Einführung

Blättern Sie einfach weiter, wenn Sie die folgende Geschichte schon tausendmal gehört haben: Brillante Collegestudenten stecken in einem Wohnheim die Köpfe zusammen und erfinden die Zukunft. Ohne sich um Grenzen zu scheren, besessen von einer neuen Technologie und strotzend vor jugendlichem Elan, gründen sie ihre eigene Firma aus dem Nichts. Dank erster Erfolge können sie Geld auftreiben und ein sagenhaftes neues Produkt auf den Markt bringen. Sie rekrutieren die ersten Mitarbeiter aus dem Freundeskreis, bauen ein Dream-Team auf und fordern die Welt heraus.

Vor zehn Jahren und mehreren Startups war ich es, der nach diesem Muster seine erste eigene Firma aufbaute. Ich erinnere mich vor allem an einen bestimmten Augenblick: als mir klar wurde, dass meine Firma scheitern würde. Mein Mitgründer und ich waren mit unserem Latein am Ende. Die Dotcom-Blase war geplatzt und unser gesamtes Startkapital verbraucht. Unsere verzweifelten Versuche, mehr Geld zu beschaffen, hatten nichts gebracht. Die Trennung war bühnenreif, wie in einem Hollywoodfilm: Es goss in Strömen und wir standen auf der Straße und stritten uns. Wir konnten uns nicht einmal mehr darauf einigen, wohin wir unsere Schritte als Nächstes lenken sollten, und so trennten wir uns im Zorn, schlugen entgegengesetzte Richtungen ein. Als Metapher für das Scheitern unseres Unternehmens ist dieses Bild von uns beiden, wie wir verloren im Regen standen und auseinanderdrifteten, perfekt.

Die Erinnerung schmerzt noch heute. Unsere Firma dümpelte noch einige Monate vor sich hin, doch unsere Situation war hoffnungslos. Anfangs schien es, als hätten wir alles richtig gemacht: Wir hatten ein fantastisches Produkt, eine hervorragende Mannschaft, eine erstklassige Technologie und die richtige Idee zum richtigen Zeitpunkt gehabt. Wir waren offenbar auf eine Goldmine gestoßen: Wir boten Collegestudenten die Möglichkeit, ein Online-Profil zu erstellen, das sie teilen konnten mit potenziellen Arbeitgebern. Doch trotz der vielversprechenden Idee war unser Vorhaben vom ersten Tag an zum Scheitern verurteilt, weil wir den Prozess nicht kannten, der unabdingbar ist, um Produktkenntnis in tragfähige Unternehmensaktivitäten umzuwandeln.

Für diejenigen, die noch nie einen solchen Fehlschlag erlebt haben, lässt sich das Gefühl schwer beschreiben. Es ist, als würde einem der Boden unter den Füßen weggezogen. Man fühlt sich betrogen. Die Erfolgsgeschichten in den Hochglanzmagazinen haben sich als Lügenmärchen erwiesen: Harte Arbeit und Ausdauer führen eben nicht zwangsläufig zum Erfolg. Und schlimmer noch: Die zahllosen Versprechungen, die man Mitarbeitern, Freunden und Familienangehörigen gemacht hat – man kann sie nicht halten. Alle, die es für töricht hielten, sich so weit aus dem Fenster zu lehnen, hatten am Ende Recht.

So hatten wir uns das nicht vorgestellt. In Zeitschriften und Zeitungen, Blockbusterfilmen und unzähligen Blogs wurde uns immer wieder das Mantra des erfolgreichen Existenzgründers vorgebetet: Mit Entschlossenheit, Brillanz, dem perfekten Timing und einem unschlagbaren Produkt ist der Weg zu Ruhm und Reichtum geradezu vorprogrammiert.

Eine ganze Industrie ist damit befasst, solche Mythen in die Welt zu setzen und zu verbreiten, doch sie sind nichts als Ammenmärchen, entspringen dem Bemühen, vollendete Tatsachen rational zu erklären. Ich habe mit Hunderten frischgebackener Existenzgründer gearbeitet und oft erlebt, wie ein vielversprechender Start in einem Fiasko endete. Fakt ist, traurig, aber wahr, dass die meisten Startups auf der Strecke bleiben. Die meisten neuen Produkte versanden. Die meisten innovativen Projekte schaffen es nicht, ihrem Potenzial gerecht zu werden.

Dennoch hat die Geschichte von der Ausdauer, der schöpferischen Begabung und harten Arbeit bis heute überlebt. Warum ist sie so beliebt? Diese moderne Variante der Story »Vom Tellerwäscher zum Millionär« hat etwas, das uns im tiefsten Innern anspricht. Sie verspricht, dass sich der Erfolg von allein einstellt, wenn man das Zeug dazu hat. Sie unterstellt, dass die Details, der langweilige Kleinkram, die Wahlmöglichkeiten des Einzelnen banal sind, nicht wirklich zählen. Wir handeln nach dem Motto: »Wenn wir ihnen ein Produkt vorsetzen, kommen die Kunden schon von allein.« Wenn wir scheitern, wie so viele, haben wir sogleich eine Entschuldigung parat: Wir hatten nicht das richtige Produkt. Es fehlte der visionäre Weitblick oder wir waren zur falschen Zeit am falschen Ort.

Nach über zehn Jahren als Entrepreneur lehne ich diese Denkweise ab. Ich habe aus den Erfolgen und Misserfolgen gelernt, den eigenen und denen vieler anderer, dass genau dieser langweilige »Kleinkram« am stärksten ins Gewicht fällt. Der Erfolg eines Startups ist nicht auf gute Gene oder den Umstand zurückzuführen, dass man sich zur richtigen Zeit am richtigen Ort befunden hat. Erfolg lässt sich gezielt herbeiführen, indem man die richtigen Schritte einleitet. Es ist ein Prozess, den man erlernen kann, was wiederum bedeutet, dass sich dieses Wissen weitervermitteln lässt.

Entrepreneurship hat mit Management zu tun. Ja, Sie haben richtig gelesen. Die Vorstellungen, die wir mit den beiden Begriffen verbinden, weichen oft weit voneinander ab. Es scheint, als wären Entrepreneure cool, innovativ und spannend und Manager langweilig, ernst und emotionslos. Es ist an der Zeit, diese Vorurteile unter die Lupe zu nehmen.

Ich möchte Ihnen dazu eine zweite Startup-Geschichte erzählen: Wir schreiben das Jahr 2004 und eine Gruppe von Existenzgründern hat soeben einen neuen Versuch gestartet. Ihre erste Firma ist mit Glanz und Gloria untergegangen. Ihre Glaubwürdigkeit hat ein Rekordtief erreicht. Aber sie haben hochfliegende Pläne: Sie wollen die Kommunikationsmethoden mithilfe einer neuen Technologie, Avatare genannt (das war noch vor der Zeit, als James Camerons Kinofilm zum Kassenknüller wurde), von Grund auf verändern. Sie folgen einem Visionär namens Will Harvey, der ein überzeugendes Bild von einer Welt entwarf, in der sich die Menschen mithilfe von Avataren (künstlichen Personen oder grafischen Stellvertretern in der virtuellen Welt) vernetzen und Zeit online verbringen, um soziale Beziehungen aufzubauen und zugleich ihre Anonymität zu wahren. Statt Kleidung, Mobiliar und anderes Zubehör für die Avatare anzubieten, mit denen sie ihr digitales Leben ausstaffieren könnten, sollen die Kunden diese Accessoires selbst schaffen und sich gegenseitig verkaufen.

Die technische Herausforderung, der sich unsere Existenzgründer gegenübersehen, ist gigantisch: Es gilt, virtuelle Welten, nutzergenerierte Inhalte, eine Online-Handelsmaschinerie, Mikrozahlungen und eine dreidimensionale Avatar-Technologie zu schaffen, die sich auf jedem PC installieren lässt.

Ich komme auch in dieser zweiten Geschichte vor. Ich war Mitgründer und Technischer Leiter (CTO) dieses Unternehmens, das den Namen IMVU trägt. In diesem Stadium unserer beruflichen Laufbahn waren meine Mitstreiter und ich fest entschlossen, neue Fehler zu begehen. Wir machten alles falsch: Statt Jahre in die Perfektionierung unserer Technologie zu investieren, entwickelten wir auf die Schnelle ein Produkt, das gerade so funktionsfähig war, aber vor Bugs (Programm- oder Softwarefehlern) und Stabilitätsproblemen strotzte, die einen Computer mit Pauken und Trompeten zum Absturz bringen können. Wir gaben es frei, bevor es überhaupt fertig war. Und dann verlangten wir auch noch Geld dafür. Sobald wir die ersten Kunden hatten, veränderten wir das Produkt fortwährend – viel zu schnell nach herkömmlichen Maßstäben, sodass jeden Tag ein Dutzend Mal neue Versionen veröffentlicht wurden. Anfangs hatten wir tatsächlich Kunden – Technologiefans, Early Adopters, die unsere Vision teilten; wir kommunizierten häufig mit ihnen und baten um Rückmeldungen. Aber wir hielten uns nachdrücklich nicht an ihre Ratschläge. Ihr Beitrag war für uns nur eine Quelle von vielen, die uns Informationen über das Produkt und unser Gesamtkonzept lieferten. Wir waren eher geneigt, Experimente mit unseren Kunden durchzuführen, als auf ihre Launen und Wünsche einzugehen.

Laut Lehrbuch kann dieser Ansatz nicht funktionieren, aber er funktioniert sehr wohl, ob Sie es glauben oder nicht! Wie Sie im Folgenden sehen werden, wurde das IMVU-Konzept zum Fundament einer neuen weltweiten Entrepreneur-Bewegung. Es baut auf vielen bereits vorhandenen Management- und Produktentwicklungsideen auf, wie etwa Lean Manufacturing (schlanke Produktion), Designorientierung, Kundenentwicklung und agile Softwareentwicklung. Dieser neue Ansatz zur Realisierung einer fortlaufenden Innovationstätigkeit wird Lean Startup (schlanke Existenzgründung) genannt.

Trotz der Wälzer, die über Unternehmensstrategien, die Schlüsselmerkmale von Firmenlenkern und die Möglichkeiten geschrieben wurden, den nächsten großen Produktcoup vorauszusehen, haben innovative Menschen es auch heute noch schwer, ihre Ideen zu verwirklichen. Diese frustrierende Erfahrung bewog uns bei IMVU, einen völlig neuartigen Weg einzuschlagen, mit extrem kurzer Zykluszeit, Fokussierung auf Kundenwünsche (ohne sie danach zu fragen) und einer wissenschaftlich fundierten Methode der Entscheidungsfindung.

Die Ursprünge des Lean-Startup-Konzepts

Ich gehöre zu den Leuten, denen es in die Wiege gelegt wurde, Computer zu programmieren, und deshalb haben sich meine Überlegungen zum Thema Unternehmensgründung und Unternehmensführung auf Umwegen entwickelt. Ich habe stets auf der Produktentwicklungsseite meiner Branche gearbeitet; meine Partner oder Vorgesetzten waren Manager oder Marketingexperten und meine Kollegen im technischen oder operativen Bereich tätig. Während meiner gesamten beruflichen Laufbahn hatte ich im Schweiße meines Angesichts an Produkten gearbeitet, die am Markt scheiterten.

Aufgrund meiner Vorgeschichte führte ich diese Fehlschläge zunächst auf technische Probleme zurück, die technische Lösungen verlangten: eine Verbesserung der Architektur, des Konstruktionsprozesses, der Disziplin, der Fokussierung oder der Produktvision. Doch diese Optimierungsbemühungen zogen lediglich weitere Fehlschläge nach sich. Also las ich alles, was mir in die Hände fiel, und hatte zudem das Glück, einige der fähigsten Köpfe von Silicon Valley als Mentoren zu haben. Zu dem Zeitpunkt, als ich Mitgründer der IMVU wurde, war ich geradezu versessen auf neue Ideen, wie man ein Unternehmen aufbaut.

Ein Glück war auch, dass meine Mitstreiter bereit waren, sich auf Experimente einzulassen. Sie hatten genau wie ich die Nase voll von den althergebrachten Erfolgsrezepten«. Ein weiterer Segen war, dass wir Steve Blank als Investor und Berater ins Boot holen konnten. 2004 hatte er gerade begonnen, die Werbetrommel für eine neue innovative Idee zu rühren: Die Geschäfts- und Marketingfunktionen eines Startups waren nach seinem Dafürhalten genauso wichtig wie Produktdesign und Produktentwicklung; deshalb verdienten sie eine gleichermaßen rigorose, systematische Vorgehensweise als Orientierungshilfe. Er bezeichnete diese Vorgehensweise als Kundenentwicklung, eine Disziplin, die mir Erkenntnisse und Wegweiser für meine tägliche Arbeit als Entrepreneur bot.

In der Zwischenzeit baute ich das Produktentwicklungsteam von IMVU auf, wobei ich einige der eingangs erwähnten unorthodoxen Methoden anwendete. Gemessen an den klassischen Produktentwicklungstheorien, die man mir im Laufe meiner beruflichen Karriere eingebläut hatte, machten diese Methoden wenig Sinn, doch ich konnte aus erster Hand miterleben, dass sie funktionierten. Ich bemühte mich, diese Praktiken neuen Mitarbeitern, Investoren und anderen Firmengründern zu erklären. Es gab jedoch keine gemeinsame Sprache, um sie zu beschreiben, und keine konkreten Gesetzmäßigkeiten, um sie zu begreifen.

Ich begann, außerhalb der Entrepreneurszene nach Denkansätzen zu suchen, um mir einen Reim auf meine Erfahrungen zu machen. Ich nahm andere Branchen ins Visier, vor allem den Herstellungsbereich, aus dem die meisten modernen Managementtheorien abgeleitet wurden. Ich beschäftigte mich mit Lean Manufacturing, einem Prozess, der im Toyota-Produktionssystem in Japan seinen Anfang nahm und eine völlig neue Einstellung zur Produktion physischer Güter beinhaltet. Durch die Übertragung verschiedener Lean-Manufacturing-Konzepte auf meine eigenen unternehmerischen Herausforderungen – mit einigen Modifikationen und Veränderungen – schuf ich einen groben Rahmen, um die Zusammenhänge zu verstehen.

Diese Gedankengänge entwickelten sich Schritt für Schritt zum Lean-Startup-Konzept: die Anwendung des Lean Thinking auf den Innovationsprozess.

IMVU wurde ein Bombenerfolg. Die IMVU-Kunden haben mehr als 60 Millionen Avatare geschaffen. Das Unternehmen ist gewinnträchtig, es wies 2011 einen Jahresertrag von mehr als 50 Millionen Dollar aus und in unserer derzeitigen Niederlassung in Mountain View, Kalifornien, beschäftigen wir über 100 Mitarbeiter. IMVUs virtueller Warenkatalog – der noch vor einigen Jahren als hochriskantes Projekt galt – enthält heute mehr als 6 Millionen Fanartikel; jeden Tag werden über 7 000 hinzugefügt, fast alle von Kunden entwickelt.

Durch den Erfolg von IMVU wurde ich immer häufiger von anderen Startups und Risikokapitalgebern um Rat gebeten. Wenn ich meine Erfahrungen bei IMVU schilderte, erntete ich oft verständnislose Blicke oder stieß auf unverhohlene Skepsis. Die häufigste Antwort war: »Das funktioniert nie!« Meine Erfahrungen standen in einem so krassen Gegensatz zu den klassischen Konzepten, dass selbst Silicon Valley, ein Mekka der Innovation, sich damit schwertat.

Dann begann ich zu schreiben, zuerst in einem Blog namens Startup Lessons Learned, und Vorträge zu halten – bei Konferenzen, vor Unternehmen, Existenzgründern und Risikokapitalgebern – kurzum vor jedem, der hören wollte, was ich zu sagen hatte. Da ich gezwungen war, meine Erkenntnisse immer wieder zu verteidigen und zu erklären, und dank der Zusammenarbeit mit anderen Autoren, Denkern und Entrepreneuren, konnte ich die Lean-Startup-Theorie über die rudimentären Anfänge hinaus verfeinern und weiterentwickeln. Ich hoffte, eine Methode zu finden, mit der sich die enorme Verschwendung beenden ließ, die ich ringsum sah: Startups mit Produkten, die keine Abnehmer fanden; neue Produkte, die schon nach kurzer Zeit zu Ladenhütern wurden; unerfüllte Träume zuhauf.

Schließlich weitete sich die Lean-Startup-Idee zu einer ganzen Bewegung aus. Entrepreneure schlossen sich in der realen Welt zusammen, um sich über die Lean-Startup-Konzepte auszutauschen. Inzwischen gibt es organisierte Gruppen und Communitys, die Lean-Start-
up-Prinzipien weltweit in mehr als 100 Großstädten umsetzen.1 Meine Geschäftsreisen haben mich kreuz und quer durch viele Länder und Kontinente geführt. Überall sah ich die Zeichen einer unternehmerischen Renaissance. Die Lean-Startup-Bewegung ermöglicht einer ganz neuen Generation von Entrepreneuren den Zugriff auf neue Konzepte und Strategien, die für den Aufbau erfolgreicher Unternehmen in unserer heutigen Zeit unabdingbar sind.

Obwohl ich mir meine Sporen in der Hightech-Softwarebranche verdient habe, ist die Bewegung weit über ihre Wurzeln hinausgewachsen. Tausende Entrepreneure setzen die Lean-Startup-Prinzipien in jeder nur erdenklichen Industrie um. Seither hatte ich Gelegenheit, mit Entrepreneuren in Unternehmen unterschiedlicher Größe und Branchenzugehörigkeit zu arbeiten, Regierungsorganisationen eingeschlossen. Meine Mission hat mich in Gefilde geführt, die zu betreten ich mir nie erträumt hätte, von der internationalen Elite der Risikokapitalgeber bis hin zu den Vorstandsetagen der Fortune-500-Unternehmen und den heiligen Hallen des Pentagon. Besonders nervös war ich, als ich dem Leiter der Informationstechnologie der U. S. Army die Lean-Startup-Prinzipien zu erklären versuchte, einem Drei-Sterne-General (nur zu Ihrer Information, er war sehr aufgeschlossen gegenüber neuen Ideen, obwohl sie von einem Zivilisten stammten).

Ziemlich bald wurde mir klar, dass ich mich der Lean-Startup-Bewegung voll und ganz widmen musste, um sie voranzubringen. Mein langfristiges, ehrgeiziges Ziel: die Erfolgsrate neuer, innovativer Produkte weltweit zu verbessern. Das Ergebnis ist unter anderem dieses Buch.

Die Lean-Startup-Methode

Dieses Buch wurde für Entrepreneure und die Personen geschrieben, denen sie Rede und Antwort stehen müssen. Die fünf Prinzipien, die der Lean-Startup-Methode zugrunde liegen und nachfolgend erklärt werden, lauten:

  1. Entrepreneure gibt es überall. Startups müssen nicht in einer Garage mit ihren unternehmerischen Aktivitäten beginnen. Der Begriff des Entrepreneurs trifft auf jeden zu, der in einem »Startup« arbeitet. Ich verstehe darunter eine menschliche Organisationsform, die sich zum Ziel gesetzt hat, unter extrem unsicheren Bedingungen neue, innovative Produkte und Dienstleistungen zu schaffen. Das bedeutet, Entrepreneure findet man überall und der Lean-Startup-Ansatz funktioniert auch innerhalb eines etablierten Unternehmens, ungeachtet der Größe, des Sektors oder der Branche.
  2. Entrepreneurship ist Management. Ein Startup ist nicht nur ein Produkt, sondern eine Organisation und verlangt daher Führungskompetenzen, die auf den Kontext ex-
    tremer Unsicherheit zugeschnitten sind. Der Begriff »Entrepreneur« sollte in allen modernen Unternehmen, deren künftiges Wachstum von ihrer Innovationskraft abhängt, als Berufsbezeichnung eingeführt werden.
  3. Validierte Lernprozesse. Startups existieren nicht nur, um Produkte herzustellen, Geld zu verdienen oder Kundenbedürfnisse zu befriedigen. Ihr eigentlicher Daseinszweck besteht darin, zu lernen, wie man ein tragfähiges Geschäftsmodell aufbaut. Diese Lernprozesse können anhand fortlaufender Experimente validiert werden, mit deren Hilfe Entrepreneure jedes Element ihrer unternehmerischen Vision überprüfen können.
  4. Bauen, messen, lernen. Die grundlegenden Tätigkeiten eines Startups bestehen darin, Ideen in Produkte umzuwandeln, die Reaktion der Kunden zu messen und daraus zu lernen, ob der eingeschlagene Weg fortgesetzt werden sollte oder Anpassungen erfordert. Alle erfolgreichen Startup-Prozesse sollten darauf ausgerichtet sein, diese Feedbackschleife zu beschleunigen.
  5. Innovationsbilanz. Um das Ergebnis der Startup-Aktivitäten zu verbessern und die Eigenverantwortung der Entrepreneure zu fördern, müssen wir unser Augenmerk auf den »langweiligen Kleinkram« richten: Erfolge messen, Meilensteine als Wegmarken errichten, Aufgaben die entsprechenden Prioritäten zuweisen. Das erfordert von Start-
    ups und den Personen, denen sie Rechenschaft ablegen müssen, eine neue Art, über Soll und Haben Buch zu führen.

Warum Startups scheitern

Warum scheitern so viele Startups, egal, wohin man auch schaut?

Das erste Problem ist die magische Anziehungskraft eines guten Businessplans, einer hieb- und stichfesten Strategie und gründlicher Marktforschungsaktivitäten. Früher waren sie Indikatoren für die Erfolgswahrscheinlichkeit. Die Versuchung, sie auch bei Startups anzuwenden, ist groß, doch das funktioniert nicht, weil diese in einem Umfeld extremer Ungewissheit operieren. Sie können noch nicht genau ermessen, wer ihr Kunde ist oder wie ihr Produkt beschaffen sein sollte. Da die Welt immer unwägbarer wird, wird es auch immer schwieriger, die Zukunft vorherzusehen. Die traditionellen Managementmethoden sind nicht mehr für diese Aufgabe gerüstet. Planung und Prognose sind nur dann treffsicher, wenn sie auf einer langen Unternehmensgeschichte und einer relativ statischen Umgebung basieren. Startups fehlt beides.

Das zweite Problem besteht darin, dass einige Entrepreneure und Investoren kapitulieren, weil das traditionelle Management versagt, und eine »Einfach-drauflos«-Haltung annehmen. Diese besagt: Wenn es sich um ein Führungsproblem handelt, ist Chaos die Lösung. Leider kann ich aus erster Hand bestätigen, dass man auch auf diesem Weg nichts erreicht.

Der Gedanke, dass ein so disruptives, innovatives und chaotisches Unternehmen wie ein Startup lenkbar sein könnte oder genauer gesagt der Lenkung bedarf, scheint auf den ersten Blick jedem intuitiven Gefühl zu widersprechen. Die meisten Menschen finden Arbeits- und Führungsprozesse langweilig, und daher nicht vereinbar mit Startups, die dynamisch und spannend sind. Spannend ist es aber nur, wenn man zuschauen kann, wie Startups Erfolge erzielen und die Welt verändern. Ressourcen wie Leidenschaft, Energie und Vision, die in diese neuen, risikoreichen Initiativen einfließen, sind zu kostbar, um verschwendet zu werden. Wir können – und müssen – sie besser nutzen. Wie? Das erfahren Sie in diesem Buch.

Aufbau des Buchs

Das Buch ist in drei Teile untergliedert: »Vision«, »Steuerung« und »Beschleunigung«.

Im Mittelpunkt des ersten Teils steht eine neue Führungsdisziplin, die sich auf unternehmerisches Denken und Handeln stützt. Sie erfahren, welche Eigenschaften einen echten Entrepreneur auszeichnen, was ein Startup als solches qualifiziert und wie es sich mithilfe validierter Lernprozesse selbst einschätzt, sobald es Fortschritte macht. Um diese Lernprozesse zu gewährleisten, können Startups – gleich ob in einer Garage oder innerhalb eines Unternehmens – anhand wissenschaftlich fundierter Experimente herausfinden, wie sie ein nachhaltiges, tragfähiges Geschäftsmodell aufbauen.

Der zweite Teil »Steuerung«, taucht in die Lean-Startup-Methode ein und zeigt eine wichtige Station im Kern der Bauen-Messen-Lernen-Feedbackschleife. Beginnend mit zunächst unüberprüften, gewagten Annahmen, erfahren Sie, wie Sie ein minimal funktionsfähiges Produkt entwickeln, um diese Annahmen zu testen, lernen ein neues Bilanzierungssystem kennen, mit dem Sie feststellen können, ob Sie Fortschritte erzielen, und machen sich mit einer Methode vertraut, anhand derer Sie entscheiden, ob Sie Ihren Kurs fortsetzen oder korrigieren sollten (mit einem Fuß fest im gewonnenen Boden verankert).

Im dritten Teil »Beschleunigung«, erkunden wir Techniken, die Lean Startups befähigen, die Bauen-Messen-Lernen-Feedbackschleife so schnell wie möglich zu durchlaufen, auch wenn sie ihren Radius erweitern. Wir befassen uns mit schlanken Produktionskonzepten, die auch auf Startups anwendbar sind, wie beispielsweise die Macht von kleinen Batch- oder Losgrößen. Wir werfen einen Blick auf die Organisationsstrukturen, die Wachstumspfade eines Produkts und die Anwendung der Lean-Startup-Prinzipien über die sprichwörtliche Garage hinaus, auch innerhalb der größten Konzerne der Welt.

Das nächste Zeitalter des Managements

Als Gesellschaft haben wir eine Reihe bewährter Führungstechniken für große Unternehmen entwickelt und die besten Mittel und Wege erkundet, um physische Produkte zu bauen. Doch was Startups und Innovation angeht, tappen wir noch immer im Dunkeln. Wir verlassen uns auf Visionen, folgen den Spuren der »Gurus«, die mit ihren magischen Kräften wahre Wunder vollbringen, oder versuchen, unsere neuen Produkte zu Tode zu analysieren. Das sind neue Probleme, die in der erfolgreichen Unternehmensführung des 20. Jahrhunderts wurzeln.

In diesem Buch werden Entrepreneurship und Innovation auf ein unerschütterliches Fundament gestellt. Das nächste Zeitalter des Managements bricht an. Unsere Herausforderung ist es, die Chance, die wir erhalten haben, bestmöglich zu nutzen. Die Lean-Startup-Bewegung möchte denjenigen, die den nächsten großen Produktcoup zu landen hoffen, das erforderliche Werkzeug an die Hand geben, um die Welt zu verändern.

Teil I
Vision

1. Start

Entrepreneurship ist Management

Der Aufbau eines Startups ist eine Übung, die grundlegend dem Aufbau einer Organisation – gleich welcher Art – entspricht; daher gehört Management einfach dazu. Das scheint viele angehende Gründer zu überraschen, weil sie mit diesem Begriff oft diametral entgegengesetzte Vorstellungen verbinden. Entrepreneure von echtem Schrot und Korn stehen der Einführung klassischer Führungspraktiken gleich zu Beginn eines Startups zu Recht skeptisch gegenüber: Sie befürchten, der Bürokratie Tür und Tor zu öffnen oder die Kreativität abzuwürgen.

Entrepreneure haben seit Jahrzehnten die Quadratur des Kreises gesucht, in dem Bemühen, ihre spezifischen Probleme in die landläufigen Managementschablonen zu pressen. Infolgedessen haben viele eine »Einfach-drauflos«-Mentalität entwickelt und meiden jede Form von Führungs-, Arbeits- und Ordnungsprozessen. Bedauerlicherweise führt dieser Ansatz eher ins Chaos als zum Erfolg. Ich kann ein Lied davon singen: Meine ersten Startup-Fehlschläge entfielen ausnahmslos auf diese Kategorie (wie in der Einleitung ersichtlich).

Der Erfolg des klassischen Managementsystems im Laufe des letzten Jahrhunderts hat uns eine nie dagewesene Fülle an Lehrmaterial beschert, doch diese Führungsprinzipien sind denkbar ungeeignet, um das von Experimenten und Ungewissheit geprägte Umfeld in den Griff zu bekommen, das Startups umgibt.

Entrepreneurship erfordert in meinen Augen eine eigene Führungsdisziplin, um die ungeheuren unternehmerischen Chancen, die sich uns bieten, in die richtigen Bahnen zu lenken. Heutzutage gibt es mehr Entrepreneure als jemals zuvor – die massiven Veränderungen der globalen Wirtschaft machten es möglich. Um nur ein Beispiel zu nennen: Viele beklagen den massiven Verlust von Arbeitsplätzen im verarbeitenden Gewerbe, der während der letzten beiden Jahrzehnte in den USA zu beobachten war, aber man hört selten etwas über den damit verbundenen Verlust von Fertigungskapazitäten in diesem Bereich. Das liegt daran, dass sich die gesamte Produktionsleistung in den USA trotz des anhaltenden Stellenabbaus erhöht hat (während der letzten zehn Jahre um 15 Prozent, siehe nachfolgende Abbildungen). Die enormen Produktivitätssteigerungen, ermöglicht durch moderne Managementmethoden und Technologie, haben mehr als genug Produktionskapazität geschaffen.2

Abb.1

Abb. 2

Abb. 3

Wir erleben derzeit eine nie dagewesene weltweite Wiedergeburt des unternehmerischen Denkens und Handelns, doch dieser Lichtblick hat seine Schattenseiten. Da es uns an zusammenhängenden Führungsparadigmen für neue innovative Initiativen fehlt, werfen wir mit unseren überschüssigen Kapazitäten wild um uns. Trotz des Mangels an Stringenz entdecken wir die eine oder andere Möglichkeit, Geld zu verdienen, doch auf jeden Erfolg kommen zu viele Misserfolge: Produkte, die nur wenige Wochen nach ihrer Einführung ausgemustert werden; hochgradig sichtbare und in der Presse hochgelobte Startups, die einige Monate später in der Versenkung verschwinden; neue Produkte, die niemand benutzt. Was diese Flops besonders schmerzlich macht, ist nicht nur der ökonomische Schaden, den einzelne Mitarbeiter, Unternehmen und Investoren erleiden, sondern auch die kolossale Verschwendung der kostbarsten Ressourcen unserer menschlichen Zivilisation: Zeit, Engagement und Talent. Die Lean-Startup-Bewegung hat sich der Aufgabe verschrieben, solchen Misserfolgen vorzubeugen.

Die Wurzeln der Lean-Startup-Methode

Die Lean-Startup-Methode leitet ihren Namen aus der Lean-Manufacturing-Revolution her, der sogenannten schlanken Produktion, deren Entwicklung auf Toyota und die beiden Japaner Taiichi Ohno und Shigeo Shingo zurückgeführt wird. Schlankes Denken hat einen radikalen Wandel in den Wertschöpfungsketten und Fertigungssystemen ausgelöst. Zu den Grundsätzen dieser Methode gehören unter anderem die Nutzbarmachung des Wissens, die Eigenverantwortung jedes einzelnen Mitarbeiters, die Verringerung der Losgrößen, Just-in-time-Produktion, Bestandskontrollen und die Beschleunigung der Zykluszeiten. Sie führten der Welt den Unterschied zwischen wertschöpfenden Aktivitäten und Verschwendung vor Augen und zeigten, wie sich die Produktqualität von innen nach außen erhöhen lässt.

Das Lean-Startup-Konzept stimmt diese Ideen auf den Kontext ab, in dem Entrepreneure agieren, die ihre Fortschritte anders beurteilen sollten als in anderen Unternehmensbereichen. Fortschritte im verarbeitenden Gewerbe werden an der Produktion von qualitativ hochwertigen physischen Gütern gemessen. Wie wir in Kapitel 3 sehen werden, geht die Lean-Startup-Methode von einer anderen Definition des Begriffs »Fortschritt« aus; wir verstehen darunter validiertes Lernen. Da der Lernprozess unser Maßstab ist, können wir die enorme Verschwendung erkennen und eliminieren, die unternehmerisches Denken und Handeln beeinträchtigt.

Eine umfassende Entrepreneurship-Theorie sollte sämtliche Aspekte einer innovativen, risikobehafteten Initiative ansprechen: Vision und Konzept, Produktentwicklung, Marketing und Vertrieb, Modellübertragung (Scale-up), Partnerschaften und Distribution, Struktur und Organisationsdesign. Sie sollte Startup-Initiativen eine Methode an die Hand geben, Fortschritte im Kontext extremer Unsicherheit zu messen. Sie sollte Entrepreneuren klare Orientierungshilfen für die schwerwiegenden Entscheidungen bieten, denen sie sich gegenübersehen: Ob und wann sie in Arbeitsabläufe investieren; wie man die Infrastruktur ausgestaltet, plant und bereitstellt; ob man den Weg allein gehen oder eine Partnerschaft anstreben soll; wann man auf Rückmeldungen reagieren und wann man an seiner Vision festhalten sollte; und wie und wann man eine Skalierung des Geschäftsmodells in Betracht ziehen sollte. Vor allem aber sollte sie überprüfbare Prognosen ermöglichen.

Nehmen wir beispielsweise die Empfehlung, funktionsübergreifende Teams zu bilden und ihnen die Verantwortung für die Meilensteine im Lernprozess zu übertragen, statt streng nach funktionalen Gesichtspunkten Abteilungen einzurichten (zum Beispiel Marketing, Vertrieb, Informationstechnologie, Personalabteilung usw.), in denen die Mitarbeiter für gute Leistungen in ihrem Spezialbereich verantwortlich sind. Egal ob Sie der Empfehlung zustimmen oder ihr mit Skepsis begegnen: Wenn Sie beschließen, sie umzusetzen, bin ich sicher, dass Sie ziemlich schnell die Rückmeldung von Ihren Teams bekommen, dass der neue Prozess ihre Produktivität beeinträchtigt. Man wird Sie bitten, zur alten Arbeitsweise zurückzukehren, die Ihren Mitarbeitern die Möglichkeit bot, »ihre Effizienz« durch Mehrarbeit und Durchreichen der Aufgaben an andere Abteilungen zu erhalten.

Ich kann dieses Ergebnis getrost vorhersagen, und nicht nur, weil ich es in vielen Unternehmen gesehen habe. Es handelt sich um eine klare Prognose, die sich auf die »Startphase« der Lean-Startup-Theorie bezieht. Wenn Mitarbeiter daran gewöhnt sind, ihre Produktivität lokal zu messen, haben sie das Gefühl, etwas geleistet zu haben, wenn sie ihre Aufgaben einen ganzen Tag lang zu ihrer Zufriedenheit erledigen. Während meiner Tätigkeit als Programmierer bedeutete das, acht Stunden ohne Unterbrechung zu programmieren. Wenn mir das gelang, war das für mich ein guter Tag. Wenn ich dagegen durch Fragen, andersgeartete Prozesse oder, Gott bewahre, Besprechungen aus meinem Trott gerissen wurde, fühlte ich mich schlecht. Was hatte ich an solchen Tagen geschafft? Codes und Funktionen waren greifbar für mich; ich konnte sie sehen, verstehen, darauf verweisen. Lernprozesse sind dagegen auf frustrierende Weise immateriell.

Die Lean-Startup-Methode verlangt eine neue Art, die eigene Produktivität zu messen. Da Neugründungen oft Produkte und Dienstleistungen entwickeln, die letztlich niemand will, spielt es keine Rolle, ob sie sich an Zeit und Budgetvorgaben halten. Das Ziel eines Startups besteht darin, so schnell wie möglich herauszufinden, was es wirklich anbieten sollte – was Kunden wollen und wofür sie bereit sind zu zahlen. Mit anderen Worten, die Lean-Startup-Methode bietet eine neuartige Möglichkeit, die Entwicklung innovativer neuer Produkte zu betrachten; sie legt Wert auf kurze Zykluszeiten, Kundenrückmeldungen, eine weitgreifende Vision und hochgesteckte Ziele – und das alles gleichzeitig.

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Henry Ford gehört zu den erfolgreichsten und berühmtesten Entrepreneuren aller Zeiten. Die Idee der Unternehmensführung ist eng mit der Geschichte der Automobilindustrie verknüpft, seit ihren Anfängen, und deshalb ist ein Auto meiner Ansicht nach eine ideale Metapher für ein Startup.

Ein Auto mit Verbrennungsmotor wird von zwei wichtigen und völlig unterschiedlichen Feedbackschleifen gespeist. Die eine befindet sich im Innern der Maschine. Bevor sich Henry Ford als Konzernlenker einen Namen machte, war er Ingenieur. Er bastelte Tag und Nacht in seiner Garage an Präzisionsinstrumenten, mit denen sich die Zylinder des Motors in Bewegung versetzen ließen. Jede noch so kleine Explosion im Zylinder erzeugt die Antriebskraft, um die Räder zu drehen, löst aber auch die nächste Explosion aus. Wenn der Zeitablauf dieser Rückkoppelungsschleife nicht präzise gesteuert wird, stottert der Motor und geht aus.

Startups verfügen über einen ähnlichen Motor, den Wachstumsmotor. Ihre jeweiligen Märkte und Kunden sind unterschiedlich geartet: Ein Spielwarenhersteller, eine Beratungsfirma und eine Fabrik scheint auf den ersten Blick nicht viel zu verbinden – bis auf ihren identischen Wachstumsmotor.

Jede neue Produktversion, jede neue Produktfunktion und jedes neue Marketingprogramm stellt einen Versuch dar, diesen Wachstumsmotor zu verbessern. Doch wie bei Henry Fords Experimenten in der Garage erweisen sich nicht alle Veränderungen als Verbesserungen. Die Entwicklung neuer Produkte findet nur sporadisch statt. Den Großteil der Zeit verbringt man in einem Startup damit, das Produkt, das Marketing oder die Betriebsabläufe zu optimieren.

Die zweite wichtige Feedbackschleife bei einem Automobil umfasst den Fahrer und das Lenkrad. Das Feedback erfolgt so unmittelbar und automatisch, dass wir nur selten darüber nachdenken, doch genau dieser Lenkvorgang unterscheidet Autofahren von anderen Transportarten. Wenn Sie jeden Tag mit dem Auto zur Arbeit fahren, kennen Sie die Strecke vermutlich im Schlaf. Doch wenn man Sie bitten würde, die Augen zu schließen und genau zu erklären, wie Sie ins Büro kommen – nicht die Strecke, sondern jede einzelne Drehung des Lenkrads und jede Fußbewegung auf den Pedalen –, würden Sie feststellen, dass es Ihnen nicht gelingt. Die Choreografie des Fahrens ist unglaublich komplex, wenn man »einen Gang herunterschaltet«, um darüber nachzudenken.

Spaceshuttles mit Trägerraketen erfordern im Gegensatz dazu bereits im Vorfeld genau diese Form der Kalibrierung. Sie müssen vor dem Start mit präzisen Handlungsanweisungen versehen sein: Programmierungen, die jeden Schub, jedes Abfeuern einer Trägerrakete und jede Richtungsänderung regeln. Der geringste Fehler zum Zeitpunkt des Raketenstarts könnte Tausende Kilometer später katastrophale Folgen haben.

Aus den Businessplänen vieler Startups könnte man leider schließen, dass sie ein Spaceshuttle in den Weltraum schießen wollen, statt Auto zu fahren. Sie legen sämtliche Schritte und erwarteten Ergebnisse bis in die kleinsten Einzelheiten fest. Und wie beim geplanten Abschuss einer Rakete werden sie so präzise programmiert, dass selbst die geringsten Fehlannahmen katastrophale Folgen zeitigen können.

Ein Unternehmen, mit dem ich gearbeitet habe, sagte für ein neues Produkt eine erhebliche Kundenakzeptanz voraus – in Millionenhöhe. Beflügelt von der spektakulären Einführung, setzte das Unternehmen seinen Plan präzise um. Doch es hatte die Rechnung ohne den Wirt gemacht – die Kunden rissen sich nicht gerade um das neue Produkt. Und schlimmer noch: Man hatte in eine umfangreiche Infrastruktur, die Einstellung von Mitarbeitern und technischen Support investiert, um den erwarteten Kundenansturm zu bewältigen. Als dieser ausblieb, hatte sich das Unternehmen so weit aus dem Fenster gelehnt, dass es sich nicht rechtzeitig anpassen konnte. Es hatte sich erfolgreich, guten Glaubens und rigoros selbst abgeschossen, indem es sich an einen Plan klammerte, der zahlreiche Fehlannahmen und Schwachstellen aufwies.

Die Lean-Startup-Methode zeigt Ihnen, wie man ein Startup lenkt. Statt vielschichtiger Pläne, die auf ungesicherten Annahmen basieren, können Sie mit einem Steuerinstrument, der sogenannten Bauen-Messen-Lernen-Feedbackschleife, fortlaufende Anpassungen vornehmen. Dieser Steuerprozess vermittelt das Wissen, wann es an der Zeit für eine radikale Wende, eine Kurskorrektur ist, und wann es gilt, den augenblicklichen Kurs beizubehalten. Sobald unser Motor auf Touren kommt, bietet die Lean-Startup-Methode Möglichkeiten, das Geschäftsmodell mit maximaler Geschwindigkeit in eine größere Dimension zu übertragen.

Während des Steuervorgangs haben Sie immer eine klare Vorstellung von dem Ziel, das Sie erreichen wollen. Wenn Sie mit dem Auto zur Arbeit fahren, lassen Sie Ihr Fahrzeug ja auch nicht stehen, nur weil Sie einen Umweg in Kauf nehmen müssen oder falsch abgebogen sind. Sie fokussieren sich darauf, an Ihrem Bestimmungsort anzukommen.

Startups haben außerdem einen »echten Norden«, ein langfristiges Ziel, im Blick: ein Unternehmen zu schaffen, das gedeiht und die Welt verändert. Dazu bedarf es einer Vision. Um diese Vision zu verwirklichen, setzen sie eine Strategie ein, die ein Geschäftsmodell, eine Produktlandkarte, eine Einstellung zum Thema Geschäftspartner und Konkurrenten und bestimmte Vorstellungen hinsichtlich der potenziellen Kunden umfasst. Das Produkt ist das Endergebnis dieser Strategie (siehe Abbildung 4).

Produkte ändern sich stetig während der Feinabstimmung des Motors. Möglicherweise, wenn auch seltener, muss die Strategie ebenfalls geändert werden (Kurskorrektur). Die übergeordnete Vision wird dagegen nur selten angetastet. Entrepreneure setzen alles daran, ein Startup ans Ziel zu bringen. Jeder Rückschlag ist eine Chance, zu lernen, wie sie am besten dorthin gelangen (siehe Abb. 4a). In der Realität ist ein Startup ein Sammelsurium von Aktivitäten. Vieles passiert gleichzeitig: Der Motor läuft rund, wir gewinnen neue Kunden und pflegen den vorhandenen Bestand; wir nehmen Feinabstimmungen vor, versuchen Produktmerkmale, Marketing und Betriebsabläufe fortlaufend zu verbessern; und wir steuern unser Vehikel, müssen entscheiden, ob und wann eine Kurskorrektur angeraten sein könnte. Die Herausforderung für einen Entrepreneur besteht darin, dass er alle diese Aktivitäten unter einen Hut bringen und ausbalancieren muss. Auch das kleinste Startup sieht sich der schwierigen Aufgabe gegenüber, die Bestandskunden technisch zu unterstützen und gleichzeitig Innovationen auf den Weg zu bringen. Selbst etablierte Unternehmen sind mit der Notwendigkeit konfrontiert, in Innovation zu investieren, um nicht als veraltet zu gelten. Was sich in der Wachstumsphase ändert, ist der Mix dieser Aktivitäten im Arbeits-
portfolio eines Unternehmens.

Abb. 4

Abb. 4a

Entrepreneurship ist Management. Doch stellen Sie sich einen modernen Manager vor, der mit der Aufgabe betraut wurde, ein neues Produkt in die bestehenden Strukturen eines etablierten Unternehmens einzufügen. Vielleicht tritt er nach einem Jahr vor seinen Finanzvorstand (CFO) und bekennt: »Wir haben die prognostizierten Wachstumsziele leider nicht erreicht. Wir haben fast keine neuen Kunden und Einnahmequellen erschlossen. Trotzdem haben wir viel gelernt und befinden uns an der Schwelle einer bahnbrechenden neuen Geschäftssparte. Alles, was wir brauchen, ist ein weiteres Jahr Zeit.« In der Regel wäre das der letzte Bericht, den ein solches Intrapreneur seinem Arbeitgeber erstattet. Die Unfähigkeit, konkrete Ergebnisse vorzuweisen, wird im klassischen Management meistens auf unzulängliche Planung oder mangelhafte Umsetzung zurückgeführt. Beides zählt zu den schwerwiegenden Versäumnissen, doch in unserer heutigen Wirtschaft pflastern genau diese Stolpersteine der Neuproduktentwicklung den Weg zu Ruhm und Reichtum. Die Lean-Startup-Bewegung berücksichtigt, dass auch diese firmeninternen Innovatoren zu den Entrepreneuren zählen und ein unternehmerisch denkendes und handelndes Management zu ihrem Erfolg beitragen kann. Das ist das Thema des nächsten Kapitels.