecknadelkopfgroßen Lichtstrahl auf ihn und machte ein Foto, während er auf der Kreidemarkierung am Boden stand.

Seufzend öffneten sich die Fahrstuhltüren, und Bond stieg ein. Der Aufzugführer konnte das Kordit an ihm riechen. Sie rochen immer so, wenn sie vom Schießstand kamen. Der Geruch gefiel ihm, da er ihn an die Armee erinnerte. Er drückte den Knopf für den achten Stock und legte den Stumpf seines linken Arms auf den Steuerhebel.

Wenn es nur heller wäre, dachte Bond. Doch M bestand darauf, dass die Schießübungen unter durchschnittlich schlechten Bedingungen stattfanden. Eine trübe Lampe und ein Ziel, das zurückschoss, waren so nah an einer echten Situation, wie es nur möglich war. »Einen Pappkameraden zusammenzuschießen, beweist gar nichts«, lautete seine knappe Einführung in das Handbuch zur Verteidigung gegen Handfeuerwaffen.

Der Aufzug hielt an, und Bond trat auf den düsteren grünen Flur und damit in die geschäftige Welt aktentragender Sekretärinnen, sich öffnender und schließender Türen und gedämpft klingelnder Telefone hinaus. Er verbannte sämtliche Gedanken an seine Übungsstunde aus seinem Kopf und bereitete sich auf die Routine eines normalen Arbeitstags im Hauptquartier vor.

Er lief den Flur bis zur letzten Tür auf der rechten Seite entlang. Sie war unbeschriftet, genau wie die anderen, an denen er vorbeigegangen war. Keine Nummern. Wenn man etwas im achten Stock zu erledigen hatte, sich das eigene Büro aber in einer anderen Etage befand, wurde man abgeholt und zu dem Raum gebracht, zu dem man musste. Und danach wurde man zum Aufzug zurückbegleitet.

Bond klopfte und wartete. Er warf einen Blick auf seine Uhr. Elf Uhr. Montage waren die Hölle. Ein voller Terminkalender und jede Menge Akten, die es durchzusehen galt. Und an den Wochenenden war er meistens im Ausland beschäftigt. Man brach in leere Wohnungen ein. Fotografierte Personen in kompromittierenden Situationen. »Unfälle« im Straßenverkehr sahen inmitten des typischen Wochenendchaos ebenfalls weniger verdächtig aus und wurden oberflächlicher untersucht. Die wöchentlichen Berichte aus Washington, Istanbul und Tokio kamen herein und wurden sortiert. Vielleicht befand sich auch etwas für ihn darunter.

Die Tür wurde geöffnet, und er erfreute sich wie jeden Morgen an seiner schönen Sekretärin. »Guten Morgen, Lil«, grüßte er.

Das warmherzige Lächeln, das sie zu seiner Begrüßung aufgelegt hatte, erstarb.

»Geben Sie mir Ihren Mantel«, sagte sie streng. »Er stinkt nach Kordit. Und nennen Sie mich nicht Lil. Sie wissen, dass ich das hasse.«

Bond legte seinen Mantel ab und reichte ihn ihr. »Wenn man Loelia Ponsonby heißt, sollte man sich besser an einen Spitznamen gewöhnen.«

Er stand neben ihrem Schreibtisch in dem kleinen Vorraum. Irgendwie war es ihr gelungen, ihn gemütlicher und weniger wie ein Büro aussehen zu lassen. Er beobachtete, wie sie seinen Mantel in der Nähe des offenen Fensters aufhängte.

Sie war hochgewachsen, dunkelhaarig und hatte eine zurückhaltende Schönheit, der der Krieg und fünf Jahre beim Secret Service einen Hauch von Strenge verliehen hatten. Zum hundertsten Mal dachte Bond, dass sie wegen ihrer kühlen, autoritären Art in naher Zukunft dem Heer alter Jungfern beitreten würde, die mit ihrer Karriere verheiratet waren, wenn sie nicht bald einen Ehemann oder Liebhaber fand.

Bond hatte ihr das auch schon oft gesagt und mit zwei anderen Kollegen der Doppelnullabteilung entschiedene Angriffe auf ihre Tugend getätigt. Doch sie hatte alle mit der gleichen kühlen Mütterlichkeit (die die Männer, um ihre Egos zu pflegen, unter sich als Frigidität bezeichneten) abgetan. Am nächsten Tag bedachte Miss Ponsonby sie jedoch stets mit kleinen Aufmerksamkeiten und Zuwendungen, um ihnen das Gefühl zu geben, dass es eigentlich ihre Schuld gewesen war und sie ihnen verziehen hatte.

Dabei hatten sie keine Ahnung, dass sie sich jedes Mal, wenn sie in einem gefährlichen Auftrag unterwegs waren, schrecklich um sie sorgte und dass sie sie alle gleich liebte. Doch sie hatte nicht vor, sich emotional auf einen Mann einzulassen, der nächste Woche tot sein konnte. Und es stimmte, dass eine Anstellung beim Secret Service einer Art Leibeigenschaft gleichkam. Als Frau blieb nicht mehr viel von einem für andere Beziehungen übrig. Für die Männer war es einfacher. Sie hatten die perfekte Ausrede für flüchtige Affären. Wenn sie im Außendienst arbeiteten, standen Ehe, Kinder und ein Zuhause außer Frage. Aber als Frau wurde man durch eine Affäre außerhalb des Service automatisch zu einem »Sicherheitsrisiko«, und letztendlich hatte man nur die Wahl, zu kündigen und ein normales Leben zu führen, oder zu akzeptieren, dass man mit Krone und Vaterland verheiratet war.

Loelia Ponsonby wusste, dass der Moment der Entscheidung näher rückte, und all ihre Instinkte rieten ihr, sich aus dem Staub zu machen. Doch das tägliche Drama dieser romantisch-abenteuerlichen Welt, in der sie sich wie eine Art Florence Nightingale fühlen konnte, verband sie immer fester mit der Gesellschaft der andere Frauen im Hauptquartier, und jeden Tag erschien es ihr schwieriger, die Vaterfigur, zu der der Secret Service für sie geworden war, durch eine Kündigung zu verraten.

Außerdem war sie eine der am meisten beneideten Frauen im Gebäude und gehörte der kleinen Gruppe leitender Sekretärinnen an, die Zugang zum Allerheiligsten hatten. Hinter ihrem Rücken nannten die anderen Mädchen sie die »Perlenketten-und-Twinset«-Fraktion, um auf ihre vermeintlich bessere Herkunft anzuspielen. Soweit es die Personalabteilung betraf, war sie dazu bestimmt, in spätestens zwanzig Jahren auf der Neujahrsehrenliste zu stehen, zwischen Beamten der Fischereibehörde, der Post und des Fraueninstituts, denen der Orden des Britischen Königreiches verliehen wurde: »Miss Loelia Ponsonby, Leitende Sekretärin des Verteidigungsministeriums.«

Sie wandte sich vom Fenster ab. Sie trug eine pink-weiß gestreifte Bluse und einen schlichten dunkelblauen Rock.

Bond lächelte in ihre grauen Augen. »Ich nenne Sie doch nur montags Lil«, sagte er. »Und den Rest der Woche Miss Ponsonby. Aber ich werde Sie niemals Loelia nennen. Das klingt einfach zu sehr nach einem unanständigen Limerick. Haben Sie Nachrichten für mich?«

»Nein«, erwiderte sie kurz angebunden. Dann gab sie nach: »Aber auf Ihrem Schreibtisch liegt stapelweise Zeug. Nichts Dringendes. Aber davon eine Menge. Oh, und die Gerüchteküche besagt, dass 008 rausgekommen ist. Er befindet sich momentan in Berlin und erholt sich. Ist das nicht wunderbar?«

Bond drehte sich zu ihr um. »Wann haben Sie das gehört?«

»Vor etwa einer halben Stunde«, antwortete sie.

Bond öffnete die innere Tür zum großen Büro mit den drei Schreibtischen, und schloss sie hinter sich. Er stellte sich ans Fenster und sah auf das späte Frühlingsgrün der Bäume im Regent’s Park hinaus. Also hatte Bill es doch geschafft. Peenemünde und zurück. Der Teil mit dem Ausruhen in Berlin klang weniger gut. Musste ganz schön zugerichtet sein, der Arme. Aber Bond würde auf weitere Neuigkeiten aus dem einzigen Informationsleck des Gebäudes warten müssen, gegen das das Sicherheitspersonal nichts ausrichten konnte – die Damentoilette.

Bond seufzte. Er setzte sich an seinen Schreibtisch und zog den Stapel brauner Aktenmappen zu sich herüber, auf denen der rote Stern prangte, der »streng geheim« bedeutete. Und was war mit 0011? Vor zwei Monaten war er in einem Amüsierviertel in Singapur verschwunden. Seitdem hatte man nichts mehr von ihm gehört. Während er, Bond, Nummer 007 und Dienstältester der drei Männer, die sich die Doppelnull verdient hatten, an seinem komfortablen Schreibtisch saß, Papierkram erledigte und mit ihrer Sekretärin flirtete.

Er zuckte mit den Schultern und schlug entschlossen die oberste Aktenmappe auf. Darin befand sich eine detaillierte Karte von Südpolen und dem nordöstlichen Deutschland. Das Besondere daran war eine gewundene rote Linie, die Warschau mit Berlin verband. Dahinter steckte ein langes, mit Schreibmaschine geschriebenes Memorandum mit der Überschrift: Die Hauptstrecke: Eine etablierte Fluchtroute von Ost nach West.

Bond zog sein schwarzes Zigarettenetui und sein Ronson-Feuerzeug heraus und legte sie neben sich auf den Schreibtisch. Er zündete sich eine seiner Zigaretten mit den drei goldenen Ringen an, die die Firma Morlands in der Grosvenor Street extra für ihn herstellte. Dann machte er es sich auf dem gepolsterten Drehsessel bequem und begann zu lesen.

Es war der Anfang eines typischen Arbeitstages für Bond. Es kam nur zwei, drei Mal im Jahr vor, dass ein Auftrag nach seinen besonderen Fähigkeiten verlangte. Den Rest des Jahres hatte er die Pflichten eines gelassenen Beamten im höheren Dienst zu erfüllen. Flexible Arbeitszeiten von ungefähr zehn bis achtzehn Uhr; eine Mittagspause, die er meistens in der hauseigenen Kantine verbrachte; abends spielte er Karten, manchmal mit ein paar engen Freunden zu Hause, manchmal im Casino. Oder er schlief auf recht leidenschaftslose Art mit einer von drei willigen verheirateten Frauen. Am Wochenende war er oft in einem der Golfclubs um London herum zu finden, wo er um hohe Einsätze spielte.

Er nahm sich nie frei, bekam aber normalerweise nach jedem Auftrag zwei Wochen Sonderurlaub – zusätzlich zu jeder Genesungszeit, die möglicherweise notwendig war. Er verdiente jährlich tausendfünfhundert Pfund, das Gehalt eines leitenden Angestellten im öffentlichen Dienst, und erhielt zudem tausend Pfund im Jahr steuerfrei zur eigenen Verfügung. Während eines Auftrags konnte er so viel ausgeben, wie er wollte, also kam er die übrigen Monate des Jahres mit seinen verbleibenden zweitausend Pfund Nettoverdienst gut aus.

Er besaß eine kleine, aber gemütliche Wohnung an der King’s Road, eine betagte schottische Haushälterin – ein Goldstück namens May – und ein 1930er 4½-Liter Bentley Coupé Cabriolet, das er stets gut in Schuss hielt und das bis zu hundertsechzig Stundenkilometer erreichte, wenn Bond wollte.

Für diese Dinge gab er all sein Geld aus, denn er hatte vor, möglichst wenig auf seinem Konto zu haben, wenn er getötet wurde. Was, wie er in depressiven Momenten zu wissen glaubte, noch vor seinem fünfundvierzigsten Geburtstag der Fall sein würde.

Er hatte noch acht Jahre vor sich, bevor er automatisch von der Liste der Doppelnullagenten genommen wurde und einen reinen Schreibtischjob im Hauptquartier bekam. Was mindestens noch acht schwierige Aufträge bedeutete. Wahrscheinlich eher sechzehn. Im Extremfall vierundzwanzig. Zu viele.

Als Bond damit fertig war, sich die Einzelheiten der »Hauptstrecke« einzuprägen, lagen im großen Glasaschenbecher fünf Zigarettenstummel. Mit einem roten Stift in der Hand ging er die Verteilerliste auf dem Umschlag durch. Die Liste begann mit »M«, dann folgte »SC«, dann folgte ein Dutzend weiterer Buchstaben und Zahlen und dann am Ende »00«. Dort setzte er ein akkurates Häkchen, schrieb die Zahl 7 dazu und warf die Aktenmappe in die Ablage für Ausgänge.

Es war zwölf Uhr. Bond nahm die nächste Aktenmappe vom Stapel und schlug sie auf. Sie stammte von der Funkaufklärungsabteilung der NATO, war mit »Zur Kenntnisnahme« gekennzeichnet und mit »Funksignaturen« betitelt.

Bond zog den Rest des Stapels zu sich und warf einen Blick auf die jeweils ersten Seiten. Die Überschriften lauteten folgendermaßen:

Das Inspektoskop – Ein Gerät zum Aufspüren von Schmuggelware.

Philopon – Eine japanische Morddroge.

Mögliche Verstecke in Zügen. Nr. II. Deutschland.

Die Methoden von SMERSCH. Nr. 6. Entführung.

Route fünf nach Peking.

Wladiwostok. Eine fotografische Luftaufklärung durch einen US-Thunderjet.

Bond war von der seltsamen Mischung, die man ihm vorgesetzt hatte, nicht weiter überrascht. Die Doppelnullabteilung des Secret Service beschäftigte sich nicht mit den aktuellen Operationen der anderen Sektionen und Abteilungen, sondern nur mit Hintergrundinformationen, die sich für die einzigen drei Männer im Service, zu deren Aufgaben das Töten gehörte, als nützlich oder lehrreich erweisen mochten. An diesen Akten war nichts Dringliches. Von ihm und seinen beiden Kollegen wurde nichts anderes erwartet, als die Laufzettel zu unterschreiben, was 008 und 0011 zweifellos tun würden, wenn sie das nächste Mal im Hauptquartier waren. Wenn die Doppelnullabteilung damit fertig war, würden sie an ihrem endgültigen Bestimmungsort, nämlich im Archiv, landen.

Bond wandte seine Aufmerksamkeit wieder der NATO-Akte zu.

»Die fast unvermeidliche Art und Weise«, las er, »auf die Individualität durch winzige Verhaltensmuster enthüllt werden kann, wird von der ‚Handschrift‘ jedes Funkers demonstriert. Diese ‚Handschrift‘, oder individuelle Art, Botschaften zu morsen, ist unverwechselbar und von geübten Empfängern genau zuzuordnen. Sie lässt sich außerdem durch sehr sensible Mechanismen messen. Zur Erläuterung: 1943 nutzte die Funkaufklärung der Vereinigten Staaten diese Tatsache zu ihrem Vorteil, um eine feindliche Station in Chile aufzuspüren, die von ‚Pedro‘, einem jungen Deutschen, bedient wurde. Als die chilenische Polizei die Station umstellte, konnte ‚Pedro‘ entkommen. Ein Jahr später machten Experten einen neuen illegalen Sender ausfindig und waren in der Lage, ‚Pedro‘ als Betreiber zu identifizieren. Um seine ‚Handschrift‘ zu verbergen, funkte er mit der linken Hand, doch die Tarnung war nicht effektiv, und er wurde festgenommen.

Die Funkaufklärung der NATO hat vor Kurzem mit einer Art ‚Verzerrer‘ experimentiert, der an das Handgelenk des Funkers angebracht werden kann und im Minutentakt die Nervenzentren beeinflusst, die die Muskeln der Hand kontrollieren. Allerdings …«

Auf Bonds Schreibtisch standen drei Telefone. Ein schwarzes für Anrufe von außen, ein grünes Bürotelefon und ein rotes, das nur mit M und seinem Stabschef verbunden war. Es war der vertraute Summton des roten, der die Stille im Raum unterbrach.

Es war Ms Stabschef.

»Können Sie hochkommen?«, fragte die angenehme Stimme.

»M?«, erwiderte Bond.

»Ja.«

»Geben Sie mir einen Hinweis?«

»Er hat lediglich gesagt, dass er Sie gerne sehen würde, wenn Sie im Haus wären.«

»Also gut«, antwortete Bond und legte auf.

Er schnappte sich seinen Mantel, sagte seiner Sekretärin, dass er zu M gehen würde und sie nicht auf ihn warten solle, verließ sein Büro und ging den Flur entlang zum Aufzug.

Während er wartete, dachte er an die anderen Male, als das rote Telefon während eines ereignislosen Tages plötzlich die Stille durchbrochen und ihn aus der einen Welt in eine andere versetzt hatte. Er zuckte mit den Schultern – Montag! Er hätte Ärger erwarten sollen.

Der Aufzug kam. »Neunter Stock«, sagte Bond und trat ein.

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2

DER KOLUMBIT-KÖNIG

Das neunte war das oberste Stockwerk des Gebäudes. Ein Großteil davon wurde von der Kommunikationsabteilung eingenommen, dem handverlesenen Team aus Funkern, die sich allein für elektromagnetische Wellen, Sonnenflecken und die Heaviside-Schicht interessierten. Über ihnen auf dem Flachdach befanden sich die drei gedrungenen Masten der leistungsstärksten Transmitter in ganz England. Benannt wurden sie auf der großen bronzenen Informationstafel in der Eingangshalle mit den Worten »Radio Tests Ltd.«. Die anderen Abteilungen waren als »Universal Export Co.«, »Delaney Bros. (1940) Ltd.«, »The Omnium Corporation« und »Auskunft (Miss E. Twining, OBE)« ausgewiesen.

Miss Twining war echt. Vierzig Jahre zuvor war sie eine Loelia Ponsonby gewesen. Nun war sie im Ruhestand und verbrachte ihre Tage damit, in einem kleinen Büro im Erdgeschoss Anzeigenblättchen zu zerreißen, die Steuern ihrer geisterhaften Mieter zu bezahlen, und auf höfliche Weise Geschäftsmänner und andere Leute abzuwimmeln, die etwas exportieren oder ihre Radios reparieren lassen wollten.

Im neunten Stock war es immer sehr ruhig. Während Bond aus dem Fahrstuhl stieg und nach links durch den mit weichem Teppichboden ausgelegten Flur zu der mit grünem Filz bezogenen Tür ging, die zu den Büros von M und seinem persönlichen Stab führte, war das einzige Geräusch, das er hörte, ein hohes Fiepen, das so leise war, dass man es leicht überhören konnte.

Ohne anzuklopfen, öffnete er die grüne Tür und betrat das vorletzte Zimmer auf dem Gang.

Miss Moneypenny, Ms Privatsekretärin, sah von ihrer Schreibmaschine zu ihm auf und lächelte ihn an. Sie mochten einander, und sie wusste, dass Bond sie attraktiv fand. Sie trug das gleiche Blusenmodell wie seine Sekretärin, jedoch mit blauen Streifen.

»Neue Uniform, Penny?«, fragte Bond.

Sie lachte. »Loelia und ich haben die gleiche Schneiderin«, antwortete sie. »Wir haben eine Münze geworfen, und ich habe Blau bekommen.«

Durch die offene Tür des angrenzenden Zimmers drang ein Schnauben. Der Stabschef, der ungefähr in Bonds Alter war, kam mit einem sarkastischen Grinsen auf seinem blassen, überarbeiteten Gesicht heraus.

»Schluss mit dem Geplänkel«, sagte er. »M wartet bereits. Sollen wir hinterher mittagessen gehen?«

»Gerne«, erwiderte Bond. Er drehte sich zur Tür neben Miss Moneypenny, ging hindurch und schloss sie hinter sich. Darüber sprang ein grünes Licht an. Miss Moneypenny sah den Stabschef fragend an. Er schüttelte den Kopf.

»Ich glaube nicht, dass es was Geschäftliches ist, Penny«, erklärte er. »Er hat einfach so nach ihm geschickt.« Er kehrte in sein eigenes Büro zurück und machte sich wieder an die Arbeit.

Als Bond durch die Tür kam, saß M an seinem breiten Schreibtisch und zündete sich eine Pfeife an. Mit dem brennenden Streichholz machte er eine unbestimmte Geste in Richtung des Stuhls, der auf der anderen Seite des Schreibtisches stand, und Bond setzte sich. M warf ihm durch den Rauch einen scharfen Blick zu und warf dann die Streichholzschachtel auf das rote Leder vor sich.

»Einen angenehmen Urlaub gehabt?«, fragte er abrupt.

»Ja, vielen Dank, Sir«, antwortete Bond.

»Wie ich sehe, sind Sie immer noch sonnenverbrannt.« M sah ihn missbilligend an. Eigentlich missgönnte er Bond diesen Urlaub, der teilweise der Genesung gedient hatte, nicht wirklich. Der Hauch von Kritik stammte von dem Puritaner und dem Jesuiten, die in allen Anführern steckten.

»Ja, Sir«, sagte Bond unverbindlich. »Am Äquator ist es sehr heiß.«

»Ziemlich«, entgegnete M. »Wohlverdiente Erholung.« Er verdrehte humorlos die Augen. »Ich hoffe, die Farbe wird nicht mehr allzu lange anhalten. In England sind sonnenverbrannte Männer immer verdächtig. Entweder sind sie arbeitslos oder sie haben sich unter eine Höhensonne gelegt.« Er tat das Thema mit einem kurzen seitlichen Schwenk seiner Pfeife ab.

Dann steckte er sie sich wieder in den Mund und zog gedankenverloren daran. Sie war ausgegangen. Er griff nach den Streichhölzern und verschwendete einige Zeit damit, die Pfeife wieder anzuzünden.

»Sieht so aus, als würden wir das Gold doch noch bekommen«, sagte er schließlich. »Es ist zwar die Rede vom Internationalen Gerichtshof, aber Ashenheim ist ein hervorragender Anwalt.«1

»Gut«, erwiderte Bond.

Einen Moment lang herrschte Schweigen. M starrte in die Kammer seiner Pfeife. Durch das offene Fenster drang das entfernte Dröhnen des Londoner Verkehrs herein. Eine Taube landete flügelschlagend auf einer der Fensterbänke und flog gleich wieder weiter.

Bond bemühte sich, in dem wettergegerbten Gesicht, das er so gut kannte und dem ein so großer Teil seiner Loyalität galt, zu lesen. Aber die grauen Augen waren ruhig und die kleine Ader, die immer an Ms rechter Schläfe pulsierte, wenn er angespannt war, zeigte kein Lebenszeichen.

Plötzlich vermutete Bond, dass M verlegen war. Er hatte das Gefühl, dass M nicht so recht wusste, wie er anfangen sollte. Bond wollte ihm behilflich sein. Er verlagerte sich auf seinem Stuhl und nahm seinen Blick von M. Er sah auf seine Hände hinunter und zupfte an einem Fingernagel herum.

M löste seinen Blick von seiner Pfeife und räusperte sich.

»Sind Sie gerade an etwas Bestimmtem dran, James?«, fragte er in neutralem Ton.

James. Das war ungewöhnlich. Es kam nur selten vor, dass M in diesem Raum Vornamen verwendete.

»Nur Papierkram und die üblichen Kurse«, antwortete Bond. »Haben Sie etwas für mich?«

»Das habe ich tatsächlich«, sagte M. Er runzelte die Stirn. »Aber es hat rein gar nichts mit dem Service zu tun. Eine Art persönliche Angelegenheit. Ich dachte, dass Sie mir vielleicht dabei helfen könnten.«

»Aber natürlich, Sir«, erwiderte Bond. Er war erleichtert, dass M das Eis gebrochen hatte. Wahrscheinlich hatte sich ein Verwandter des alten Knaben in Schwierigkeiten gebracht, und M wollte Scotland Yard nicht um einen Gefallen bitten. Erpressung vielleicht. Oder Drogen. Er war erfreut, dass M ihn ausgewählt hatte. Natürlich würde er sich darum kümmern. M war in Bezug auf Regierungseigentum und -mitarbeiter so schrecklich pedantisch. Bond für eine persönliche Angelegenheit einzusetzen, musste ihm vorkommen, als ob er die Regierung bestahl.

»Ich dachte mir, dass Sie das sagen würden«, knurrte M. »Wird nicht viel Ihrer Zeit beanspruchen. Ein Abend sollte ausreichen.« Er machte eine Pause. »Haben Sie schon mal von Sir Hugo Drax gehört?«

»Natürlich, Sir«, erwiderte Bond, der erstaunt war, diesen Namen zu hören. »Man kann heutzutage keine Zeitung mehr aufschlagen, ohne etwas über ihn zu lesen. Der Sunday Express berichtet über sein Leben. Bemerkenswerte Geschichte.«

»Ich weiß«, sagte M kurz angebunden. »Geben Sie mir einfach die Fakten, wie Sie sie sehen. Ich würde gerne wissen, ob sich Ihre Version mit meiner deckt.«

Bond sah einen Augenblick lang aus dem Fenster, um seine Gedanken zu ordnen. M mochte kein Geplapper. Er schätzte detaillierte Berichte ohne Ähs und Öhms. Keine Nachsätze, kein Abschweifen.

»Nun, Sir«, begann Bond schließlich. »Zum einen ist der Mann ein Nationalheld. Die Öffentlichkeit liebt ihn. Ich nehme an, dass er in der gleichen Liga wie Jack Hobbs oder Gordon Richards spielt. Die Leute betrachten ihn als einen der ihren, aber in einer verherrlichten Version. Eine Art Übermensch. Optisch macht er nicht viel her, mit all den Narben seiner Kriegsverletzungen, und er ist ein wenig großmäulig und eingebildet. Aber den Leuten gefällt das. Macht ihn zu einer Art Lonsdale-Figur, aber eine aus ihrer eigenen Mitte. Sie mögen es, dass ihn seine Freunde ‚Hugger‘ Drax nennen. Das verleiht ihm etwas Verwegenes, auf das die Frauen stehen. Und wenn man nur daran denkt, was er für das Vaterland tut, aus eigener Tasche und weit über das hinaus, wozu die Regierung fähig zu sein scheint, ist es wirklich außergewöhnlich, dass man ihn noch nicht zum Premierminister gemacht hat.«

Bond sah, wie die kalten Augen noch etwas eisiger wurden, aber er war entschlossen, sich seine Bewunderung für Drax’ Leistungen von dem alten Knaben nicht verderben zu lassen. »Schließlich«, fuhr er fort, »sieht es so aus, als ob er dieses Land auf Jahre hinaus vor einem Krieg geschützt hat. Und er kann nicht viel älter als vierzig sein. Ich sehe ihn wie die meisten. Und dann ist da noch das Geheimnis um seine wahre Identität. Ich bin nicht weiter überrascht, dass ihn die Öffentlichkeit bedauert, auch wenn er ein Multimillionär ist. Er scheint trotz seines aufregenden Lebens einsam zu sein.«

M lächelte lakonisch. »Das alles klingt eher nach einer Vorschau für den Express-Artikel. Er ist auf jeden Fall ein außergewöhnlicher Mann. Aber wie sieht Ihre Version der Fakten aus? Ich nehme nicht an, dass ich mehr weiß als Sie. Wahrscheinlich sogar weniger. Ich lese nicht sehr aufmerksam Zeitung, und es gibt keine Akten über ihn außer im Kriegsministerium, und die sind nicht sehr erhellend. Also, wie lautet die Kernaussage des Express-Artikels?«

»Tut mir leid, Sir«, sagte Bond. »Aber die Fakten sind recht dünn.« Er sah erneut aus dem Fenster und konzentrierte sich. »Während des deutschen Vorstoßes in den Ardennen im Winter ’44, setzten die Deutschen eine Menge Partisanen und Saboteure ein. Sie gaben ihnen den ziemlich unheimlichen Namen Werwölfe. Sie richteten enorm viel Schaden an und waren sehr gut in Tarnung und allen möglichen Tricks. Einige von ihnen agierten, noch lange nachdem wir die Ardennen eingenommen und den Rhein überquert hatten. Sie sollten weitermachen, selbst nachdem wir das Land überrannt hatten. Aber als die Lage richtig ernst wurde, haben sie sich aus dem Staub gemacht.

Einer ihrer größten Coups bestand darin, das Hauptquartier einer amerikanisch-britischen Liaison in die Luft zu sprengen. Ich glaube, man nannte sie Verstärkungseinheiten. Es war eine Mischung aus allen möglichen alliierten Mitarbeitern – amerikanische Befehlsstäbe, britische Ambulanzfahrer – eine sich unaufhörlich verändernde Gruppe aus allen möglichen Einheiten. Den Werwölfen gelang es irgendwie, das Kasino zu verminen, und als es hochging, wurde ein ziemlich großer Teil des Feldlazaretts ebenfalls zerstört. Über einhundert Menschen wurden getötet oder verwundet. Muss die Hölle gewesen sein, die Überlebenden da herauszufischen. Einer von ihnen war Drax. Die Explosion hatte ihm sein halbes Gesicht weggesprengt. Er litt unter totaler Amnesie, die ein Jahr lang andauerte, und am Ende dieser Zeit hatte niemand, nicht einmal er selbst eine Ahnung, wer er war. Es gab etwa fünfundzwanzig unbekannte Leichen, die weder wir noch die Amerikaner identifizieren konnten. Entweder war nicht genug übrig, oder es handelte sich um Soldaten auf dem Weg nach Hause oder um Mitarbeiter ohne Autorisierung. So lief das in diesen Einheiten. Natürlich gab es zwei befehlshabende Offiziere, aber alles wurde sehr nachlässig gehandhabt. Auch die Aufzeichnungen. Nach einem Jahr in verschiedenen Krankenhäusern gingen sie mit Drax die Vermisstenliste des Kriegsministeriums durch. Als sie zu dem Namen eines gewissen Hugo Drax kamen, einer Waise ohne lebende Verwandte, die vor dem Krieg im Liverpooler Hafen gearbeitet hatte, zeigte er ein gewisses Interesse. Das Foto und die körperliche Beschreibung schienen mehr oder weniger damit übereinzustimmen, wie unser Mann vor der Explosion ausgesehen haben musste. Von diesem Zeitpunkt an war er auf dem Weg der Besserung. Er begann, ein wenig über einfache Dinge zu sprechen, an die er sich erinnerte, und die Ärzte waren sehr stolz auf ihn. Das Kriegsministerium fand einen Mann, der in der gleichen Pioniereinheit wie dieser Hugo Drax gedient hatte. Er kam ins Krankenhaus und beteuerte, dass es sich um Drax handele. Das gab den entscheidenden Ausschlag. Nachdem sich auf Zeitungsinserate kein anderer Hugo Drax meldete, wurde er 1945 mit diesem Namen entlassen und bekam eine Soldnachzahlung sowie eine volle Invalidenrente.«

»Aber er behauptet immer noch, dass er nicht weiß, wer er ist«, unterbrach ihn M. »Er ist Mitglied im Blades. Ich habe oft mit ihm Karten gespielt und mich danach beim Abendessen mit ihm unterhalten. Er sagt, dass er im Club manchmal ein starkes Gefühl von Déjà-vu hat. Außerdem fährt er häufig nach Liverpool, um etwas über seine Vergangenheit herauszufinden. Was sonst noch?«

Während Bond nachdachte, kehrte sich sein Blick nach innen. »Nach dem Krieg scheint er drei Jahre lang untergetaucht zu sein«, sagte er. »Dann hörte man in London von überall auf der Welt Geschichten über ihn. Der Metallmarkt war als Erstes dran. Wie es scheint, hatte er sich das Monopol auf ein sehr wertvolles Erz namens Kolumbit gesichert. Und jeder wollte das Zeug. Es hat einen außergewöhnlich hohen Schmelzpunkt. Ohne es sind Triebwerke nicht denkbar. Es gibt davon nur sehr wenig auf der Welt, und jedes Jahr werden lediglich ein paar Tausend Tonnen davon produziert, hauptsächlich als Nebenprodukt der nigerianischen Zinnminen. Drax muss das Jet-Zeitalter im Auge gehabt und seine Hauptknappheit erkannt haben. Irgendwie muss er an etwa zehntausend Pfund gekommen sein, denn im Express stand, dass er 1946 drei Tonnen Kolumbit aufgekauft hat, die ihn etwa gut dreitausend die Tonne gekostet haben. Durch den Wiederverkauf an einen amerikanischen Flugzeughersteller, der es schnell brauchte, machte er fünftausend Pfund Gewinn. Dann begann er, Termingeschäfte des Zeugs anzukaufen, sechs Monate, neun Monate, ein Jahr im Voraus. In drei Jahren beherrschte er so praktisch den Markt. Jeder, der Kolumbit wollte, ging dafür zu Drax Metals. Und die ganze Zeit über spielte er mit weiteren Termingeschäften anderer kleiner Rohstoffe – Schellack, Sisal, schwarzer Pfeffer –, alles, womit sich eine hohe Gewinnspanne erzielen ließ. Natürlich spekulierte er auf einen wachsenden Rohstoffmarkt, aber er hatte den Mumm, weiter Gas zu geben, als das Tempo immer schneller wurde. Und immer, wenn er Gewinn machte, investierte er das Geld direkt wieder neu. Zum Beispiel war er einer der Ersten, die ausgelaugte Erzhalden in Südafrika aufkauften. Nun werden sie wegen ihres Urangehalts neu erschlossen. Ein weiteres Vermögen.«

Ms ruhiger Blick lag auf Bond. Er zog an seiner Pfeife und lauschte.

»Natürlich fragte sich ganz London, was zur Hölle da los war«, fuhr Bond fort, der sich vollständig in seiner Geschichte verloren hatte. »Die Rohstoffmakler stolperten immer wieder über den Namen Drax. Was immer sie wollten, Drax hatte es und bot es zu einem viel höheren Preis an, als sie hatten zahlen wollen. Er operierte von Tanger aus – zollfreier Hafen, keine Steuern, keine Währungsbeschränkungen. 1950 war er bereits Multimillionär. Dann kam er nach England zurück und fing an, sein Geld auszugeben. Er warf damit praktisch um sich. Die teuersten Häuser, Autos und Frauen. Logen in der Oper und beim Goodwood Festival of Speed. Eine Herde preisgekrönter Jersey-Rinder. Preisgekrönte Nelken. Preisgekrönte Rennpferde. Zwei Jachten, Geld für das Walker-Cup-Team, hunderttausend Pfund für die Opfer von Flutkatastrophen, der Krönungsball der Krankenschwestern in der Albert Hall – es verging keine Woche, in der er nicht mit der einen oder anderen Sache für Schlagzeilen sorgte. Und die ganze Zeit über wurde er reicher, und die Leute liebten es. Es hatte etwas von Tausendundeiner Nacht. Es versüßte ihr Leben. Wenn ein verwundeter Offizier aus Liverpool das schaffen konnte, warum dann nicht sie selbst oder ihre Söhne? Es klang fast so einfach, wie im Lotto zu gewinnen.

Und dann kam sein erstaunlicher Brief an die Königin: ‚Eure Majestät, wenn ich mir die Kühnheit erlauben darf …‘ und der typische Einfallsreichtum der Express-Schlagzeile am nächsten Tag: DER KÜHNE MR DRAX, und alle Einzelheiten darüber, dass er England seine gesamten Kolumbit-Anteile geschenkt hat, um eine Atomrakete mit einer Reichweite zu bauen, die jede andere Hauptstadt in Europa einschließen würde. Das war die sofortige Antwort auf jeden, der London mit Atombomben drohte. Zehn Millionen Pfund wollte er aus eigener Tasche dazugeben sowie die Entwürfe des Dings und das Personal, um es zu bauen.

Und dann gab es monatelange Verzögerungen und alle wurden ungeduldig. Nachfragen im Parlament. Die Opposition stellte fast die Vertrauensfrage. Und dann verkündete der Premierminister, dass die Entwürfe von den Experten des Versorgungsministeriums genehmigt worden waren und dass die Königin das Geschenk im Namen des englischen Volkes erfreut annehmen und den Spender in den Ritterstand erheben würde.«

Bond machte eine Pause. Er hatte sich von der Geschichte dieses außergewöhnlichen Mannes ein wenig mitreißen lassen.

»Ja«, sagte M schlicht. »‚Frieden in unserer Zeit – Endlich.‘ Ich erinnere mich an die Schlagzeile. Das war vor fast einem Jahr. Und nun ist die Rakete beinahe fertig. Der ‚Moonraker‘. Und soweit man weiß, soll sie wirklich können, was er sagt. Es ist in der Tat sehr seltsam.« Wieder verfiel er in Schweigen und starrte aus dem Fenster.

Dann drehte er sich wieder zu Bond auf der anderen Seite seines Schreibtischs um.

»Im Großen und Ganzen war es das«, sagte er langsam. »Ich weiß auch nicht viel mehr als Sie. Eine wunderbare Geschichte. Ein außergewöhnlicher Mann.« Er dachte nach. »Da ist nur eine Sache …« M tippte mit dem Mundstück der Pfeife gegen seine Zähne.

»Was denn, Sir?«, fragte Bond.

M schien eine Entscheidung getroffen zu haben. Er sah zu Bond herüber.

»Sir Hugo Drax betrügt beim Kartenspielen.«

1 Das bezieht sich auf Bonds vorherigen Auftrag, der in Leben und sterben lassen vom gleichen Autor beschrieben wird.

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3

GEZINKTE KARTEN UND SO WEITER

»Er betrügt beim Kartenspielen?«

M runzelte die Stirn. »Genau das habe ich gesagt«, kommentierte er trocken. »Kommt es Ihnen nicht seltsam vor, dass ein Multimillionär beim Kartenspielen betrügt?«

Bond grinste entschuldigend. »Eigentlich nicht, Sir«, erwiderte er. »Ich habe schon erlebt, dass sich sehr reiche Leute bei Patience selbst beschummeln. Aber es passt nicht zu meinem Bild von Drax. Ein wenig enttäuschend.«

»Genau das ist der Punkt«, sagte M. »Warum tut er das? Und vergessen Sie nicht, dass Betrügen beim Kartenspielen einen Mann immer noch zerstören kann. In der sogenannten besseren Gesellschaft ist es so ungefähr das einzige Verbrechen, das in der Lage ist, jemanden ungeachtet seiner Stellung zu ruinieren. Drax macht es so gut, dass ihn bis jetzt noch niemand erwischt hat. Tatsächlich bezweifle ich, dass ihn schon irgendjemand außer Basildon, dem Präsidenten des Clubs, verdächtigt. Er hat irgendwie mitbekommen, dass ich beim Geheimdienst arbeite, und ich habe ihm schon ein, zwei Mal aus der Patsche geholfen. Er hat mich um meinen Rat gebeten, da er im Club natürlich kein Aufheben darum machen will. Aber vor allem will er Drax davor schützen, sich zum Narren zu machen. Er bewundert ihn genauso wie wir alle und er hat Angst vor einem Skandal. So etwas könnte man nicht einfach unter den Tisch kehren. Unter den Clubmitgliedern befinden sich eine Menge Abgeordnete. Und die Klatschblätter würden ebenfalls schnell Wind von der Sache bekommen. Drax müsste den Club verlassen, und als Nächstes würde einer seiner Freunde, der ihm zu Hilfe eilen will, eine Beleidigungsklage einreichen. Und schon hätten wir einen zweiten Tranby-Croft-Skandal. Zumindest befürchtet Basildon das, und ich muss sagen, dass ich es ähnlich sehe. Jedenfalls«, erklärte M mit Bestimmtheit, »habe ich eingewilligt, ihm zu helfen. Und da kommen Sie ins Spiel. Sie sind der beste Kartenspieler des Secret Service, und ich erinnere mich, dass wir Ihnen für viel Geld einen Kurs über Falschspiel spendiert haben, bevor Sie vor dem Krieg nach Monte Carlo gegangen sind, um diese Rumänen zu erwischen.«

Bond lächelte grimmig. »Steffi Esposito«, sagte er leise. »So hieß er. Ein Amerikaner. Hat mich eine Woche lang zehn Stunden am Tag üben lassen, wie man falsch mischt und ausgibt. Ich habe damals einen langen Bericht darüber geschrieben. Muss irgendwo im Archiv sein. Er kannte jeden Trick. Wie man die Asse einwachst, damit der Stapel an ihnen verrutscht, oder die hohen Karten durch unauffälliges Einritzen mit einem Rasiermesser markiert. Dann gibt es noch mechanische Vorrichtungen, die man im Ärmel trägt und die einem Karten zugeben. Außerdem kann man ein ganzes Kartenspiel an beiden Seiten um einen Millimeter kürzen, bis auf die Karten, an denen man interessiert ist – zum Beispiel die Asse. An diesen lässt man eine kleine Ausbuchtung stehen. Oder unauffällige Spiegel, die man in Ringen oder am Boden eines Pfeifenkopfs versteckt. Übrigens war es sein Tipp über chemisch behandelte Karten, der mir in Monte Carlo geholfen hat. Ein Croupier benutzte unsichtbare Tinte, die die Truppe mit besonderen Sonnenbrillen sehen konnte. Aber Steffi war ein wunderbarer Bursche. Scotland Yard hat ihn für uns gefunden. Er konnte ein Kartenspiel mischen und danach die vier Asse herausziehen. Es war wie Zauberei.«

»Klingt ein bisschen zu professionell für unseren Mann«, erwiderte M. »Für so etwas muss man mehrere Stunden am Tag üben oder braucht einen Komplizen. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass er im Blades einen finden würde. Nein, an seinem Betrug ist nichts Sensationelles, und soweit ich weiß, kann es sich auch einfach um eine fantastische Glückssträhne handeln. Es ist seltsam. Er ist kein besonders guter Spieler – er spielt übrigens nur Bridge –, aber ihm gelingt ziemlich häufig ein absolut fantastischer Schnitt – entgegen jeder Wahrscheinlichkeit. Er schafft es immer wieder. Und im Blades wird um hohe Summen gespielt. Seit er vor einem Jahr beigetreten ist, hat er nicht ein Mal verloren. Wir haben zwei oder drei der besten Spieler der Welt im Club, und keiner von ihnen hatte über zwölf Monate hinweg eine so gute Gewinnbilanz. Die Leute scherzen schon darüber, und ich denke, Basildon tut gut daran, deswegen etwas zu unternehmen. Welches System benutzt Drax Ihrer Meinung nach?«

Bond sehnte sich nach seinem Mittagessen. Der Stabschef hatte ihn bestimmt schon vor einer halben Stunde aufgegeben. Er hätte mit M noch stundenlang über Falschspiel reden können, und M, der niemals hungrig oder müde wirkte, hätte sich alles angehört und sich danach an jede Einzelheit erinnert. Doch Bond brauchte jetzt etwas zu essen.

»Wenn wir davon ausgehen, dass er kein Profi ist, Sir, und die Karten nicht auf irgendeine Weise vorher manipulieren kann, gibt es nur zwei Antworten. Entweder benutzt er Spiegel, oder sein Partner gibt ihm Hinweise. Spielt er oft mit dem gleichen Mann?«

»Wir tauschen nach jedem Rubber die Partner«, erklärte M. »Es sei denn, es gibt ein Turnier. Und an den Gästeabenden, montags und donnerstags, bleibt man bei seinem Gast. Drax bringt immer einen Mann namens Meyer mit, seinen Metallmakler. Ein netter Kerl. Jude. Ein hervorragender Spieler.«

»Vielleicht kann ich mehr sagen, wenn ich es beobachte«, erwiderte Bond.

»Genau das wollte ich gerade vorschlagen«, sagte M. »Warum kommen Sie heute Abend nicht direkt mit? Sie bekommen dort auf jeden Fall ein gutes Abendessen. Wir treffen uns dort um sechs. Ich knöpfe Ihnen beim Pikett etwas Geld ab und dann sehen wir für eine Weile der Bridgerunde zu. Nach dem Abendessen spielen wir dann ein, zwei Runden mit Drax und seinem Freund. Sie sind montags immer da. Einverstanden? Und ich halte Sie auch nicht von der Arbeit ab?«

»Nein, Sir«, erwiderte Bond mit einem Lächeln. »Und ich komme sehr gerne mit. So bleibe ich in Übung. Und wenn Drax wirklich betrügt, werde ich ihn wissen lassen, dass ich es gemerkt habe. Das sollte ausreichen, um ihn in Zukunft davon abzuhalten. Ich würde ihn nur ungern in Schwierigkeiten bringen. War das alles, Sir?«

»Ja, James«, sagte M. »Und danke für Ihre Hilfe. Drax muss ein verdammter Idiot sein. Offensichtlich handelt es sich bei ihm um einen wunderlichen Kauz. Aber es ist gar nicht so sehr der Mann, um den ich mich sorge. Ich möchte nicht riskieren, dass etwas mit seiner Rakete schiefgeht. Und Drax ist mehr oder weniger das Projekt ‚Moonraker‘. Dann sehen wir uns also um sechs. Sie brauchen sich nicht in Schale zu werfen. Ein paar von uns machen das fürs Abendessen zwar, aber nicht alle. Wir verzichten heute ausnahmsweise darauf. Dann gehen Sie mal und rauen sich die Fingerspitzen mit Sandpapier an oder was Kartenbetrüger sonst so machen.«

Bond lächelte M an und stand auf. Es schien ein vielversprechender Abend zu werden. Beim Hinausgehen dachte er, dass er gerade zum ersten Mal eine Besprechung mit M gehabt hatte, die keine unangenehmen Konsequenzen nach sich zog.

Ms Sekretärin saß immer noch an ihrem Schreibtisch. Neben ihrer Schreibmaschine standen ein Teller mit Sandwiches und ein Glas Milch. Sie warf Bond einen fragenden Blick zu, doch sein Gesichtsausdruck verriet nichts.

»Ich nehme an, er ist schon vorgegangen«, sagte Bond.

»Schon vor fast einer Stunde«, entgegnete Miss Moneypenny vorwurfsvoll. »Es ist halb drei. Wahrscheinlich ist er gleich schon wieder zurück.«

»Dann geh ich mal besser in die Kantine, bevor sie schließt«, erwiderte Bond. »Richten Sie ihm aus, dass das nächste Mittagessen auf mich geht.« Er lächelte ihr zu und ging zum Fahrstuhl.

In der Kantine waren nur noch ein paar Leute. Bond saß allein und aß gegrillte Seezunge, einen großen gemischten Salat und etwas Brie auf Toast. Dazu trank er eine halbe Karaffe weißen Bordeaux. Danach holte er sich noch zwei Tassen schwarzen Kaffee und war um drei wieder in seinem Büro. Mit Ms Problem im Kopf ging er geistesabwesend den Rest der NATO-Akte durch, sagte seiner Sekretärin, wo er sich am Abend aufhalten würde, und holte um halb fünf seinen Wagen aus der hauseigenen Werkstatt hinter dem Gebäude ab.

»Der Kompressor jault ein bisschen, Sir«, informierte ihn der ehemalige Luftwaffenmechaniker, der Bonds Bentley praktisch als sein Eigentum betrachtete. »Bringen Sie ihn morgen mal vorbei, wenn Sie ihn während der Mittagspause nicht brauchen.«

»Danke«, sagte Bond, »das werde ich.« Dann fuhr er mit dem Wagen durch den Park und zur Baker Street, während hinter ihm der Auspuff knatterte.

Innerhalb von fünfzehn Minuten war er zu Hause. Er ließ das Auto unter den Platanen an dem kleinen Platz stehen, betrat das umgebaute Regency-Haus, ging in das von Bücherregalen gesäumte Wohnzimmer, zog seine Ausgabe von Scarne on Cards heraus und legte sie auf den kunstvollen Empire-Schreibtisch neben dem breiten Fenster.

Er ging in das kleine Schlafzimmer mit der weißgoldenen Tapete und den tiefroten Vorhängen, zog sich aus und warf seine Kleidung auf die dunkelblaue Tagesdecke, die auf dem Doppelbett lag. Dann betrat er das Badezimmer und duschte schnell. Bevor er das Badezimmer verließ, warf er einen Blick auf sein Gesicht im Spiegel und entschied, dass er keine Lust hatte, mit einer lebenslangen Tradition zu brechen, indem er sich zweimal am Tag rasierte.

Die graublauen Augen, die leuchteten, wenn er sich wie jetzt gerade auf ein Problem konzentrierte, das ihn interessierte, erwiderten im Spiegel seinen Blick. Das schmale, harte Gesicht wirkte hungrig und ehrgeizig. Nachdenklich ließ er seine Finger über seine Wange gleiten. Dann strich er sich das Komma aus schwarzem Haar aus der Stirn, das etwa drei Zentimeter über seiner rechten Augenbraue hing. Er bemerkte, dass die Narbe auf der rechten Wange, die so weiß gewirkt hatte, nun, da die Sonnenbräune verblasste, nicht mehr so stark hervortrat. Sein Blick wanderte an seinem nackten Körper hinunter. Auch die fast schon unanständige weiße Stelle, die seine Badehose hinterlassen hatte, zeichnete sich bereits viel weniger deutlich ab. Eine Erinnerung rief ein Lächeln hervor, und er kehrte ins Schlafzimmer zurück.