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Planetenroman

 

Band 13

 

Terra in Trance

 

Er wechselt zwischen den Welten – ein Mann kämpft gegen den Herrscher der Träume

 

Robert Feldhoff

 

 

 

Im fünften Jahrhundert Neuer Galaktischer Zeitrechnung: Während der Zeit der Dunklen Jahrhunderte wird die Milchstraße abgeschottet, und die Erde fällt unter die Herrschaft einer unheimlichen Macht. Es sind die »Herren der Straßen«, die jede Art von Freiheit unterdrücken.

Auf Terra hausen die Menschen im Elend übertechnisierter Großstädte. Sie träumen von der glorreichen Vergangenheit und hoffen auf den Retter, der von den Sternen kommen soll. Die einzige Fluchtmöglichkeit bieten die Träume des Simusense-Netzes. Doch für jene, die im Simusense landen, gibt es kein Zurück.

Oderik Stark ist einer der wenigen Verlorenen, die sich noch frei auf der Erde bewegen können. Er wird zum Wanderer zwischen den beiden Welten – er sieht sowohl die reale Erde der Trümmer und Zerstörung als auch die Heil versprechende Welt des Simusense. Und er sucht den Kampf gegen den unbekannten Herrscher der Träume ...

Prolog

 

Nach wie vor stellen sich die sogenannten Dunklen Jahrhunderte, jene Zeit also, in der die Milchstraße unter der Herrschaft der Herren der Straßen stand, dem Beobachter als kaum zugängliche Epoche dar. So viel bewusste Zerstörung und Geschichtsfälschung wurden betrieben, dass es im Nachhinein kaum möglich ist, die Geschehnisse auch nur annähernd zu rekonstruieren.

Wir wissen, dass sich hinter den Herren der Straßen letztlich eine Wesenheit namens Monos verbarg, ein Wesen von kosmischer Abstammung. Doch selbst dies war lange Zeit nicht bekannt. Als die Galaktiker um Perry Rhodan und Atlan im Jahr 1147 Neuer Galaktischer Zeitrechnung endlich Monos besiegten, hielt man ihn noch für Pedrass Foch, der sich zuvor noch als Verbündeter angeboten hatte.

Monos selbst war ein Abkömmling des Kosmokraten Taurec, seinerzeit geschaffen, um die für die Lokalen Gruppe der Menschheit »zuständigen« Superintelligenz ES zu einem Entwicklungssprung zu verhelfen.

All dies ist bekannt. Es ist bekannt auf einer kosmischen, abstrakten Ebene, die mit Jahrmillionen und galaktischen Distanzen operiert. Es ist eine distanzierte, abgehobene historische Wahrheit.

Was kaum bekannt ist, sind die tatsächlichen Zustände in der Milchstraße während der Monos-Herrschaft. Sicherlich wissen wir über manche Details Bescheid, so den Bau des Humanidroms, der einen ganzen Planeten in den Ruin trieb, oder die Zersplitterung der Topsider-Völker.

Über die Zustände auf Terra hingegen sind nur ganz wenige Bruchstücke bekannt. Und diesen ist zu entnehmen, dass die Zustände dort am schlimmsten waren.

Die Geschichte von Oderik Stern ist eines dieser Bruchstücke. Sie soll im Folgenden unkommentiert wiedergegeben werden.

Manchmal sagt ein Bild wirklich mehr als tausend Worte.

 

(Aus: Hoschpians unautorisierte Chronik des 13. Jahrhunderts NGZ; Kapitel 0.3.11, Die Monos-Zeit: Enigma und Trauma)

Kapitel 1

 

Wenn der letzte Ritter der Tiefe gestorben ist, so sagt die Legende, werden die Sterne erlöschen, werden die Zivilisationen vergehen. Im Jahr 425 Neuer Galaktischer Zeitrechnung (NGZ) erhält Perry Rhodan im Dom Kesdschan den Ritterschlag. Im Jahr 448 NGZ kehrt Perry Rhodan von seiner Expedition ins Universum Tarkan nicht mehr zurück. Die Zivilisationen der Milchstraße sind ohne Schutz. Es beginnt die Zeit der Dunklen Jahrhunderte, die Zeit der Gewaltherrscher und der Herren der Straßen, die aus perfekter Anonymität heraus das Leben in der Galaxis in das Chaos stürzen.

 

Oderik Stern stolperte zitternd vor Kälte durch den Vorhang aus Nieselregen. Was er anhatte, war durchnässt. Jeder Fetzen Stoff stank nach Müll und scheuerte auf der Haut. Hätte er sich nur aufwärmen können! Aber wo? Aus den Wohntuben dröhnte abgehackter, stakkatogleicher Rhythmus. Musik für Rostknochen. Für Erwachsene. Verdammt, schaltet eure Booster ab!

Es war so nah, drückend schwarze Wände, und die Fenster waren in schmutzig angelaufenes Metall gerahmt. Einen Meter nach links, drei nach rechts, und all die anderen Gestalten, die sich durch die engen Gassen drückten. Hier, so hieß es, war man sicher vor den Fängerbots. Aber Oderik hatte schon gesehen, wie ein Gassenquadrat abgeriegelt wurde. Dann noch zu entkommen, war schwer.

Von hinten traf ein Atemhauch seinen Nacken. »Pass auf, du Schwachkopf. Sonst knallt dein Schädel gegen die Wand.«

Oderik zuckte zusammen. Er drehte sich mit verkrampften Händen um. Eine von den Zwölfern: Sie war größer als er und sehr viel kräftiger. Ihre Zähne bestanden aus Terkonitstahl. Die Fäuste dagegen waren aus Fleisch und Blut, und er hatte Angst, schon wieder verprügelt wegzuschleichen. Zehn Jahre war er alt. Ganz schön viel für die Straße. Es gab wenige Kids, die es bis dahin schafften. Die meisten kamen vorher ins Internat. Zwölfer waren fast das Älteste. Wenn jemand außer den Bots Macht in den Straßen hatte, so waren es die Zwölfer.

Einen Dreizehner hatte er noch nie gesehen. Dreizehn war die Grenze, die Magie der Unmöglichkeit. Oderik wäre gern ein Dreizehner gewesen.

»Was willst du?«, fragte er.

Oderik Stern wagte es nicht davonzulaufen. Die Zwölfer hätte ihn erst recht erwischt. Vielleicht hätte sie ihn getötet. Niemand machte einer Zwölfer Vorschriften.

»Leer deine Taschen aus.«

Seine Hände zuckten. Instinktiv hätte er fast an die Jackentasche gegriffen, aber das war genau der Fehler, auf den das Mädchen wartete.

»Ich hab nichts drin.«

Oderik wusste, dass er abgerissen aussah. Er war keines der kräftigen Kinder. Eines der klügsten – aber das brachte wenig in Terranias Straßen. Zwei Kilometer bis nach Hause. Er hatte keine Chance, nicht einmal dann, wenn er sie ablenken konnte. Eine Zwölfer hatte längere Beine und den längeren Atem. Und sie hatte diese Zähne.

Ganz nahe rückte sie heran. Oderik roch ihren Gestank; viele Wochen auf der Straße, nicht gewaschen, immer auf der Jagd nach Chips oder etwas, das sich tauschen ließ. Auch Zwölfer mussten essen. Sogar mehr als Zehner, dachte Oderik, weil sie größer waren. Mehr brauchten nur Rostknochen. Aber die bekamen ihre Ration von den Bot-Verteilern, alles für Erwachsene und für die Kinder das Internat.

»Hör zu, du kleine Ratte!«

Das Mädchen öffnete den Mund, weil es gern ihre Zähne zeigte. Alle wussten das; nur wusste keiner, wie die Zwölfer zu den Beißern gekommen war.

»Ich will irgendetwas sehen, was ich brauchen kann. Sonst nehm ich deine Hose mit. Du wirst zittern, Kleiner. Die Bots sind ganz scharf auf nackte Jungs. Dann bist du weg, verstehst du?«

Oderik Stern nickte bedächtig. Aus den Augenwinkeln riskierte er einen verzweifelten Blick in die Runde. Aber keine der Gestalten, die sich durch den Dunst aus Abfall und Morgensmog an ihm vorbeidrückten, dachte daran, anzuhalten. Probleme überließ man besser anderen. Daran hielt sich jeder, und auch Oderik hätte nicht anders gehandelt. Von links und rechts dröhnte die Stakkatomusik. Es war dunkel hier, so furchtbar schwarz. Eine Gasse für die Kinder. Rostknochen waren viel zu langsam, nicht mehr fähig, die Gassenquadrate zu überleben.

»Halt mal ...«, brachte er heraus. »Vielleicht kann ich zwei, drei Chips besorgen, wenn du mich laufen lässt.«

»Keine Chance. Keine Garantie, ich bin nicht blöd.« Sie fasste ihn am Kragen und zog ihn nahe an sich heran. Der Gestank aus ihrem Hals war widerlich. Ihre Eltern mussten längst in einem der Bezirke sein; sonst hätte sie nie so verwahrlost herumlaufen können. »Ich hab nicht den ganzen Morgen Zeit. Ich kann dich auch durchsuchen, wenn dir das lieber ist.«

Oderik hob die Fäuste. »Dann wehre ich mich.« Es klang trotzig.

»Dann bring ich dich um. Es gibt 'ne Menge Zehner-Leichen hier.«

Mit zusammengepressten Lippen senkte er den Kopf. Oderik Stern öffnete die Brusttasche, die er zuvor nicht hatte berühren wollen, und zog eine glitzernde Scheibe heraus.

»Zwölf Syntron-Chips«, sagte er. »Du nimmst die Hälfte. Ich kämpfe sonst.«

»Gib mir alle.«

Der Griff ihrer rechten Hand verstärkte sich am Kragen, allmählich bekam er keine Luft mehr. Vielleicht hätte er das Knie anziehen und sie im Unterleib treffen können. Mädchen waren da empfindlich. Zwei Jahre Altersunterschied, eine Ewigkeit. Nein!

»Wenn ich kämpfe, kriegst du auch was ab. Hattest du schon mal entzündete Kratzer?«

Ein heftiger Schlag traf ihn vor die Brust. Als er ihre Augen sah, begriff Oderik Stern, wie bitterernst es der Zwölfer war. Wahrscheinlich hatte sie Hunger. Oder sie war eine von den Süchtigen.

»Du miese kleine Null ... Du gibst jetzt die Chips her, oder ...«

Oderik reichte ihr die glitzernde Scheibe. Und dafür hatte er die ganze Nacht gesucht – in einer der Bauruinen, die jeden Moment zusammenstürzen konnten, am Rand der Blinden Wände.

»Aufpassen!«

Aus jeder Richtung ertönte Stimmengewirr.

In diesem Moment tauchten Blitze das Gassenquadrat in grelles Licht. Von überall kamen sie, von allen Seiten und von oben. Antigravkopter senkten sich herab, grüne Schutzschirme wurden wie Puzzleteile zu einer Haube zusammengefügt.

Der Zwölfer stand das Maul mit den Terkonit-Zähnen offen. Oderik reagierte schneller, als er denken konnte. Mit einer raschen Bewegung riss er die Syntron-Chips wieder an sich. Und bevor sie den Mund wieder zuklappen konnte, war er schon davon.

»Bleib stehen, du Ratte!«

Er konnte ihre Schritte hören, trotz der Kopter, trotz der Kids, die schreiend und in Panik durcheinanderrannten. Keine Sekunde hörte die Stakkatomusik auf, denn die Rostknochen, die in ihren Wohntuben saßen, waren vor den Robotkommandos sicher. Anderer Leute Probleme ... in diesem Fall Kinderprobleme, das Internat als höchste Strafe, und keiner wusste, was es damit auf sich hatte. Nur die Panik, die war überall. Die meisten Kinder sprangen beiseite, als sie ihn und die Zwölfer sahen. Er als Zehner genoss schon Respekt, aber sie war eine Königin. Eine Königin ohne Wert, das wusste Oderik, solange die Kopter das Schirmnetz enger zogen.

So schnell er konnte, rannte er die Gasse entlang. Und den ersten Seitenweg nutzte er. Müllüberhäuftes Gelände schloss sich an. Oderik prallte halb an die Wand, lenkte mit beiden Armen seinen Schwung ab und versuchte, nicht an aufgeschürfte Handflächen zu denken. Das grüne Schutzschirmleuchten holte Details heraus, die man sonst nie zu sehen bekam. Schmutz ... Alles unbrauchbar. Sogar ein lang gestrecktes Bündel lag im Weg, das wie eine Leiche stank.

»Zehner!«, kreischte es hinter ihm. »Halt an, oder du bist Matsch!«

Dass sie es ernst meinte, wusste er. Oderiks Pulsschlag raste. Er nahm den Weg nach rechts, wieder auf die Gasse zu, aber er hörte, wie sie näher kam. Zwei Minuten höchstens. Wenn er bis dahin am Leben blieb, reichte es. Dann hatten die Bots das Quadrat abgeriegelt, und ihre Fängerkommandos waren zwischen den Wohntuben unterwegs. Oderik wünschte sich, er hätte eine der Scheiben einschlagen können. Dann wäre er in die nächste Wohntube gekrochen. Er hätte die Rostknochen bedroht und sich versteckt, bis die Bots abgezogen waren.

Aber so ...

Seine Rettung hieß das Internat. Was für eine Ironie!

»Zehner!« Die Stimme war nah.

Scharfe Fingernägel krallten sich in seinem Nacken fest. Im Bruchteil einer Sekunde spürte er, dass er zu bluten anfing. Was will sie? Es ist vorbei! Exitus! Oderik Stern riss sich los, stoppte an der Wand urplötzlich ab und bückte sich. Die Zwölfer war heran. Schwer und kräftig, wie sie war, stolperte sie eher über ihn, als dass sie ihn getroffen hätte.

Oderik streckte beide Ellbogen heraus. Etwas traf ihn schmerzhaft; und er hörte, wie Metall auf Metall schlug. Er und das Mädchen, beide flogen in den Müll. Ein fürchterlicher Schrei trieb ihn hoch. Oderik war als Erster auf den Beinen, sein Blick suchte die Zwölfer in der Ecke und fand sie blutüberströmt am Boden, besonders um den Mund herum.

»So, du Scheiffer ... Ich hab mir halb die Schunge abgebiffen ...«

Nie hatte er so hasserfüllte Augen gesehen. Oderik Stern erschrak maßlos. Bisher hatte er nicht wirklich geglaubt, dass er sterben könnte. Das blutige Gebiss öffnete sich, die Hände ballten sich zu Fäusten. Er sprang vor, aus einem Instinkt heraus, und versetzte ihr einen gezielten Tritt vor den Brustkorb. Noch so eine empfindliche Stelle bei den meisten Zwölfer-Mädchen. Sie krümmte sich zusammen.

»Du Stück Dreck!«, brüllte er mit schriller Stimme. »Ich wünsch dir, dass du ins Internat kommst!«

Oderik nutzte die einzige Chance, die er hatte. Wie der Blitz rannte er um die nächste Ecke herum – und stand urplötzlich vor einem schwebenden Gleiter.

Eine Drogenfähre war das, ein altes, klappriges Ding, aus tausend Ersatzteilen zusammengebaut. Die Dealer waren alle Zwölfer, und woher sie ihr Zeug bezogen, hatte nie jemand herausgekriegt.

Das Ding setzte sich rappelnd in Bewegung. Oderik presste sich nahe an die Wand. Er hatte das Mädchen nicht abgeschüttelt, damit er jetzt zerquetscht wurde. Mittlerweile zog sich der Kopter-Ring enger; als wollten die Bots warten, die Panik schüren, den Rostknochen an ihren Fenstern Action bieten.

»Scheißdreck ...«

Und als die Fähre fast vorbei war, reagierte Oderik wiederum instinktiv. Er krallte sich an der vorspringenden Kante fest, sprang und erreichte das Heck. Hier begann der Höllenflug. Etwas stand im Weg – es war die Zwölfer. Der Aufprall riss sie auseinander. Scharfe Beschleunigung presste ihn zur Seite und nach hinten. Die sehen mich nicht. Die sehen nur, was vorne vorgeht. Zwei-, dreimal hörte er noch, dass etwas gegen den Bug prallte, und Bruchteile von Sekunden später sah er die Körper, die liegen blieben. Tausend Kids rannten durcheinander. Ein Ziel hatte keiner. Syntron-Chips wechselten die Besitzer, alte Strahlwaffen, manchmal Dreck für teure Ware. Alles zu spät. Wer braucht das Zeug im Internat?

Zuletzt erreichten sie die Mittelgasse des Quadrats. An den Fenstern saßen die Rostknochen dutzendweise, ließen sich keine Szene entgehen, manche sogar mit Kameras. Die Fähre ging auf Tempo, bei zwei Metern Höhe, über die Schädel der Kids hinweg, und geradewegs auf den Sperrkordon der Botkommandos zu. Oderik krallte seine Finger fest. Die Füße hakte er unter den Vorsprung auf der anderen Fährenseite. Aus dem Inneren drang verbrannter Gestank. Und überall die Musik, genauso wie die gaffenden Fratzen.

»Lasst das!«, brüllte er. »Haltet an!«

Der Schirmvorhang wuchs zu einem undurchdringlichen grünen Geflecht, das mit Sicherheit stärker war als dieser Krückengleiter.

Niemand hörte Oderik Stern. Es wäre ihm auch schlecht bekommen.

Voller Panik wollte er die Augen schließen. Es ging nicht. Er sah den Schirm auf sich zukommen, mit irrsinniger Geschwindigkeit, aber da klaffte in der Struktur noch ein letzter Riss. Darauf hielt der Pilot der Fähre zu. Im allerletzten Augenblick schlüpften sie hindurch. Von hinten nahmen Kopter die Verfolgung auf. Die nächste Turmreihe war einen Kilometer entfernt, und dazwischen lag verwildertes Gebiet, das früher mal ein Park gewesen war. Heute versteckten sich Achter und Neuner ohne Eltern im Gebüsch – solche, die keiner außer dem Internat haben wollte.

Dort unten gab es für einen Gleiter kein Versteck. Der Pilot war ganz sicher lebensmüde, aber dumm war er nicht.

Die ersten Schüsse lösten sich aus den Strahlkanonen der Verfolger. Oderik Stern fühlte sich wie eine hilflose, zehnjährige Zielscheibe. Die Chips in seiner Tasche nutzten ihm gar nichts mehr. Beißender Flugwind trieb ihm Tränen in die Augen, wie weit er sich auch duckte, und jeden Moment konnte er abrutschen und unten in die Sträucher fallen – bei dreihundert Kilometern pro Stunde.

Es war Sekundensache, echte Maßarbeit.

Die Fähre bog zur erstbesten Gasse ein, bevor das Koptergeschwader nahe genug heran war.

Die erste Kurve.

Jetzt!

Oderik Stern ließ sich fallen – ungeachtet der Geschwindigkeit. Zwei Meter bis zum Boden, zehn Meter zur nächsten Wand! Mit heulendem Triebwerk knallte die Fähre um die Biegung. Er prallte auf, mit dem Rücken zuerst, und raste gegen die Mauer, bevor er einen Gedanken fassen konnte.

Oderik war tot, so fühlte es sich an. Völlig gefühllos, mit zerrissenen Muskeln und einem Schädel, der dicker als drei Müllballen war.

Im selben Moment jagten die Kopter über ihn hinweg.

Er hörte die Schüsse – und dann die Explosion. Ende. Die Fähre hatte es erwischt.

 

»Weißt du noch, kleiner Oderik?«, sagte Mutter immer, wenn sie in ihrer speziellen Stimmung war. Ihr weiches Gesicht legte sich dann in tiefe Falten. Sie griff die blaue Schürze, die sie zu jeder Zeit trug, und zwirbelte kleine Knoten in die Ecken. »Früher war alles anders. Früher war hier das Paradies.«

Dann stahl sich ein seltsames Leuchten in ihre Augen – und manchmal, wenn Oderik zu müde war, um klar zu denken, fraß ihr Blick seine Seele auf und versetzte ihn in jene Zeit, von der sie träumte. Dann konnte er es wirklich in ihren Augen sehen.

»Terrania war eine schöne, freie Stadt. Wenn du heute auf eine Taste drückst, passiert entweder gar nichts, oder die Bots kommen und holen dich. Früher konntest du Nahrung bekommen. Einfach so, so viel du wolltest. Du hattest Kleidung. Stell dir vor, du trägst neue Hosen, keine von der dünnen Sorte, und eine warme Jacke dazu. Der Schnee, der auf Terrania fällt, stört dich nicht. Du gehst geradeaus, so weit du kannst. Keine Grenzen. Und nach Hause kommst du deshalb, weil du hier sicher schlafen kannst. Stell dir das vor, Oderik ...«

Er liebte diese Geschichten.

Aber nicht an diesem Tag, weil er vor Schmerzen keinen Gedanken fassen konnte. Zwar hatte er nichts gebrochen, aber bei der miesen Medoversorgung, die man als Kind bekam, waren Prellungen, Schürfwunden und Stauchungen mehr als genug. Jeder Zentimeter brannte. Als hätte jemand Säure über Oderiks Kopf gekippt. Oder wie mit einer Neuropeitsche im Rücken und mit einer verrückten Zwölfer am anderen Ende. Aber nein, vor ihr brauchte er jetzt keine Angst mehr zu haben. Sie war im Internat, gemeinsam mit den anderen Kids aus dem Gassenquadrat. Oder tot.

»Mam«, flüsterte er. »Gib mir Essen.«

Sie hob die Schultern. »Ich hab nichts, kleiner Oderik. Woher denn wohl?«

Geh auf die Straße, hätte er sagen sollen. So wie wir Kinder. Besorg mir was. Aber das hatte keinen Sinn. Seine Eltern hatten ebenso wenig wie die anderen Rostknochen eine Chance, im Labyrinth zu überleben. Die Elfer und Zwölfer duldeten keine Konkurrenz. Draußen in den Gassenquadraten, das war das Revier der alten Kinder. Draußen und vor allem die Nacht.

Neidisch sah er seine Mutter an.

Für Erwachsene und kleine Kinder gab es eingeteilte Rationen, für jedes Straßenviertel am selben Botposten. Man aß dort und wurde ausgefragt. Wenn aber ein Kind wie er ankam, schon zehn Jahre alt, hätte der Posten ihn gleich dabehalten. Und dann, so dachte Oderik Stern, hätte er herausgefunden, was es mit den Internaten wirklich auf sich hatte – allerdings gegen seinen Willen. Manchmal konnte man nachts Geschichten hören. Wenn in den Hinterhöfen der Türme Abfallfeuer brannten, wenn man sich wärmte und den Kampf vergaß. Dann erzählten die ältesten Kids von Folterkammern und Drähten im Rückenmark, und die Jüngeren hörten angstvoll zu. Die einen wussten, dass es sich um schreckliche Klonanstalten handelte, andere glaubten, dass dort menschliche Persönlichkeiten in die Schaltkreise von Computerchips transferiert wurden.

Aber irgendwann kam der Tag für jeden.

Kinder wurden älter. Acht Jahre – wer sich dann bei den Botposten sehen ließ, war reif zum Abtransport. An diesem Tag begann der Ernst des Lebens.

Die Bots führten Buch, auch das wusste Oderik. Ihre Syntroniken kannten jeden Menschen, der in Terrania lebte. Sie kannten sogar die Kids an den Blinden Wänden, auch die in den Abraumhalden. Und manchmal kamen Abrufbefehle. Dann hatten sich die Kinder am Botposten zu melden. Kaum eines war bereit dazu: Der Weg in den Untergrund war besser. Wer diesem Weg allerdings folgte, konnte nicht mehr zurück in die elterliche Wohntube. Mikrofon-Kombis hingen überall als Zapfen von der Decke. Wer aus und ein ging, war bekannt, und was laut gesprochen wurde, ebenso.

»Kleiner Oderik, schlaf jetzt. Im Schlaf heilen deine Wunden besser ... Denk daran, wie es einmal war und wie es wieder werden wird. Meine Mutter war es, sie selbst hat mir von Perry Rhodan und von Galbraith Deighton erzählt und dass sie eines Tages wiederkommen werden. Perry Rhodan wird kommen. Er ist ein Mythos, kleiner Oderik, zehntausend Jahre schon verschwunden. Aber er kommt. Meine Mutter wusste das so gewiss, als ob ihr Syntron in die Zukunft gesehen hätte. Dann müssen Kinder nicht mehr auf die Straße. Dann werden die Bots wieder zu Maschinen, und die Internate und Bezirke werden abgeschafft, kleiner Oderik ...«

Er fühlte sich geborgen, wenn er ihre Stimme hörte. Auch wenn er nicht wusste, wer Perry Rhodan war und ob es ihn je gegeben hatte. Oderik Stern war zehn Jahre alt. Zehntausend Jahre, das war viel mehr als zehn. Und morgen, so wusste er, musste er wieder ins Gassenquadrat. Er hatte Hunger. Er brauchte Schmerztabletten. Jede Faser seines Körpers schmerzte, bis eine streichelnde, warme Hand ihn sacht in den Schlaf wiegte.

 

Vater ließ am frühen Morgen die Stakkatomusik hämmern. Oderik wachte langsam auf. Aus den Augenwinkeln sah er Mutter und Vater nebeneinander; ab und zu irrten Blicke verstohlen in seine Richtung. Sie flüsterten wieder, wie so oft in den letzten Wochen, und die Musik legte die Mikrofone lahm.

Sein Vater war ein großer Mann. Wie konnte man so groß werden? Ohne ins Internat zu müssen? »Die Teufelsdinger gibt's nicht lange«, sagte er immer, »zu meiner Zeit war alles anders.«

Aber viel zu fett war er, aufgedunsen von dem Zeug, das die Bots ins Essen mischten. Die meisten Achter brauchten dann nicht lange, um das Fett wieder loszuwerden. Straßenfutter machte dünn. Dünn und bösartig. So groß wie sein Vater war, draußen hatte er nichts verloren. Eine wie die Zwölfer gestern hätte ihn schneller aufgeschlitzt, als er blinzeln konnte.

»Kleiner Mann ...«

Das Licht war zu hell. Verdammtes Licht. Verdammter Tag. Verdammte Plastikstühle überall. Oderik Stern rollte sich von der Liege hoch. Einen Moment lang hielt er mit fürchterlichen Schmerzen inne. Der Hunger jedoch war schlimmer, und so zog er vorsichtig die Hose und die Jacke über seine Schürfwunden.

»Oderik!«

Er hörte nicht. Es war schön, nach Hause zu kommen. Aber um das Geschwätz seiner Eltern anzuhören, fehlte ihm die Zeit.

Der Antigrav setzte ihn sicher unten ab. Draußen nieselte es wieder. Es dauerte keine zehn Minuten, dann war er nass bis auf die Haut, und die durchgeweichten Biopflaster fingen an, sich von den Wunden zu lösen. Manche klebten zur Hälfte fest; die musste er später unter einem Wasserspender abreißen, damit sich kein Dreck sammelte.

Die Syntron-Chips steckten noch in der Jackentasche. Ein Dutzend davon, genug für Pillen und Nahrung. Durch den Park schlich er an fliegenden Botkommandos vorbei, die ihn gestern vielleicht gefilmt hatten, scheuchte drei Neuner aus dem Weg und erreichte frierend das angrenzende Gassenquadrat.

Der fliegende Markt befand sich am Rand des Quadrats, auf der Windschattenseite. Das war angenehm, weil einem der Smog nicht so stark ins Gesicht blies. Eine Menge Zwölfer hatten sich versammelt; das waren fast alle, so dachte Oderik, aus der ganzen Gegend. Dass die Bots gestern ein Quadrat hochgenommen hatten, kümmerte niemanden. Gestern war gestern. Die Hungrigen brauchten Essen, und die Süchtigen brauchten Stoff. Hunderte Kids drückten sich am Rand der Glastürme herum. An den Fenstern der Wohntuben pressten Kleinkinder ihre Nasen platt, aber auch darum kümmerte sich niemand. Die Botkommandos waren nie am Markt. Dort waren sie alle sicher; als ob die Bots den Markt absichtlich in Ruhe ließen. Manchmal hieß es, dass die Dealer ihre Pillen direkt von den Botverteilern bekamen. Das war Unsinn, klar, aber solche Gerüchte hielten sich hartnäckig unter den Kids.

Oderik Stern versuchte, sich nichts anmerken zu lassen.