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Über dieses Buch

Es braucht den Klaps einer energischen Hebamme, damit das blau angelaufene Baby atmet. Aber nachdem der kleine Gad erst einmal Gefallen am Leben gefunden hat, kann ihn so schnell nichts aus der Bahn werfen: nicht die beginnende Ausgrenzung der Juden an den Schulen, nicht die Tatsache, dass ihn Männerkörper stärker faszinieren als weibliche Rundungen. Doppelt stigmatisiert, als Jude und Homosexueller, gelingt es Gad Beck inmitten des Nazi-Terrors, sein Leben zu meistern.

»Manche Lebensläufe enthalten eine solche Fülle an unerhörten Begebenheiten, dass sie allein ein geborener Erzähler zu bändigen vermag. Ein solcher Lebensbericht, in welchem das Wunder und die Rettung ihren Platz haben, sind die Erinnerungen des Gad Beck.« (Tagesspiegel)

Der Autor

Gad Beck wurde 1923 als Sohn einer christlich-jüdischen Familie in Berlin geboren. Er war von 1977 bis 1988 Leiter der Jüdischen Volkshochschule in Berlin und arbeitete eng mit Heinz Galinski zusammen. Gad Beck starb 2012 in Berlin.

Gad Beck
Und Gad ging zu David

Erinnerungen 1923 bis 1945

Herausgegeben und mit einem Nachwort von Frank Heibert

Edition diá

Gad Beck ist ein Lebenskünstler. Mit der richtigen Kombination aus Pfiffigkeit und Naivität, Witz und Kalkül begegnet er den Glücksmomenten wie den Widrigkeiten des Daseins, packt eine gute Gelegenheit beim Schopf und weiß jeder Katastrophe noch etwas Positives abzugewinnen. Gutes tun und gut leben schließen sich bei ihm nicht aus, sie bedingen sich geradezu; nur wer die Sinnesfreuden nicht vernachlässigt, vermag seine sieben Sinne zu nutzen.

Gad Beck ist kein Sonntagsredner. Er hat die deutsch-jüdische Zeitgeschichte erlebt, noch bevor sie »Weltgeschichte« wurde, und deshalb kann er sie konkret beschreiben, ohne die oft aufgesetzt wirkende »angemessene« Trauer oder politische Korrektheit. Er differenziert. Er hat einzelne Menschen und Situationen erlebt, nicht »die Deutschen« oder »die Juden«. Er verliert die übergeordnete Lage geistig nie aus dem Blick, doch es sind die kleinen Beobachtungen und Szenen, welche die Leser dazu einladen, sich in die schwer vorstellbare Zeit seiner Kindheit und Jugend einzufühlen, als das Ungeheuerliche Alltag war.

Gad Beck ist ein großartiger Geschichtenerzähler. Aus seinen Erinnerungen spricht die frische, manchmal sonnige Unmittelbarkeit des Erlebens. Mit seiner unverwechselbaren Mischung aus Berliner Schnauze, Wiener Schmäh, jiddischer Chuzpe und orientalischer Fabulierkunst schlägt er Brücken, wo andere Grenzen ziehen müssen.

Frank Heibert im April 1995

Inhalt

Über dieses Buch

Vorspiel

I

II

III

IV

V

VI

Nachwort

Impressum

Für Miriam, Zwi und Julius

Nach Wahrheit forschen,
Schönheit lieben,
Gutes wollen,
das Beste tun.
Moses Mendelssohn

»Was ist das – Optimismus?«
»Ach, das ist der Wahnsinn,
zu behaupten, dass alles gut sei,
auch wenn es einem schlecht geht.«
Voltaire, Candide oder Der Optimismus

Vorspiel

»So, das war’s!« Mit diesen Worten begann mein Leben.

Meine Schwester Margot lag strampelnd auf dem Tisch, krähte und freute sich ihres Daseins. Dr. Neumann wischte sich den Schweiß des dumpfen Spätjuninachmittags ab, packte sein Besteck zusammen und verabschiedete sich.

Und »das« wäre es beinahe schon gewesen. Meine Mutter war vollkommen erledigt, und die Hebamme wartete auf die Nachgeburt, um den Vorgang ordnungsgemäß abzuschließen. Da kam aber nichts. Meine Mutter begann allmählich zu fiebern. Die Hebamme verstand etwas von ihrem Geschäft. »Da steckt noch wat«, stellte sie trocken fest und schickte das Dienstmädchen los, um den Arzt zurückzuholen. Der kam auch gleich, packte hinein und stimmte zu: »Oje, da ist ja noch einer drin.«

Er holte mich heraus und warf mich auf den Tisch: ein Junge, aber ein »blaues Baby«. Ich gab keinen Ton von mir, das sah nicht gut aus. Neumann fing gleich an, meinen Vater zu trösten: »Ihr habt doch eine wunderbare, gesunde Tochter …«

Aber die Hebamme sorgte mit ein paar fachgerechten Schlägen auf den Allerwertesten dafür, dass auch ich zu atmen und zu schreien begann. Ich glaube übrigens fest daran, dass meine Lebensfreude und mein Optimismus auf diese »Gnade der Nachgeburt« zurückgehen.

Meine Mutter sah in den Umständen meiner Geburt ebenfalls erste schicksalhafte Weichenstellungen. Meine beiden liebsten Laster waren, keine Frage, seit jenem 30. Juni 1923 in mir angelegt: »Der war ja schon als Baby blau«, kommentierte sie, die ihren Humor erst in den fünfziger Jahren in Israel richtig entwickeln konnte, als ich es mir – oft recht beschwingt – im Gelobten Land gut gehen ließ; und dass die Hebamme mich beherzt ins Leben hineingeklopft hatte, betrachtete sie als frühe Sensibilisierung eines später in besonderer Weise empfindsamen Körperteils.

Eine andere frühkindliche Erfahrung hatte dagegen die Wirkung einer Aversionstherapie. Margot und ich lagen als Säuglinge im Zwillingskinderwagen einander gegenüber: Sie hatte den Kopf draußen, wo die laue Sommerluft wehte und sie die Welt betrachten konnte, ich hingegen, als der Zartere, war wohlbehütet und abgeschirmt unter das wesentlich langweiligere Verdeck des Wägelchens platziert worden. So kutschierte man uns durchs Berliner Scheunenviertel, wo die Familie lebte. Nun ist ein Kinderwagen etwas besonders Anziehendes für Mütter jeden Alters, und die jüdischen Mammes im Scheunenviertel machten da keine Ausnahme. So auch eine besonders monumentale Dame namens Strasberg, die sich ständig unter Ausrufen wie »Och, wie süüß!« über mich beugte; dabei schoben sich zwei riesige Brüste in mein Blickfeld, verdunkelten den Himmel, raubten mir das Tageslicht, die Luft zum Atmen, die Welt – kein Wunder, dass ich zeit meines Lebens keinerlei Lust auf weibliche Brüste verspürte.

Mehr Erklärungen habe ich nie dafür gebraucht, dass mir Jungs besser gefallen als Mädchen. Und meine Familie auch nicht. Schließlich war unser Leben, gerade in der Zeit meiner Jugend, voll von anderen, von wirklichen Problemen. Und die meisterten wir, zusammen.

I

Es waren einmal fünf Schwestern … könnte ich beginnen, denn in der Familie meiner Mutter gab es einen deutlichen Frauenüberschuss. Einen Bruder hatte sie zwar, aber der war schon als junger Mann in die Welt hinausgezogen (und bis nach Thüringen gekommen); Hedwig Kretschmar übersiedelte mit ihrer Mutter und ihren vier Schwestern Anfang des Jahrhunderts aus dem Oderbruch nach Berlin, um sich dort Arbeit zu suchen; der Vater hatte sein Geld verspielt.

Sie lebten in einer mittelgroßen, grauen Wohnung am Gesundbrunnen. Um die Jahrhundertwende waren überall in Berlin schnell und lustlos solche todhässlichen Mietshäuser hochgezogen worden, um die Menschenmassen aufzunehmen, die vom Boom der Hauptstadt angezogen wurden. Einige der Schwestern mussten auf dem Korridor schlafen, weil nicht genug Platz war. Die Familie rackerte sich im unteren Mittelstand ab.

1913 wurde Hedwig achtzehn und bewarb sich für eine Stelle im Versandgeschäft Heinrich Beck & Co. Per Bestellkatalog wurden alle möglichen Waren en gros versandt, und sie arbeitete in der Telefonzentrale. Telefonistin, das war damals etwas Besonderes, Neues, und in so einem Betrieb eine geradezu einflussreiche Position.

Hedwig brauchte nicht lange, da machte sie auf moderne Frau. Sie rauchte heftig, kleidete sich nach der neuesten Mode – und verliebte sich im Nu in ihren jungen Chef. Sie war bezaubernd, ländliche Frische verfeinert mit großstädtischer Eleganz. Den Schick mit den modischen Hütchen und Kappen, Mänteln und Kostümen hatte sie von jüdischen Freundinnen aus der Firma gelernt; ihren Schwestern gelang das nie, die sahen fast alle stets brav und bieder aus. So war es nicht verwunderlich, dass der neun Jahre ältere Heinrich Beck ihrem Charme sofort verfiel.

Diese Liaison wurde im protestantischen Hause Kretschmar nicht gern gesehen. Eine Schwester, Anna, war streng religiös und hatte mit Juden gar nichts am Hut. Die restliche Verwandtschaft, die noch auf dem Lande wohnte, war sogar deutlich antisemitisch und übte ständig Druck auf Hedwig aus, warum heiratest du nicht den Vetter Sowieso, der ist ein anständiger Christ … Tat sie aber nicht, sie wollte den Juden.

Als Heinrich Beck eingezogen wurde und für Österreich-Ungarn an der italienischen Isonzo-Front kämpfte, schickte sie ihm Briefe und Päckchen. Er revanchierte sich mit Fotos, auf denen er stolz mit den Kameraden posierte, stämmig, schnurrbärtig, wache Augen und humorvolles Lächeln. Nach dem Krieg, aus dem er sogar mehrere kleine Auszeichnungen mitbrachte, war den beiden klar, dass sie eine Familie gründen wollten.

Heinrich Beck hätte diese Eheschließung, wenn es nach ihm gegangen wäre, durchaus »weltlich« gehandhabt, ohne irgendeine Religion. Er zählte sich zum aufstrebenden deutschen Bürgertum, nennen wir es »liberalkonservativ«, und war nicht übermäßig fromm. Doch da schaltete sich seine Familie ein: »die Wiener«.

Aus Wien stammte er nämlich, und obwohl er sich deutsch fühlte, war er niemals deutscher Staatsbürger. Seine Familie, ursprünglich aus Galizien, sprach untereinander noch Jiddisch und schrieb es sogar, mit hebräischer Schrift. Es war ein typischer Clan des Habsburgerreiches. Dass Heinrich nach seiner kaufmännischen Ausbildung in Wien zu den Preußen gegangen war, hatte seinen Vater schon wenig begeistert. Nun wollte er auch noch eine »Gojte« heiraten? Die Forderung war deutlich: Die neu gegründete Familie sollte eine Religion haben; und dass nicht er zum Christentum übertrat, verstand sich damals von selbst.

Hedwig lernte also hübsch alles, was nötig war, und trat schließlich zum Judentum über. 1920 wurde geheiratet. Den bei Juden üblichen Ehevertrag ließen die beiden in der hochreligiösen Adass-Jisroel-Gemeinde beglaubigen, doch dies eigentlich nur, weil ein anderer, progressiverer Rabbi gerade in Urlaub war.

Die frischgebackenen Eheleute Beck waren offenbar dem Geschlechtlichen nicht abgeneigt, denn in den ersten beiden Jahren machten sie gleich zwei Kinder hintereinander. Beides waren Söhne, was geradezu einen Durchbruch für die Familie meiner Mutter darstellte, endlich kamen mal Knaben. Doch die Säuglinge starben, der erste nach ein paar Wochen, noch im Jüdischen Krankenhaus, der andere nach ein paar Monaten zu Hause in der Prenzlauer Straße, wo meine Eltern im ersten Stock über der Firma wohnten. Die Ärzte empfahlen ihnen, es nicht noch einmal zu versuchen, das gesundheitliche Risiko einer weiteren Schwangerschaft sei zu groß. Aber Heinrich Beck wollte nicht hören, und so war es bald wieder so weit.

1923 näherte sich die Inflation ihrem Höhepunkt. Trotzdem stand er finanziell noch recht gut da; er belieferte die Veranstalter großer Bälle und hatte ausgezeichnete Verbindungen zur Jahrmarktbranche. So nahm er für seine Frau einen erfahrenen Arzt, damit dieses Mal ja nichts schiefging. Er kannte Dr. Neumann schon länger; später ging dieser zur SS, blieb aber unbeirrt mit uns befreundet. Am Tag der erwarteten Geburt sagte er zu meinem Vater: »Lieber Heinrich, gib mir das Geld am besten schon mittags, dann kann meine Frau noch etwas Butter davon kaufen, am Abend wird’s wohl nicht mehr reichen.« Und am Abend hatten die Neumanns ihre Butter und meine Eltern uns, Margot und Gerhard.

Die ganze Familie platzte vor Stolz: zwei so süße, gelungene Babys, nach den beiden verlorenen Kindern! Schade nur, dass die Wiener Familie sich von Heinrich abgewandt hatte. Obwohl meine Mutter zum Judentum übergetreten war, wollten sie von Heinrich und seiner Mischpoche nichts wissen. Doch das ließ mein Vater nicht auf sich sitzen. Eines Tages raffte er sich auf, packte seine Frau und den Nachwuchs samt Kindermädchen in den Zug und fuhr mit ihnen nach Wien.

Die schöne, geräumige Wohnung der Becks lag im 2. Bezirk in der Oberen Donaustraße. Mein Großvater war Kürschner und verdiente blendend, Gott sei Dank, denn er hatte neun Kinder, und fünf davon waren Töchter, die er mit Aussteuer versorgen musste.

Mein Vater stand vor der schweren Tür, hob den Türklopfer und ließ ihn nach kurzem Zögern beherzt fallen. Einen Augenblick später stand seine Mutter vor ihm. »Heinrich!«, rief sie aus und fiel ihm um den Hals. Ganz gleich, was passiert ist, eine Mutter freut sich immer, wenn sie ihren Sohn wiedersieht. »Komm herein!« – »Nein«, sagte er bedächtig, »das kann ich nicht. Ich bin nicht allein hier. Meine Familie steht neben mir.« Hedwig hatte einen weißen Pelz an, um den Kürschner-Schwiegervater zu beeindrucken, sie sah aus wie eine Filmschauspielerin. Trotz der Schwangerschaften hatte sie ihre hübsche Figur behalten.

Ist doch aber der Jude ein neugieriges Wesen, und der alte Reuwen Beck machte da keinen Unterschied. Er stand hinten im Flur und lugte um die Ecke, um seine Frau herum, weil er seine deutsche Schwiegertochter erspähen wollte. Es wurde ein voller Erfolg: »Kommt zu mir, meine Kinder!«, rief er, als er die junge Frau erblickte, und von Stund an trugen er und die ganze Wiener Familie meine Mutter auf Händen. Eine bildschöne Schwiegertochter und dazu gleich noch Zwillinge als Enkel, das musste einfach überzeugen.

Sie besuchten uns regelmäßig in Berlin und beeindruckten nun ihrerseits den christlichen Teil der Familie über alle Maßen. Von diesen eleganten, vornehmen, distinguierten Juden aus dem grandiosen alten Wien waren sie fasziniert. Das wertete meinen Vater mächtig auf. Mein Onkel Wolken war Vertreter der Firma Kodak für den gesamten Balkan und hatte regelmäßig in Berlin zu tun. Die Fotografie war damals im Kommen, und er besaß später noch ein großes Fotogeschäft in Wien – so lange er durfte. Diesen Onkel bewunderte ich restlos; er war fast zwei Meter groß, ging teuer gekleidet und stieg in Berlin immer im Hotel Fürstenhof am Anhalter Bahnhof ab.

Wir trafen ihn dort zu Kaffee und Kuchen oder Eis, auf ein paar Stunden nur, mehr Zeit hatte er gar nicht, aber wir fühlten uns … So ein Leben war mein Traum, so wollte ich auch mal werden – nicht unbedingt zwei Meter hoch, aber doch weltgewandt und selbstsicher und selbstverständlich mit dem Luxus umgehend. In einem erstklassigen Hotel absteigen und die Familie dort hinkommen lassen, wunderbar. In den siebziger Jahren schrieb ich meiner Mutter einmal, ich zöge von einem schicken Hotel ins nächste, wie Onkel Wolken – der alte Maßstab galt immer noch.

Meine Eltern pflegten ein reges gesellschaftliches Leben. Eine Freundin meiner Mutter war mit einem Konditor namens Hauke verheiratet, der meine Eltern auf die Einladungsliste vom jährlichen »Ball der Konditoren« setzte; umgekehrt beschaffte mein Vater das Entree zum hocheleganten »Ball der Österreicher«. Bei festlichen Anlässen war Heinrich Beck eine Stimmungskanone: ein rotblonder, stämmiger Gemütsmensch, der sich dezent, aber kräftig einen anschickerte und Wiener Couplets zum Besten gab. Meine Mutter passte immer den richtigen Moment ab, um ihm schwarzen Kaffee einzuflößen, beim entsprechenden Alkoholpegel eine teuflische Mischung. Wenn es zum Äußersten kam, entschuldigte er sich für ein Viertelstündchen, ging auf die Toilette, kotzte alles raus und machte dann fröhlich weiter. Er fühlte sich bei den Preußen wohl, aber seine sentimentale Wiener Seele konnte er jederzeit abrufen; als wir unser erstes Radio hatten, saß er oft davor, wenn Wiener Lieder gespielt wurden, und heulte wie ein Schlosshund. Zu der protestantisch geprägten Trockenheit meiner Mutter stellte die Lebensart und Fröhlichkeit meines Vaters genau den richtigen Ausgleich dar.

Zum sozialen Aufstieg sollte natürlich auch die Wohnlage passen. 1920, als meine Eltern heirateten, ließen sie sich, optimistisch, wie sie waren, auf die Warteliste für eine Neubauwohnung in besserer Gegend setzen, in Weißensee. 1927 war unsere Dreieinhalbzimmerwohnung in der Buschallee endlich bezugsfertig. Zwei Balkons, Blick ins Grüne, Tennisplatz und Badesee in der Nähe, für 71 Mark Monatsmiete.

Unser neues Heim wurde zur Anlaufstelle für alle Berliner Verwandten, von denen keiner so schön wohnte. Man traf sich zum Kartenspielen, Essen, Kaffeetrinken, hörte Radio, saß auf dem Balkon. Tante Trude, Mutters jüngste Schwester, zog mit Oma Wilhelmine Loch (ihr Name war ein regelmäßiger Lacher bei uns Kindern) in die Nähe.

Margot und ich wuchsen wie zwei Prinzesschen heran und wurden entsetzlich verwöhnt. Sie hieß »Puppe« und ich »Männe«. Diese Unterscheidung kommt einem allerdings mehr wie eine Behauptung vor, wenn man sich unsere Kinderbilder anschaut.

Die religiöse Erziehung nahm unsere Familie sehr ernst, und das bezog sich auf beide Religionen. Die Oma fand es inzwischen ganz selbstverständlich, sich um die Traditionen und Bräuche der Juden ebenso zu kümmern wie um ihre eigenen christlichen.

So spazierten wir Steppkes an der linken und der rechten Hand der alten Dame, die als Witwe im langen schwarzen Rock mit Häubchen ging, zu Weihnachten in die Dorfkirche von Weißensee und sangen inbrünstig Vom Himmel hoch, da komm ich her.

Beim Passahfest überwachte die Oma streng, dass alles korrekt nach dem Ritus ausgeführt wurde, den sie sich gerade angelesen hatte. Wenn mein Vater sich daranmachte, die Mazza zu brechen, das ungesäuerte Fladenbrot, das wir zu Passah essen, weil es an den Auszug aus Ägypten erinnert (als der Teig unserer Väter keine Zeit hatte, um zu säuern), bekam er erst mal zu hören: »Heinrich, es heißt, zuerst sollst du dir die Hände waschen! Und wo ist das Bitterkraut schon wieder?«

Die jüdischen Rituale stecken voller konkreter Symbole, und zugleich wird die dazugehörige Episode aus den heiligen Schriften immer wieder erzählt, gerade für Kinder ist das sehr eindrucksvoll. Worauf deutet zum Beispiel das Bitterkraut hin? »Die Ägypter verbitterten ihnen das Leben durch harte Arbeit mit Lehm und mit Ziegeln und allerlei Arbeit auf dem Feld, außer den sonstigen Arbeiten, die sie ihnen mit Strenge aufbürdeten.« So wird bei Passah die mündliche Überlieferung der Geschichte von Knechtschaft und Auszug aus Ägypten fortgesetzt, die kannte die Oma natürlich auch aus dem Alten Testament. Um den »Befreier, der da kommen wird« zu begrüßen, wurde ein Glas Wein mitten auf den Tisch gestellt. Dann musste meine Mutter die Zimmertür öffnen, damit Eliahu Hanawi – der Prophet und Befreier – auch hereinkommen konnte. Und kurz darauf wackelte das Glas: Er hatte daran genippt! Wir Kinder waren jedes Mal aufs Neue begeistert; dass mein Vater von unten gegen die Tischplatte gestoßen hatte, war uns natürlich entgangen.

Oma Wilhelmine war nicht die Einzige in der Familie, die ihre ursprüngliche Skepsis gegenüber den Juden ablegte und im konkreten Zusammenleben gegen ein ernsthaftes Interesse eintauschte. Die fromme Tante Anna und ihr Mann, Onkel Paul, vertraten eine Art Urchristentum, das war gar nicht so weit entfernt vom jüdischen Glauben. Und sie waren auch bereit, diese Nähe zu demonstrieren.

Einige Jahre später, bei meiner Einsegnung 1936, sollte sich etwas eigentlich Unerhörtes ereignen. Zur Bar-Mizwa muss ein männlicher Verwandter, meist ist es ein Onkel, einen Segen sprechen. Aus Wien konnte keiner kommen, zu der Zeit waren die Wiener Becks bereits in finanziellen Schwierigkeiten – also musste jemand einspringen, und dazu erklärte sich mein Onkel Paul bereit! Er ließ sich aufrufen, um aus dem Heiligen Buch vorzulesen, trat vor und tat es. Viele Jahre später sprach er immer noch bewegt von diesem Erlebnis und sagte, es sei einer der wichtigsten Augenblicke seines religiösen Lebens gewesen. Damit die Familie auch zahlreich genug repräsentiert war, kamen sämtliche Schwestern mit ihren Ehegatten und saßen im Tempel, hier die Frauen, dort die Männer, wie es sich gehört – und mein Vater war der einzige Jude! Vergessen wir nicht, dass dies 1936 geschah. Das kann man getrost als ein Bekenntnis bezeichnen.

Meine Erziehung war von dieser unaufdringlich gelebten, nie eigens ausgesprochenen Toleranz geprägt. Eine solche zugewandte, aufgeschlossene und in sich ruhende Art der christlich-jüdischen Ökumene, der Herzensoffenheit hätte der mitteleuropäischen Kultur neue Wege weisen können, wenn Hitler dies alles nicht zerstört hätte.

* * *

Meine zweitälteste Tante war mir die liebste: Martha. Auch sie war eine attraktive Frau, aber auf eine herbe, fast verruchte Weise, und sie sprach alles Unbürgerliche in mir an.

In erster Ehe heiratete sie einen Schauspieler, einen Herrn Pape. Sie träumte selbst davon, ans Theater zu gehen. Mit diesem Mann war sie im Wohnwagen unterwegs, das steckte damals hinter dem großen Wort »Tournee«. Er machte ihr gleich einen Sohn, der kurz nach der Geburt starb. Kurz darauf kam eine Tochter, meine spätere Lieblingscousine Inge. Martha und Pape prügelten sich, das heißt, eigentlich prügelte sie ihn, und zwar so heftig, dass sie sich schon vor meiner Geburt scheiden ließen.

Martha blieb bei der Bühne. Da ihr Mann als Wanderschauspieler nicht gerade gigantische Gagen bekommen hatte, musste sie auch ein Theatermetier lernen, und so wurde aus ihr eine Souffleuse. Sie soll besonders begabt gewesen sein; in Berlin bekam sie ein Engagement an der Komischen Oper.

Aus ihrer kleinen Charlottenburger Wohnung zog sie Ende der zwanziger Jahre auch nach Weißensee. Sie war eine traumhafte Tante. Ihr Leben war für damalige Verhältnisse geradezu abenteuerlich, sie hatte diverse Liebhaber, natürlich Schauspieler, trug Ringe, die fremde Männer ihr geschenkt hatten, und extravagante Kleider.

Uns Zwillinge verwöhnte Martha mit Kinderkostümen, die sie aus dem Fundus der Oper mitbrachte. Einmal war ich Napoleon! Und wenig das, sie schenkte uns auch Stoffe, Seide und Silberbrokat, die wir spielerisch drapierten. Ich machte mir die entzückendsten Röcke und Kleider und entwickelte theatralisch-divenhafte Allüren; das war die einzige Zeit in meinem Leben, wo mir so was Spaß machte. Ich bin überzeugt, meine Schwester hat das alles von mir gelernt – Beine übereinanderschlagen, flache Hand ans Dekolleté, Augenaufschlag, Kopf in den Nacken werfen …

Meine Eltern ließen sich nicht sonderlich beeindrucken, auch wenn ich manchmal tagelang in diesen Fantasiegewändern herumrannte. »Aber Junge, so läuft man doch nicht herum«, sagte mein Vater einmal. Darauf ich ganz kess: »Aber die Mutti hast du geliebt, wenn sie so was anhatte!« Erzieherischen »Druck« gab es nie, schüchtern war ich ebenso wenig.

Mit sechs Jahren, im Winter 1929, bekam ich dank der wunderbaren Martha eine winzige Rolle an der Komischen Oper. So debütierte ich in Die goldene Meisterin und durfte tatsächlich ein Liedchen mit dem besonders geistvollen Text vortragen: »Ach schenk mir doch ein Püppchen, mit Augen auf und zu, ein süßes kleines Püppchen, gar reizend so wie du!« Das wurde später sogar ein Schlager. Außerdem trat ich noch in Peterchens Mondfahrt auf, und das war’s schon. Der geborene Kinderstar.

Meine erste Berührung mit der Kunst – und schon ging es los: Der Junge muss was Künstlerisches lernen. Ich bekam eine Geige, ein Violinist kam zweimal die Woche zu uns nach Hause, und Tantchen zahlte den Unterricht. Dieser Lehrer fing seine Sache recht geschickt an, er spielte nämlich immer mit, sodass sich das Ganze für meine Mutter in der Küche durchaus ordentlich anhörte. »Der Junge macht solche Fortschritte!« Von wegen. Ich war der unbegabteste Geiger, den die Welt je gehört hat. Einmal trug ich auf einem Familienfest solistisch ein Volkslied vor, Großmütterchen Großmütterchen, vor versammelter Mannschaft, und die machten sich fast in die Hose vor Lachen. Meine Konkurrenz, Cousine Gerda, war allerdings noch unbegabter; sie spielte Ave Maria, und als sie fertig war, herrschte unsicheres Schweigen. Als sie fragte: »Wie fandet ihr das Stück?«, brach das befreiende Gelächter los. Keiner hatte die geringste Ahnung, was sie überhaupt gespielt hatte.

Ab 1930 ging es mit meinem Vater finanziell bergab. Er war einfach kein besonders geschickter Geschäftsmann. Als die Firma ins Trudeln geriet und aufgeben musste, stand sein Kompagnon am Ende aus unerfindlichen Gründen besser da als er. Immerhin konnte er den Versandhandel auf kleinerer, privater Basis fortsetzen, nahm eine Reihe Kunden mit – und ließ das Ganze auf den Namen meiner Mutter laufen. Praktisch sah das so aus, dass er die Kataloge eigenhändig jedes Jahr auf den neuen Stand brachte und verschickte, und wenn dann die Bestellungen eingegangen waren, holte er die Waren bei den Herstellerfirmen ab und lieferte sie frei Haus. Das klingt unglaublich umständlich und war es auch, mein Vater arbeitete sich halb tot dabei.

Davon allein hätte er nicht leben, uns nicht ernähren können, die Auftragslage war auch zu unsicher. Er organisierte also, mithilfe jüdischer Freunde, eine weitere Einnahmequelle, einen En-gros-Handel mit Tabak, Zigarren, Zigaretten, von der Wohnung aus. Dazu musste er sich einen Kundenstamm aufbauen, Kioske und Tabakwarenläden. Vormittags holte er die Sachen ab, nachmittags lieferte er aus, winters mit einem Schlitten. Margot und ich halfen dem Vater manchmal dabei, wir fuhren mit dem Autobus, der direkt vor unserer Haustür hielt, und lieferten die Päckchen ab.

Ein Kunde hatte einen Kiosk an der Endstation der Buslinie in Ahrensfelde, östlich von Berlin. Das war ein Herr Erich Möller – aus dem später der berüchtigte Gestapo-Möller werden sollte. Jedes Mal bekamen wir von ihm oder seiner Frau als Geschenk einen Dauerlutscher, der kostete damals pro Stück einen halben Pfennig, wir wurden abgeküsst und wieder nach Hause geschickt. Ich ahnte nicht, unter welchen Umständen ich Möller fünfzehn Jahre später wiedersehen sollte.

1929 wurden Margot und ich in Weißensee eingeschult, mit sechs Jahren. Das Stichdatum war Ende Juni, also waren wir die Allerjüngsten und -kleinsten. Bis auf die paar neu gebauten Straßenzüge war Weißensee noch sehr dörflich, im Sommer stanken die Rieselfelder, die um die Ecke lagen. Genauso ländlich war auch die Grundschule.

Ich hatte zwei Mitschüler, die Zigeuner waren, mit denen freundete ich mich besonders an. Sie wohnten fünfzehn Minuten von uns entfernt, in Berlins größter Zigeunersiedlung aus Wagen und Zelten. Die beiden Herzbergs waren ein paarmal sitzen geblieben und dementsprechend älter und stärker als ich; sie gingen unregelmäßiger zur Schule, manchmal zogen sie auch eine Zeit lang mit ihrer Familie umher und lebten gar nicht in Berlin.

Meine beiden »großen Freunde« beschützten mich, und ich bewunderte sie. Für sie hegte ich meine ersten Gefühle der Hingabe, ein Bedürfnis, mich anzukuscheln, denn sie stellten für mich den Inbegriff von Männlichkeit dar. Ihre Körperlichkeit im Umgang miteinander kannte ich nicht, da fasste man sich viel an, täppisch und liebevoll mit knubbeligen, groben Händen.

In meiner Klasse hatte ich noch einen Freund, Klaus Schulze, dessen Vater Studienrat war, Lehrer für Mathematik und Biologie. Man besuchte sich nachmittags, zu Geburtstagen und Picknicks, und einmal riet er meinen Eltern bei einem solchen Besuch: »Lassen Sie Ihren Gerhard ruhig eine Klasse überspringen; meinen Sohn schicke ich jetzt auch zum Gymnasium, die Zensuren sind doch gut genug!« So kam ich schon 1932, mit neun Jahren, auf die höhere Schule.

Meine Eltern freuten sich, waren aber etwas überrascht. Sie selbst konnte man nicht gerade als intellektuell bezeichnen; in die Ehe hatten sie die ungeheure Bibliothek von insgesamt drei Büchern mitgebracht, die in einer Vitrine zwischen Schokolade, Nippes und anderen Ziergegenständen ausgestellt waren. Es handelte sich um Faust, Der Tragödie Erster Teil, den hatte meine Mutter bei ihrem Schulabschluss geschenkt bekommen; daneben stand Der Frosch mit der Maske von Edgar Wallace, und schließlich Der Bürger von Leonhard Frank, ein linkes Buch, das musste irgendjemand meinen Eltern mal angedreht haben. Das war alles. Zu dieser Zeit hatte ich, gemeinsam mit meiner Schwester, aber schon eigene Bücher; Nesthäkchen von Else Ury, Quo Vadis und Ähnliches. Ich war schon als Kind ein Bücherwurm.

Wenn ich traurig über irgendetwas war oder gar deprimiert, dann zog ich mich zurück. Ich legte mich still ins Bett und schmuste mit meinen Puppen, bis es mir wieder besser ging. Ich hatte nämlich Puppen, vor allem eine männliche! Als ich acht oder neun war, bekam ich eine Seppl-Puppe geschenkt – auch ein merkwürdiges Erziehungskonzept.

Margot war beleidigt, sie hatte immer nur so doofe Puppen mit Porzellanköpfchen, Babys mit krummen Beinen, Glupschaugen und roten Bäckchen, und nun bekam ich diesen stattlichen Kerl! Der hatte lange, kräftige Beine, ein hübsches Gesicht und ein fesches bayrisches Hütchen auf. Er war meine erste Liebe, würde ich sagen.

Und Margot war eifersüchtig. Kein Wunder! Da lagen wir in unseren Betten, und ich spielte Szenen vor wie: »So, jetzt hab ich den Seppl im Auto, und bums, mach ich die Tür zu!« Dann umschlang ich ihn, hielt das Kopfkissen davor und schmuste mit ihm herum. Und sie lag allein da, mit ihren doofen, krummbeinigen Babypuppen, und hätte sicher auch gern mal diesen »Mann« im Bett gehabt. Natürlich konnte sie den Eltern so etwas nicht erzählen. Und ich war egoistisch genug, ihr mein »Liebesglück« auch noch besonders deutlich vorzuführen.

Nicht lange darauf wurde Seppl durch einen Kandidaten aus Fleisch und Blut ersetzt – nicht in meinem Bett, aber in meinen Fantasien, die ich vor ihr ausbreitete. Das kam so:

1932 traten wir einer deutsch-jüdischen Jugendgruppe bei. Das muss man betonen, weil es damals eine Vielzahl von Jugendgruppen gab, die von bündisch-national bis zionistisch orientiert waren; gemeinsam war ihnen allen etwas Pfadfinderisches, viel Sport, Fahrten und so weiter. Unsere erste Gruppe stand ganz im Zeichen deutsch-jüdischer Assimilation; diese Gruppen gerieten unter den Nazis übrigens als erste unter Druck, weil diesen vor allem die Vermischung von »Arischem« und »Jüdischem« ein Dorn im Auge war. Bis zur Zwangsauflösung des »Rings deutsch-jüdischer Jugend« 1935 blieben Margot und ich gemeinsam mit vier Mädchen aus der Nachbarschaft dabei.

Natürlich verknallte ich mich in einen Jungen dort; der wusste gar nichts davon, aber ich spann mir die ausgefeiltesten romantischen Abenteuerfantasien zusammen. Die arme Margot musste sich wieder alles anhören: Er wurde von anderen Jungen attackiert und musste fliehen. Da er nicht wusste, wohin, suchte er Schutz bei mir. Ich pflegte und tröstete ihn, er schlief mit mir in meinem Bett, wir waren dicke Freunde und hielten zusammen.

Eines Abends hatte Margot genug davon und fing an zu weinen. »Was ist denn mit dir los?«, fragte ich ganz erstaunt. »Kann er nicht auch mal bei mir schlafen?« Die Ärmste! Dauernd drängelte ich mich vor und machte ihr das Leben schwer, obwohl sie immer zu mir hielt.

Nach meinem Vater war Onkel Paul die wichtigste männliche Bezugsperson meiner Kindheit. Paul Krüger lebte und arbeitete im Wedding, damals eine heruntergekommene Gegend. Als Elektriker nahm er am wirtschaftlichen Aufschwung durch den technischen Fortschritt teil, er elektrifizierte nämlich die Wohnungen, die von Gas zu Strom wechselten, und hatte ungeheuer viel zu tun. Manchmal, wenn die Leute die Modernisierung nicht bezahlen konnten, führte er die Arbeiten auch umsonst aus. Onkel Paul war ein guter Mensch.

Die Krügers hatten früher einen kleinen Sohn gehabt, den er abgöttisch liebte. Das Kind starb aber, als es fünf Jahre alt war. Danach wurde noch ein Mädchen geboren, Gerda, die mochte er überhaupt nicht. Seine Sehnsucht richtete sich eindeutig auf einen Sohn.

Diese Familie machte es ihm nicht leicht – überall hüpften Mädchen herum, Röckchen hier, Rüschen da. Aber es gab mich! Für Onkel Paul ein Grund mehr, ständig zu uns zu kommen. Er schloss mich ins Herz, und ich fand ihn wunderbar. Er wirkte so, als sei er schlichten Gemüts, das stimmte aber gar nicht; er war scheu und zurückhaltend und hatte insgeheim ein großes Bedürfnis nach Zärtlichkeit. Seine Anna war protestantisch prüde, die eigene Tochter bedeutete ihm nicht viel, stattdessen verband er die Besuche bei uns stets mit Onkelherzlichkeit und spielerischem Klapsen, Tätscheln und Streicheln. Auch bei meiner Schwester, er konnte ja schlecht mit mir herumknuddeln und Margot ignorieren. Aber nur mich nahm er auf den Schoß.

Wenn die ganze Familie auf dem Balkon saß, sagte er oft: »Annchen« – er sprach immer seine Frau an, auch wenn andere gemeint waren – »ich muss noch ein paar Rechnungen schreiben.« Sprach’s, nahm seine Sachen und zog sich ins Kinderzimmer zurück. Dort an dem großen Tisch saß er und schrieb tatsächlich Rechnungen; er hatte nur sonntags Zeit, das zu erledigen. In einem großen Buch standen alle Arbeitsstunden, und er übertrug sie auf seine Rechnungsbögen.

Und irgendwann passierte es zum ersten Mal, da muss ich etwa neun Jahre alt gewesen sein und er Mitte fünfzig. Ich kam auch ins Kinderzimmer, vielleicht wollte ich etwas holen, suchte nach einem Spielzeug, ich weiß es nicht mehr. Als ich hereinkam, legte er sofort den Stift hin und sah mich an. Ich trat heran und warf einen neugierigen Blick auf den Tisch mit seinen Rechnungen. Da nahm er mich auf den Schoß und küsste mich auf beide Backen, das kitzelte so schön, denn er trug einen großen Kaiser-Wilhelm-Bart. Und plötzlich spürte ich, dass ich auf etwas saß! Dieses Etwas war sehr warm und prall und fühlte sich … angenehm an. Er schloss mich in die Arme und drückte mich, und ich genoss jede Sekunde. Sonst geschah gar nichts, ich habe erst später darauf geachtet, was sich da in seiner Hose tat, aber er hat nie versucht, weiterzugehen. Ihm war wohl, mir war wohl, zwischen uns herrschte ein stillschweigendes Einverständnis, und wir sprachen nie darüber. Wozu auch? Er lächelte mich auf eine besondere Art und Weise an, verschmitzt und gerührt zugleich, und ich forcierte diese Situationen geradezu.

Solche Körperberührung war neu für mich. Ich hatte meine ersten erotischen Gefühle an meinem ins Leben geklopften Hinterteil, und dass es ihn auch nicht kaltließ, stachelte mich nur weiter an. So erlebten wir beide die Erfüllung geheimer Wünsche.

II

»Alle im Hof versammeln, in geordneten Reihen aufstellen!« Eines Morgens wurde in meiner Schule dieser Befehl ausgegeben, noch vor dem Unterricht. Zusammen mit meinen Klassenkameraden gehorchte ich, fünfzehn zehn- bis zwölfjährige Quintaner in kurzen Hosen marschierten die Treppe hinunter. Alle Jahrgänge strömten mit militärischem Trappeln in den Hof.

Die Nazis hatten an allen Schulen einen Brauch eingeführt, der sich »Fahnenappell« nannte. Jeden Morgen vor der ersten Stunde mussten alle im Hof antreten, die Hakenkreuzfahne wurde gehisst, und auf Befehl salutierte die ganze Schule vor der Fahne. Und an diesem Tag im Frühling 1933 wurde der Fahnenappell zum ersten Mal durchexerziert.

Doch plötzlich schoss unser Klassenlehrer auf mich zu, streckte den Zeigefinger in meine Richtung und befahl schnarrend: »Beck, vortreten!« Ich begriff nicht. »Raus aus der Reihe, Beck! Du nicht! Du bist Jude!«

Ich musste mich in eine Ecke des Hofs stellen, allen anderen gegenüber. In meiner Klasse war ich der einzige Jude, bei mir standen noch ein paar andere Verlorene aus anderen Klassen. Und dann kam der Befehl, mit einem lauten Knallen sausten die Hacken zusammen, und Hunderte von Jungensarmen schossen zum Hitlergruß in die Höhe, wie gereckte Bajonette uns entgegen. Jeden Morgen wiederholte sich dieses Schauspiel. Wir gehörten nicht mehr dazu, Ausgestoßene, die es nicht wert waren, die deutsche Fahne zu grüßen.

Die Veränderung der politischen Atmosphäre spürten wir Kinder natürlich zunächst weniger als die Erwachsenen. Was immer sich vor 1933 angekündigt hatte, wir waren davon unberührt, vielleicht auch abgeschirmt geblieben. Doch seit das deutsche Volk Hitler gewählt hatte, verschärfte sich die Stimmung überall. Man hätte blind und taub sein müssen, um das nicht zu bemerken. Überall tauchten »Boykottiert Juden!«-Schilder auf, das konnte auch das abgeschirmteste Kind nicht übersehen. Mein Vater bekam es in seinen Geschäftsbeziehungen zu spüren; aber darüber sprach er nicht mit uns. Mir reichte, was ich selbst erlebte.

Bisher hatte ich zu den beliebten Schülern gehört, war immer gut gelaunt, quirlig und lustig gewesen. Plötzlich aber geschahen merkwürdige Dinge. »Herr Lehrer, darf ich mich von Gerhard wegsetzen? Der stinkt so nach jüdischen Schweißfüßen!« Kinder sind viel unmittelbarer und brutaler als Erwachsene; solche Ablehnungen taten weh. Ich war zehn Jahre alt. Ich verstand das nicht. Aber ich hatte keine Lust, es als den neuen Normalzustand hinzunehmen.

Am Tag des ersten Fahnenappells rannte ich nach der Schule weinend nach Hause. Erst später verwandelte sich meine Hilflosigkeit in Wut. Beim Mittagessen berichtete ich, was passiert war. Die Reaktion meiner Eltern enttäuschte und verwirrte mich zutiefst. Sie nahmen den Vorfall offenbar nicht ernst! Besänftigend redeten sie daher, das werde sich bald wieder geben, nur jetzt, am Anfang wollten die Nazis demonstrieren, dass sich die Zeiten geändert hätten, und so weiter und so fort.

Was sollte das? Den Fahnenappell gab es doch jeden Tag, und jeden Tag erlebte ich auch, dass frühere Freunde nicht mehr mit mir reden, nicht mehr mit mir spielen wollten. Weil sie »arisch« waren, worüber sich bisher kein Mensch Gedanken gemacht hatte. Und in der Nachbarschaft, nachmittags beim Spielen draußen, teilten sich die Kinder in »arische« und jüdische Grüppchen. Meine Eltern lächelten und beschwichtigten. Und da Margot, die an ihrer Schule eine Menge jüdischer Freundinnen hatte, so etwas nicht erlebte, war ich allein mit meinem Problem.

Eigentlich war das nicht verwunderlich. Politisch standen meine Eltern in der gemäßigten Mitte, so wie sie zur bürgerlichen Mittelklasse zählten. Instinktiv taten sie alles, um sich aus den politischen Wirren der Zeit herauszuhalten. Typisch auch die Einstellung zum Zionismus. Mein Vater tat die Palästinapioniere als arme Irre ab, die sich aus unerfindlichen Gründen in den Sümpfen von Tel Aviv abplagten. »Was wollen die da bloß? Na ja, wir sind Europäer, für uns kommt das eh nicht infrage.«

Im Nachbarhaus lebte eine jüdische Familie; Herr und Frau Cohen engagierten sich beide bei den Kommunisten. Eines Tages im Sommer 1933 sahen wir, wie ein großer SA-Trupp zum Sportplatz marschierte, der nicht weit von der Buschallee entfernt war, und auf dem Weg drang eine Gruppe der Männer in die Wohnung der Cohens ein und prügelte sie heraus. Zum ersten Mal bekam ich eine solche Demonstration von Gewalt und Macht mit. Mein Vater zeigte sich besorgt, aber offenbar war für ihn das Besondere daran nicht, dass die SA eine jüdische Familie attackiert hatte; nachdem er sein erstes Entsetzen überwunden hatte, meinte er: »Na ja, wer sich so kommunistisch gibt wie die, der muss wohl damit rechnen.«

Dass sich die Zeiten änderten, dass auch die Juden – wir! – den Nazis ein Dorn im Auge waren, das wollte er nicht wahrhaben. Wir hatten uns doch nichts zuschulden kommen lassen! Wer sich nicht zum Fenster raushängte, kriegte auch keins auf den Deckel. Auch in dieser Hinsicht unterschied sich mein Vater nicht sehr von vielen »arischen« Bürgern, die nicht sehen wollten, was sich da über unseren Köpfen zusammenbraute.

An der Schule blieben mir drei Freunde. Am liebsten war mir ein schwarzhaariger Rumäne, zwei Jahre älter und natürlich viel größer als ich. Wir spielten gelegentlich eine frühpubertäre Variante des Doktorspiels: Er nahm mich nach dem Unterricht mit in einen Schulkeller, presste sich liebevoll an mich und rieb sich an mir. Bei ihm ging alles in die Hose, und er lief dann nass nach Hause, das machte ihm gar nichts aus. Ich brauchte diese Nähe und Zärtlichkeit, auch wenn ich gar nicht alles begriff, was sich da abspielte. Ein anderer Freund war ein leicht verkrüppelter Junge, der mich immer auf dem Nachhauseweg begleitete. Und der Dritte stammte aus dem Elsass, war im französischen Kulturkreis aufgewachsen und fühlte sich fremd in Berlin. Mit einem Wort: alles Außenseiter. Klaus Schulze, mein Kumpel von der Grundschule, kam in eine andere Klasse, wir verloren uns aus den Augen. Ich fühlte mich allein. Ich hatte keine Lust mehr, und natürlich wurden meine Zensuren auch schlechter.

Immer heftiger bedrängte ich meine Eltern, mich von dieser Schule zu nehmen. Aber sie wollten nichts davon hören. Schließlich waren sie doch froh, dass ich aufs Gymnasium ging, als begabt angesehen wurde, eine Erfolg versprechende Ausbildung bekam. Geradezu zwangsläufig kam ich irgendwann mit den wenigen älteren jüdischen Schülern zusammen, und die erzählten mir, dass es eine »Judenschule« gebe, in der Großen Hamburger Straße.