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Über dieses Buch

»Und wo bleibt die Würde des Alters?«, fragt die Dame am Telefon. »Sie haben die falsche Nummer gewählt. Die wohnt hier nicht«, sagt die Autorin. Man kennt Lotti Huber als Hauptdarstellerin in Rosa von Praunheims Filmen, als temperamentvolle Teilnehmerin an Talkshows, als Diseuse, als Kultfigur. Eine alte Frau, von so viel Leben erfüllt, so unbekümmert, so unkonventionell und selbstbewusst, dass sich Leute, die Jahrzehnte jünger sind, ganz blass und matt vorkommen. Hier kann man aus erster Hand nachlesen, was für ein ungewöhnliches Leben diese ungewöhnliche Person geführt hat. Die Autobiografie der »ältesten Showmasterin der Welt« (Guinness-Buch der Rekorde) stand ein halbes Jahr auf der »Spiegel«-Bestsellerliste.

»Lotti Hubers Lebensgeschichte hat mit einer von Ghostwritern polierten Künstlerbiografie so viel gemein wie Dosengeflügel mit einem Pfau.« (zitty)

Die Autorin

Lotti Huber, am 16. Oktober 1912 als Tochter großbürgerlicher jüdischer Eltern in Kiel geboren, wollte immer zur Bühne, zum Theater. Aber die Nazis schickten sie ins KZ. Sie wurde freigekauft, ging nach Palästina und Ägypten, tanzte in Nachtklubs, heiratete einen englischen Offizier, ging dann nach Zypern, wo sie ein Restaurant eröffnete, nach 1945 mit ihrem zweiten Mann nach London und Anfang der sechziger Jahre nach Berlin. Sie gab Englischunterricht, übersetzte Trivialliteratur, eröffnete eine Tanzschule, arbeitete als Filmstatistin, lernte Rosa von Praunheim kennen und wurde mit 75 Jahren ein Star. Ihre Autobiografie »Diese Zitrone hat noch viel Saft!« brachte ihr große Popularität. 1994 erhielt sie das Bundesverdienstkreuz. Lotti Huber starb am 31. Mai 1998.

Inhalt

Gedanken auf der Flucht
Kiel
Konzentrationslager
Haifa
Kairo
London
Nikosia
Kyrenia
London
Berlin

Impressum

Alles geben die Götter, die unendlichen,
ihren Lieblingen ganz,
alle Freuden, die unendlichen,
alle Schmerzen, die unendlichen, ganz.

Johann Wolfgang von Goethe

Gedanken auf der Flucht

Tochter aus gutem Hause
– dass ich nicht lache!
Kommen wir doch zur Sache.
Meine Mutter sagte mir: Vom Gelde spricht man nicht.
Das ist ordinär
– oder so ungefähr.

Liebste Mama,
man erlässt dir die Miete nicht für dein hübsches Gesicht.
Und was machst du, wenn dein Magen schreit:
Es wird Zeit, es wird Zeit,
gib mir was zu essen.
Was machst du dann mit deinen Noblessen?
Und wenn dein Herz nach Liebe wimmert
und sich kein Aas mehr um dich kümmert,
wenn du spürst, du bist ein ungebetener Gast,
teils geduldet, teils gehasst
in einem fremden Land,
sehnst dich nach eines Freundes Hand
– was machst du dann?

Ach, Mütterlein!
Warum hast du mich nicht darauf eingestimmt,
ich meine – wie man sich dann benimmt?
Stattdessen lehrtest du mich,
die Teetasse zu balancieren,
elegant, mit der linken Hand,
den selbst gebackenen Kuchen
der Gastgeberin zu versuchen,
geistreiche Konversation zu machen
und an den passenden Stellen amüsiert zu lachen.

Mütterlein!
Glaub mir, es lacht sich schwer,
hat man keine Heimat mehr.
Und dann geschah ein Wunder:
Ich warf ihn weg, den ganzen Plunder.
Ich überlebte, als die Welt in ihren Fugen bebte.
Ich kämpfte mich durch die ganze Misere,
und jetzt bin ich hier:
Habe die Ehre!

So war’s. Herausgeschleudert aus wohlbehütetem deutsch-jüdischen Elternhause, herausgeschleudert aus einem wohlhabenden, großzügigen Milieu, musste ich um mein Leben kämpfen. Und natürlich hat das die Werte verändert, die ich von Hause aus mitbekommen habe. Sie haben sich gewaltig verändert.

Als ich 1982 eine Einladung in meine Heimatstadt Kiel bekam, um der Premiere von Rosa von Praunheims Film »Unsere Leichen leben noch« beizuwohnen, war meine erste Reaktion ein heftiges: Nein. Aber dann dachte ich an den Titel von Rosas Film: Unsere Leichen leben noch. Wie provokativ! Kurz entschlossen entschied ich mich: Ich komme.

Ich bummelte durch die Straßen Kiels. Fast sechzig Jahre – sechzig Jahre! – ist es her, dass ich in dieser Stadt gewesen bin. Nie wieder wollte ich sie betreten. Wie oft musste ich lernen: Sag niemals nie. Ich ging durch die Holstenstraße, die damals die Hauptstraße Kiels war. Ja, an dieser Ecke musste es gewesen sein. Da war es, das Holstenhaus, heute der Sitz einer großen Kosmetikfirma. Ich erinnere mich sehr deutlich an unser Geschäft.

Kiel

Mein Vater war Textilkaufmann, hatte seine Lehre, wie er uns immer begeistert erzählte, in Görlitz gemacht und war dann seinem Bruder, meinem Onkel Emil, nach Kiel gefolgt, der in der Holstenstraße ein Damenkonfektionsgeschäft besaß – das Modehaus Berju. Mit der Mitgift meiner Mutter kaufte mein Vater auch ein Haus in der Holstenstraße, Ecke Faulsstraße, und etablierte sich dort zunächst einmal mit einem Herrenausstattungsgeschäft. Später eröffnete er dann ein Textilhaus, das sehr bekannt wurde: das Holstenhaus.

In der unteren Etage führte er Wolle, Baumwolle und die üblichen Stoffe, in der ersten Etage gab es Brokate und hinreißende Seiden aus Paris. Wie mein Vater seine Stoffe liebte! Er hatte eine richtige Liebesaffäre mit ihnen. Entzückt erklärte er der Gräfin Reventlow, die eine treue Kundin von ihm war, wie herrlich die Brokate und Seiden aus Lyon waren: »Schauen Sie diese Seide an, wie sie fließt. Ein Gedicht!« Dabei küsste er sich verzückt die Fingerspitzen. Schon damals kosteten solche Stoffe hundertfünfzig Mark den Meter. Das Holstenhaus belieferte zu jener Zeit das Stadttheater mit den herrlichsten Stoffen für Opern und Operetten.

Beide, meine Mutter und mein Vater, stammen aus Posen. Meine Mutter aus Lissa, das nach dem Ersten Weltkrieg polnisch wurde. Mit achtzehn Jahren wurde sie von meinem Großvater mit meinem Vater verheiratet. Mein Vater war damals doppelt so alt wie meine Mutter. Er war ein eingefleischter Junggeselle gewesen, erzählte mir meine Mutter. Aber so jung sie damals war, nahm sie ihn bald an die Kandare. Und sie war es auch, die der Boss der Familie wurde. Ihre Heirat war, was man damals eine »mariage de convenance« nannte.

Auch mein Großvater hatte ein Herrenausstattungsgeschäft gehabt. Mein Vater war ein Geschäftsfreund von ihm gewesen. Daher beschloss mein Großvater, dass er der geeignete Ehemann für seine Tochter sei. Meine Mutter bekam eine Mitgift von fünfundzwanzigtausend Goldmark, und damit war die Sache geritzt. Entsetzlich! Es war bestimmt keine Liebesheirat, als die achtzehnjährige Johanna Leipziger dem sechsunddreißigjährigen Robert Goldmann ihr Jawort gab. Aber meine Mutter ist ihrem Mann bis zu seinem Tode eine treue Lebensgefährtin gewesen.

Von Sexualität hatte sie, trotz der drei Kinder, die sie pflichtgemäß bekommen hatte, keine Ahnung. Ich erinnere mich, wie erschüttert und gerührt ich gewesen war, als sie mich einmal – ich war schon über dreißig Jahre alt – ganz schüchtern fragte: »Sag mal, was ist das eigentlich, ein Orgasmus, von dem man heutzutage so viel redet?« Meine entzückende, schöne Mutter hatte in ihrem ganzen Leben keinen Orgasmus erlebt! Und darüber bin ich heute noch traurig.

Ich entsinne mich einer amüsanten Geschichte, die sie mir erzählte: Als sie jung verheiratet nach Kiel kam, steckten ihr die besten Freunde und Verwandten, dass mein Vater ein Verhältnis mit der ersten Verkäuferin des Geschäftes, einer üppigen Blondine, hatte. Während der ersten Geschäftsreise meines Vaters nach der Eheschließung ergriff meine Mutter die Gelegenheit, die junge Dame rauszuwerfen. Nach seiner Rückkehr stellte mein Vater verdutzt fest, dass sein »Verhältnis« verschwunden war. Auf seine Frage nach dem Verbleib der Verkäuferin erklärte ihm meine Mutter kühl, dass sie verantwortlich für den Rausschmiss »dieser Person« sei.

Die Unterhaltung fand am Frühstückstisch statt. Es war Frühjahr, die Fenster standen weit offen, der Duft von Flieder vermischte sich mit dem Aroma des Kaffees. Da machte es plötzlich Peng! Wütend hatte mein temperamentvoller Vater bei der Offenbarung meiner Mutter seine Kaffeetasse aus dem Fenster geworfen. Woraufhin meine Mutter, ohne zu zögern, den Rest des Kaffeegeschirrs hinterherschmetterte. Damit hatte sie ein für alle Mal ihren Standpunkt klargelegt. Mein Vater trat den Rückzug an.

Er, der heimlich üppige Blondinen bewunderte, hat meine Mutter sein ganzes Leben lang unglaublich respektiert und geachtet. Im Holstenhaus hatte sie volle Prokura. Er vertraute ihren Fähigkeiten und nannte sie liebevoll »Prokuristin Johanna«. Ja, sie war eine tolle Frau. Ich bin überzeugt, dass sie in der heutigen Zeit ein Studium ergriffen hätte. Sie wäre eine hervorragende Juristin geworden. Aber zu ihrer Zeit und bei einem Vater wie ihrem wäre es unmöglich für sie gewesen, sich anders als durch die Ehe von ihrem Elternhaus zu lösen. Alles, was sie in ihrem Leben versäumt hatte, sollte sich für ihre Tochter erfüllen, wünschte sie sich.

Unter der Weimarer Verfassung durften die jungen Mädchen Abitur machen und studieren. In unserem Oberlyzeum gehörte ich zum zweiten Jahrgang, dem das möglich war. »Du musst studieren«, sagte meine Mutter, »Literatur, Theaterwissenschaft. Und dann wirst du Schauspielerin. Du hast das Zeug dazu. Heirate nie! In der Ehe gibt die Frau meistens ihre Persönlichkeit auf, der Mann nie.«

Ähnlich, aber etwas weniger radikal, sprach zu uns unsere Schuldirektorin, Frau Oberstudienrätin Schulze. »Meine Damen«, sagte sie, »wir« – damit meinte sie ihren Jahrgang – »haben für die Emanzipation der Frau gekämpft. Und wir erwarten, dass Sie sich unserer Opfer würdig erweisen. Also erst das Studium, dann der Beruf und dann die Ehe – wenn es unbedingt sein muss«, fügte sie mit einem Lächeln hinzu.

Die letzten drei Schuljahre waren für meine Entwicklung ziemlich wichtig. Wir nannten sie damals Obersekunda, Unterprima und Oberprima. Meine Lieblingsfächer waren Deutsch, Geschichte, Englisch und Französisch. In Mathematik, Physik und Chemie kam ich gerade über die Runden. Besonders liebte ich Geschichte und meine Geschichtslehrerin, Fräulein Kühl. Sie war um die vierzig und faszinierte mich mit ihrem schönen, herben Gesicht. Und immer trug sie lange Schals romantisch um ihre Schultern geschlungen. Sie machte aus jeder Geschichtsstunde ein spannendes Erlebnis.

Unvergesslich geblieben ist mir, wie sie über die »Imponderabilien« sprach, über das Unwägbare im menschlichen Geschick. »Es sind die Imponderabilien, die alle cleveren Kalkulationen und Strategien zunichtemachen«, erklärte sie immer wieder anhand von großen Ereignissen. Ja, die Imponderabilien, die habe ich auch kennengelernt und das Wort nie mehr vergessen. Wie glücklich bin ich, dass ich diese letzten Jahre in der Schule noch mitbekommen habe. Einige Jahre später war es uns Juden nicht mehr möglich, eine deutsche Schule zu besuchen.

Schon in frühen Jahren zeigte ich große Musikalität und tänzerische Begabung. Meine Mutter hat mir immer erzählt, dass sie mich ins Leben getanzt habe: Übermütig hatte sie an dem Abend vor meiner Geburt mit meinem Onkel Herrmann aus Breslau um den großen Esstisch herum Walzer getanzt. Am 16. Oktober 1912 um fünf Uhr morgens war ich da. »Schau mal das Kind an«, pflegte meine Mutter später auszurufen, »schau, sobald Musik erklingt, tanzt sie und kann noch gar nicht richtig laufen.«

Wie alle Töchter aus sogenanntem guten Hause bekam ich mit sechs Jahren Ballettunterricht: bei der Ballettmeisterin des Kieler Stadttheaters. Sie war die Frau des damaligen Intendanten Dr. Elwenspoek. Immer wieder versicherte sie meiner Mutter, wie begabt ich sei. Deshalb musste ich bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit – Geburtstagen, Hochzeiten und so weiter – ein Tänzchen vorführen, mal als Schäferin, mal als Harlekin, mal als Elfe, mal als Schmetterling. Begleitet wurden meine Darbietungen von einer Pianistin, einer Frau um die fünfzig von ungeheurer Körperfülle. In Kiel war sie als »Original« bekannt. Keine Familienfeier, bei der sie nicht die Gäste mit ihrem Klavierspiel erfreute. Als besonderen Gag stülpte sie sich bei christlichen Veranstaltungen eine blonde Perücke auf ihr ergrautes Haar, bei jüdischen eine schwarze.

Für mich hatte sie eine besondere Schwäche und fantasierte von großen Möglichkeiten einer Karriere. Im Geiste sah sie mich schon in Hollywood und sich selbst als Begleiterin. »Kommt nicht infrage«, rief meine Mutter empört. Erst mit fünfundsiebzig Jahren bin ich zum ersten Mal in die Staaten geflogen und hatte in New York einen Riesenerfolg in Rosa von Praunheims Film »Anita Berber – Tänze des Lasters und des Grauens«. Was lange währt, wird endlich gut, kann man da nur sagen.

»Und jetzt wirst du in die Schule gehen«, teilte meine Mutter mir mit. »Oh, fein. Kann ich dann alle meine Märchenbücher selber lesen?« – »Natürlich, Liebling, und du wirst eine Freundin haben.« – »Wie wird sie heißen?« Für einen Moment dachte meine Mutter nach, dann sagte sie: »Anneliese.« Aufgeregt erwartete ich den Tag. Mit einer großen Schultüte bewaffnet, stand ich an der Hand meiner Mutter vor der Volksschule und wartete wie viele andere Mädchen auf die Einschulung.

»Wo ist Anneliese?«, fragte ich ungeduldig. »Ja, hm ...« Suchend guckte sich meine Mutter um und deutete auf ein Mädchen, das neben uns stand. »Anneliese!« Ich lief auf sie zu. »Ich heiße nicht Anneliese, ich heiße Gertrud«, sagte das blond gelockte Mädchen und versteckte ängstlich den Kopf im Mantel ihrer Mutter. Empört blickte ich zu meiner Mama auf. »An-ne-lie-se, wo ist Anneliese?«, brüllte ich los. Da kam ein kleines Mädchen mit knallroten Haaren und Sommersprossen auf der Stupsnase auf mich zugelaufen. »Ich heiße Anneliese, wie heißt du?« Über die Schulzeit hinaus blieben wir unzertrennlich, bis die Nazis unserer Freundschaft ein schmerzliches Ende bereiteten.

Was uns besonders verband, waren die Angriffe einiger Klassenkameradinnen. Sie verhöhnten uns, Anneliese als Rotfuchs und mich als Jüdin. Besonders Ortrud hatte es immer wieder auf mich abgesehen: »Mein Vater sagt, ihr habt unseren Herrn Jesus getötet.« Weinend lief ich nach Hause. »Ist das wahr, Mama? Sind wir Mörder?« – »Unsinn, Christus ist selber ein Jude gewesen. Die Römer haben ihn ans Kreuz geschlagen.« Erleichtert atmete ich auf. Als wir das Deutschlandlied auswendig lernten, attackierte Ortrud mich von Neuem: »Mein Vater sagt, du hast kein Recht, das Deutschlandlied zu singen. Du bist keine Deutsche.« Ortruds Vater wurde später ein prominenter Nazi.

Nicht nur das »Anderssein« verband mich mit Anneliese. Ständig bekamen wir in Betragen eine Vier, und – was wichtiger war – wir hatten viele gemeinsame Interessen. Sie spielte wunderbar Klavier, und ich war noch einen Zacken schärfer als sie im Ausdruck von Tanz und Schauspiel. Wenn ich Gedichte vortrug, musste ich sie gleich darstellen: »Was willst du mit dem Dolche, sprich ...« Mit lodernden Augen und gezückten Kochlöffeln sprang ich auf Anneliese zu. »Lotti! Hör auf, hör auf, du machst mir Angst.«

Mir machten einige meiner Lehrer Angst. Die Beschwerden meiner Mutter, was Ortruds rassistische Pöbeleien betraf, stießen auf taube Ohren und bedauerndes Achselzucken: »Ach, das sind doch nur Kindereien.« Unser Biologielehrer ließ immer wieder chauvinistische und abfällige Bemerkungen über England und Frankreich fallen, von Amerika ganz zu schweigen. Dabei war Professor M. alles andere als ein arisches Schönheitsideal. Mit seinen schütteren Haaren, einer ständig tropfenden Spitznase, Schweinsäuglein und einem nicht unbeachtlichen Bauch konnte er nicht genug von der rassischen Überlegenheit und Schönheit des arischen Menschen schwärmen. Über Jahre hinweg leicht genommene Warnungen – bitterböse Vorzeichen, bis es zu spät war.

Viel mehr als die Schule interessierte mich der Tanz. Ein neues Element verdrängte allmählich die Begeisterung für das Ballett: der expressionistische Tanz. Ich war inzwischen ein Teenager – damals nannte man es »Backfisch« (»Mit vierzehn Jahren und sieben Wochen ist der Backfisch ausgekrochen«) – und fühlte mich von dieser neuen, aufregenden Ausdrucksform des Tanzes hypnotisch angezogen. Es war eine wundervolle Zeit, eine Zeit des Aufbruchs im Tanz. Isadora Duncan, die große amerikanische Tänzerin, war unser Idol. Warum sollten wir uns quälen mit albernen Tutus, warum mit Röschen und Schleifen dekoriert herumtrippeln? Wir waren jung, fühlten uns stark, waren stolz auf unseren Körper, während die Generation vor uns körperscheu war und sich ihrer Nacktheit schämte. Der große Weltkrieg hatte Schluss gemacht mit allen alten, verstaubten Prinzipien. Die Jugend nach dem Krieg wehrte sich gegen den alten Zopf, gegen die scheinheilige Moral ihrer Eltern, gegen deren Prüderie. Sie war sich ihrer Sexualität bewusst. Weg mit allem, was dich einengt, war die Parole. Erlebe deinen Körper in all seiner natürlichen Schönheit!

Als ich vierzehn Jahre alt war, gab mir meine Mutter ein Korsett mit den Worten: »Das musst du jetzt tragen. Es schickt sich nicht, dass du deinen Körper zur Schau stellst. Du bist ja schon fast eine junge Frau.« Ich warf das Korsett in hohem Bogen aus unserem Toilettenfenster in den Hof. Niemals habe ich so etwas getragen.

Während das Ballett vom Rücken her linear die Balance bestimmte und strengen Regeln folgte, tanzten wir, von allen Regeln befreit, aus dem Bauch heraus. Unsere Themen waren: der Aufstand, die Leidenschaft, die Liebe, die Gefangenschaft, die Versklavung, der Tanz mit dem Wind, die Eroberung des Raumes und vieles mehr. Die großen Interpreten des modernen Tanzes – Mary Wigman, Gret Palucca, Harald Kreutzberg, Rudolf von Laban mit seinen großartigen Arbeiter-Bewegungschören – begeisterten uns und feuerten uns an, ihnen nachzueifern. Befreit von den Vorurteilen unserer Eltern, verstanden wir nicht, warum der Po eines Menschen unanständiger sein sollte als sein Kopf. Und so tanzte ich mit siebzehn Jahren selig und beschwingt am Strand von Schilksee, splitternackt, wie Gott mich geschaffen hatte.

Aber noch einmal zurück zu meiner Familie. Ich hatte zwei Geschwister: meinen Bruder Walter, zwei Jahre älter als ich, und meinen drei Jahre jüngeren Bruder Kurt, der sich später Ruwen Golan nannte. Wir drei Gören hatten eine glückliche Kindheit, großzügige, liebevolle Eltern, die uns keinen Wunsch abschlugen. Mein Vater distanziert, aber seiner Pflichten bewusst, sorgte für die nötigen Finanzen. Für unser Seelenheil zuständig war meine Mutter. »Geh zu deiner Mama, sie wird’s schon machen«, verwies uns Vater immer wieder auf sie. Sie war das wirkliche Oberhaupt der Familie und hatte alles fest in der Hand. Unbekümmert tobten wir drei Kinder in unserer großen Sieben-Zimmer-Wohnung in der Holstenbrücke 6 herum. Unterstützt wurde der Haushalt von einem Dienstmädchen, einer Köchin, einem Kinderfräulein, einer Weißnäherin und einer Waschfrau.

Unsere Wohnung lag in der dritten Etage des Hauses. Unter uns wohnte der Bankdirektor R. – oh, Verzeihung: der Herr Bankdirektor R. – mit seiner Gattin und fünf erwachsenen Kindern, zwei Söhnen und drei Töchtern. Die drei Töchter starben nacheinander an Tbc, während den Söhnen dieses traurige Schicksal erspart blieb. Einer von ihnen war im Ersten Weltkrieg Leutnant gewesen. Jedes Mal, wenn die Frau Bankdirektor mit diesem Sohn unserem Dienstmädchen auf der Treppe begegnete, herrschte sie sie an: »Platz für mich und meinen Sohn, den Herrn Leutnant!« Worauf »Tatatäta«, so nannten wir Kinder unser Dienstmädchen – eigentlich hieß sie Lisbeth –, sich eingeschüchtert an das Treppengeländer drückte und die Herrschaften vorbeirauschen ließ.

Diese Geschichte wurde uns Kindern immer wieder ausführlich erzählt, und wir spielten die Szene begeistert nach. Mein älterer Bruder war der Herr Leutnant, ich die Frau Bankdirektor und mein jüngerer Bruder »Tatatäta«. »Platz für meinen Sohn, den Herrn Leutnant« wurde für lange Zeit unser Lieblingsspiel. »Tatatäta« lieferte uns noch eine andere faszinierende Geschichte aus dem Haushalt des Herrn Bankdirektors. Da sie und die Hausangestellte des Herrn Bankdirektors auf dem Dachboden ihre Zimmer hatten, tratschten und quatschten die beiden immer ausführlich über ihre Herrschaften.

Seit Jahren sprachen Herr und Frau Bankdirektor kein Wort mehr miteinander. In ihrer großen Wohnung saß er im Salon, während sie sich im Speisezimmer niedergelassen hatte. »Sag dem Herrn Bankdirektor, dass das Essen fertig ist«, befahl sie ihrer Hausangestellten. Und mit den Worten »Sag der Frau Bankdirektor, dass ich bereits auswärts gegessen habe«, jagte er das Mädchen wieder zurück zu der »Gnädigen«. Hin und Her, Pingpong-Spiel einer Ehe.

In Erinnerung daran habe ich folgende Verse geschrieben:

Nach dreißig Jahren

Du, der du neben mir auf dem Kissen liegst,
schläfst du noch?
Dreißig Jahre haben wir uns ertragen
und haben uns nichts mehr zu sagen.
Immer mehr haben wir uns voneinander entfernt
und haben nichts dazugelernt.
He du, der du neben mir auf dem Kissen liegst,
schläfst du noch?

Ich erinnere mich:
Ich hatte mein Bein gebrochen,
war nur noch Haut und Knochen.
Aber du wolltest wandern,
dabei triebst du es mit ’ner andern
– übrigens meiner besten Freundin.
Aber nach Hause bist du immer gekommen,
ein bisschen geschwächt, ein bisschen benommen.
»Wo bleibt das Essen?«, brülltest du.
Und ich – ich kochte, ich blöde Kuh.
He! Schläfst du noch, oder bist du gestorben?
Diese Frage stell ich mir jeden Morgen,
denn scheintot warst du seit eh und je.
He! Willst du Kaffee oder Tee?

Warum frag ich das alles noch?
Gefallen sind wir schon lange ins schwarze Loch
der Gleichgültigkeit.
Verschludert haben wir die schönsten Jahre,
und so wie uns gibt es viele Paare.
Ausgelöscht und leer,
führen wir keine Gespräche mehr.
He du! Sprich doch mit mir! Sag doch ein Wort!
Was gibt es heute eigentlich im Fernsehen?
Bei Anruf Mord.

Meine beiden Brüder Walter und Kurt entwickelten sich sehr unterschiedlich. Mit siebzehn Jahren hatte mein älterer Bruder das Abitur bereits bravourös bestanden. Obwohl er Klassenjüngster war, hielt man ihn immer für ein älteres Semester. »Na, wird’s nicht Zeit für Sie, endlich aufzuhören, die Schulbank zu drücken?«, fuhr ihn einmal ein älterer Herr bei einem Schulausflug bissig an. Walter hatte eine Reife, eine Art, erwachsen zu sein, die weit über sein Alter hinausging. Vielleicht hatte das etwas mit seinem frühen Tod zu tun, denke ich manchmal. Walter starb tragischerweise mit zweiundzwanzig Jahren an einem Knochensarkom. Das war ein Schlag für meine Mutter, den sie ihr ganzes Leben nicht verwunden hat.

Ehrlich gesagt und ohne Sentimentalität: Ich habe meinen älteren Bruder Walter nie gemocht. Er war mir zu fatzkig. Er studierte Jura und wurde Korpsstudent einer christlich-jüdischen Verbindung. Als er einmal einen noch frisch blutenden Schmiss mit nach Hause brachte, bekam meine Mutter einen Schreikrampf, ich einen Lachanfall, wofür ich gleich von der aufgeregten Mama eine Ohrfeige erhielt.

Mein Bruder schenkte mir einen »Bierzipfel« – ein Ripsband mit den Farben seiner Verbindung: Grün, Schwarz und Weiß. Einen »Bierzipfel« schenkte man entweder der Dame seines Herzens oder seiner Schwester. Er wurde an einem Kettchen am Handgelenk getragen oder zierte mit einer Nadel das Kleid. Ich fand das alles sehr affig. Auch von den eingebildeten, näselnden Kommilitonen meines Bruders hielt ich nicht viel. »Äh, äh, äh ...«, stotterten sie. Vor lauter Arroganz kriegten sie ihre Klappe nicht auf.

Aber meine Mutter war stolz auf ihren Ältesten! Und wenn sie untergehakt mit ihm um den »Kleinen Kiel« spazieren ging und für seine Freundin gehalten wurde, war sie selig. Ach, mein armes Mütterlein! Walter gab ihr das, was mein Vater ihr nicht geben konnte – eine intellektuelle Partnerschaft. Mit ihm zusammen studierte sie alle BGB-Paragrafen. Sie ging mit ihm ins Theater, ins Schauspiel, wofür mein Vater kein Verständnis hatte. Er hingegen liebte leidenschaftlich die Oper, die meine Mutter weniger interessierte. Aber die Operette war etwas ganz anderes.

Wenn Richard Tauber in »Land des Lächelns« oder in anderen Lehár-Operetten gastierte, war das jedes Mal ein großes gesellschaftliches Ereignis in Kiel. Dann verließen meine Eltern gemeinsam in »grande toilette« das Haus. Einmal hatten zu einem solchen Anlass zwei Damen dasselbe Abendkleid an: die Frau eines Arztes und die Frau eines Rechtsanwaltes. Es war ein wundervoller Skandal, der fast die Ereignisse auf der Bühne überschattete.

Wilde Diskussionen gab es bei uns zu Hause über die Stücke von Gerhart Hauptmann, Frank Wedekind, Henrik Ibsen und Arthur Schnitzler, die damals für Theaterskandale sorgten. Mein Vater als richtiger »Vereinsmeier« war Vorsitzender des Kieler Theaterverbandes. Dadurch gingen wir sehr viel ins Theater. Wir hatten unsere Loge direkt neben der des Oberbürgermeisters. »Aber das Kind versteht doch noch gar nichts«, empörte sich meine Tante Gina, wenn meine Mutter mich wieder einmal in ein umstrittenes Schauspiel mitnahm. »Oh, etwas wird es schon mitbekommen«, meinte meine Mutter sorglos, »und wenn es nicht alles versteht, ist es doch auch nicht schlimm.«

Für diese Einstellung bin ich meiner Mutter heute noch dankbar. Durch sie bekam ich in frühester Jugend eine umfassende Literatur- und Theaterkenntnis. In unserem Hause verkehrten Sänger, Schauspieler, Regisseure – unter anderem Gustaf Gründgens, der damals als junger Schauspieler im Kieler Stadttheater engagiert war. Auch Carl Zuckmayer, der als Dramaturg im selben Theater tätig war, hatten wir oft bei uns zu Gast. Gustaf Gründgens! Noch immer mein Idol, und noch immer brüste ich mich damit, dass ich als kleines Kind auf seinem Schoß gesessen habe.

Gründgens und Zuckmayer sorgten für einen unerhörten Theaterskandal in Kiel. Es war 1925 oder 1926 – so um den Dreh muss es gewesen sein: Die Honoratioren der Stadt, zu denen auch meine Eltern zählten, wurden zu einer »geschlossenen Vorstellung« eingeladen. Das Stück hieß »Der Eunuch«. Es kam zu einem Skandal. Zu Hause angekommen, schleuderte meine Mutter empört ihr Abendcape auf den Boden. »Unerhört! So eine Schweinerei!« – »Wieso? Was?« Ich verstand gar nichts. »Und was ist eigentlich ein Eunuch?«, wollte ich wissen. »Das brauchst du nicht zu wissen, das ist nichts für kleine Mädchen«, fuhr meine Mutter mich an. »Ja, aber ...« – »Kein Aber. Halt den Mund und geh ins Bett.«

Gründgens und Zuckmayer wurden gefeuert und mussten über Nacht die Stadt verlassen. Zuckmayer ging ins Rheinland und schrieb dort den »Fröhlichen Weinberg«, Gründgens startete seine große Karriere in Hamburg. Später, als ich fünfzehn Jahre alt war, wurde Zuckmayer, schon sehr berühmt, zu einer Vorlesung in die Universität Kiel eingeladen. Ich durfte mit meiner Mutter hingehen. »Meine Damen und Herren«, begann er seine Rede, den auf ihn niederprasselnden Applaus leicht mit den Händen abwehrend. »Ich danke Ihnen für Ihr warmes Willkommen. Kann ich mich doch noch gut erinnern, wie ich aus dieser Stadt hinausgeworfen wurde und Kiel bei Nacht und Nebel verlassen musste.« Betretenes Schweigen.

Mein älterer Bruder erfüllte alle Ambitionen meiner Mutter, während ich mit meiner Anti-Establishment-Haltung sie zur Verzweiflung brachte. Besonders wenn ich mich über die hinreißenden Kleider lustig machte – »Créationen«, wie meine Mutter sie nannte –, die extra in Berlin aus den schönsten Stoffen des Holstenhauses für sie und auch für mich angefertigt wurden.

Die Schneiderin, Fräulein Schoop, eine alte Jungfer, arbeitete auch für die UFA und war eine wahre Künstlerin ihres Faches. »Auf keinen Fall zieh ich so etwas an«, erklärte ich kategorisch meiner Mutter, wenn die teuren Modelle aus Berlin in Kiel ankamen. Ritsch machte die Schere. Ich schnitt die Apfelblüte, die auf der linken Schulter des rosa Chiffonkleids prangte, erbarmungslos ab. Auch die große Tüllschleife, die eine andere »Création« an der Taille zierte, musste dran glauben. Ich riss sie herunter. Doch damit war ich noch immer nicht zufrieden. »Nein, nein, nein!«, schrie ich und stampfte mit den Füßen auf.

Aus grobem Leinen schneiderte ich mir dann selbst ein Kleid, nähte große Holzknöpfe an und zupfte Fransen aus. Dann färbte ich Pingpong-Bälle orange und hängte sie mir um den Hals. So! Nun fühlte ich mich wohl.

Während der Sommerferien, kurz vor dem Abitur, bat ich meine Mutter, einen Sommerkursus in Schneiderei belegen zu dürfen. »Wozu denn das?«, fragte sie verständnislos. Ich spürte einen unwiderstehlichen Drang, mir meine Kleider und meine Gewänder selber zu nähen. Nach vielem Hin und Her willigte meine Mutter dann völlig genervt ein, und ich durfte den Kursus belegen.

Später war ich sehr glücklich darüber, und noch heute profitiere ich von meinen Nähkünsten, die ich mir in diesem Kursus angeeignet habe. Er begann unter den wachsamen Augen der Schneidermeisterin Ernestine Schütt. Sie war ein ältliches Fräulein und hatte ihr Atelier, von dem sie immer stolz erzählte, geschlossen, um eine Zuschneideschule zu eröffnen. Nur noch hin und wieder beglückte sie alte Kundinnen mit der Anfertigung irgendeines schrecklichen Modells. Bei den Anproben durften wir Schülerinnen manchmal dabei sein.

Fräulein Schütt war, milde ausgedrückt, eine bizarre Erscheinung. Sie erinnerte mich an das Plakat, das Toulouse-Lautrec von der berühmten Moulin-Rouge-Tänzerin La Goulue gemalt hat. Ernestine Schütt muss so um die sechzig gewesen sein und trug ihre rot gefärbten Haare wie La Goulue hoch auf dem Kopf. Eine spitze Nase gab dem mehligen, etwas grünlich schimmernden Gesicht einen interessanten Ausdruck. Mit schmalen, eng zusammenstehenden Augen betrachtete sie ihre Opfer – ihre armen Kundinnen.

Wir kringelten uns vor Vergnügen, wenn sie loslegte: »Tja, Frau M., Ihre rechte Schulter ist ja total schief. Wussten Sie das nicht? Da muss ich den Stoff ein bisschen mehr anheben.« Oder: »Oh, mein Gott, Sie haben ja eine vollkommen verwachsene Hüfte! Die müssen wir geschickt verdecken. Sie wollen doch nicht wie ein Krüppel aussehen.« Immer wieder entdeckte sie voller Begeisterung körperliche Fehler an ihren Kundinnen, deren die Damen sich vorher nicht bewusst gewesen waren. Erschrocken starrten sie zuerst in den Spiegel und dann beschämt auf den Boden und ließen alles über sich ergehen, bis das grässliche Modell völlig verschnitten an ihrem Körper hing.

Es war uns immer schleierhaft, warum die Kundinnen diese unverschämten Feststellungen akzeptierten. Nun ja, so ist es nun einmal: »Ernestine Schütt – Schneidermeisterin« stand auf ihrem Namensschild an der Tür. Und Titel geben seinem Träger in Deutschland bekanntlich Narrenfreiheit.

Seufzend akzeptierte meine Mutter, dass ich mit meinen selbst entworfenen Modellen herumlief. Nur wenn sie mit mir auf einen der langweiligen Studentenbälle ging, bestand sie darauf, dass ich eine der extra für mich gemachten Berliner »Créationen« trug.

Wie anders war mein jüngerer Bruder! Dem war das ganze Getue ebenso zuwider wie mir. Das kam von seiner politischen Einstellung, während ich mich, wenn man es so nennen will, künstlerisch ausdrückte. Kurt entwickelte sich ganz anders als mein Bruder Walter. Er hatte immer große Vorbilder gehabt, Männer der deutschen Geschichte, die er verehrte. Schon als Schüler hing an der Wand seines Zimmers sein erstes Idol: Friedrich der Große. Dann folgten Bismarck und Karl Marx. Als die Nazis sein »Deutschbewusstsein« grausam zerstörten, war es Theodor Herzl, der Gründer des jüdischen Staates.

Kurt war, wie viele junge Menschen, sehr idealistisch eingestellt. Als Oberprimaner führte er einmal die Jugend im Mai-Umzug an. Stolz schwenkte er die schwarz-rot-goldene Fahne. »Schauen Sie einmal aus dem Fenster, Herr Goldmann, und sehen Sie sich Ihren Sohn an«, verpassten Bekannte meinem Vater die »freudige« Nachricht. Papa bekam einen Tobsuchtsanfall, und nur mit Mühe und Not und vielen »Um Gottes willen« verhinderte meine Mutter, dass mein außer sich geratener Vater seinen Sohn zum Krüppel schlug. Nie wieder habe ich meinen sonst so gutmütigen Vater so außer sich erlebt. Mein armer Vater mit seinem deutschnationalen Gemüt! Er starb an gebrochenem Herzen in Palästina.

Mein Bruder Kurt ging kurz vor Kriegsausbruch nach Palästina und wurde ein überzeugter Zionist. Bis zu seinem Tode identifizierte er sich mit seinem Land – Israel. Aufgrund der Sozialarbeit, die er dort leistete, seines Einsatzes für die Flüchtlinge und für alte, kranke Menschen wurde er zu einer hoch geschätzten Persönlichkeit. Auch um gute Beziehungen zu Deutschland hatte er sich immer wieder bemüht. Kurz vor seinem Tode 1986 wurde ihm von Bonn das Bundesverdienstkreuz angeboten, das er aber nicht entgegennehmen wollte, bis »sein« Land Israel ihm eine Anerkennung für sein Engagement ausgesprochen hatte. Aber er starb, bevor seine Wünsche Wirklichkeit werden konnten.

Ich besitze noch ein Foto, auf dem er mit Mrs Roosevelt zu sehen ist, der Frau des großen amerikanischen Präsidenten. Mrs Roosevelt hatte sich sehr für das »jüdische Problem« eingesetzt. Das Bild zeigt die First Lady und meinen Bruder mit jungen Siedlern vor einem neu gegründeten Kibbuz.

Dennoch – davon bin ich fest überzeugt – konnte mein Bruder sein Deutschsein nie aus seinem Herzen reißen. Er war, was man in Israel einen »Jecke« nennt – ein Spottname für die deutschen Juden. Seine Korrektheit und Pünktlichkeit, eben seine preußische Art, wurden von den polnischen und russischen Juden teils belächelt, teils bewundert. Auch seine eigenen Kinder machten sich manchmal liebevoll über ihren »Jecke-Papa« lustig.

Mit siebzehn Jahren erlebte ich die große Liebe in meinem jungen Leben. Ich ging die Dänische Straße entlang, eine der Geschäftsstraßen Kiels. Und er kam mir entgegen. Ich seh ihn noch vor mir: Er trug einen Mantel à la Humphrey Bogart, den blonden Kopf provozierend zurückgeworfen, lachende blaue Augen, strahlend weiße Zähne. Wir gingen aneinander vorbei und drehten uns gleichzeitig nacheinander um. Dann ging er weiter. Er hatte einen schaukelnden Seemannsgang wie Kuddeldaddeldu von Ringelnatz. Das erklärte sich aber erst später: Er war ein erstklassiger Segler.