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Inhalt

Und wer küsst mich?
Inhalt
Es geht uns alle an
Wer sind die Absolute Beginners?
Warum es die Liebe im 21. Jahrhundert schwer hat
Partnerwahl heute
Wenn Sex und Sexyness zum Maß aller Dinge werden
Wie die Bindungsangst der Liebe den Garaus macht
Perfektionismus als Feind der Liebe
Schüchternheit in Zeiten des Selbstmarketings
Welche Rolle die Gesellschaft dabei spielt
Eine Szene meldet sich zu Wort
Das Spektrum der Protagonisten
Anschluss verpasst – junge Absolute Beginners
»Ich bin ein Verdurstender, der hinter einer dicken Glasscheibe Tausende Liter kaltes Wasser erblickt.«
»Über den Vorletzten lachen sie nicht, nur über den Letzten, über den lachen sie.«
Ahmet, 22, Student der Volkswirtschaftslehre
»Ich definiere mich nicht über meine Beziehungslosigkeit.«
Simone, 25, Erzieherin
Beziehungslosigkeit in der Emerging Adulthood – mittlere Absolute Beginners
»Ich verliebe mich immer in die falschen Typen.«
Verena, 26, Chefassistentin in einem mittelständischen Unternehmen
»Manchmal sehe ich meinen ersten Freund als 70-Jährigen«
Anna, 26, Bibliothekarin.
»Ich fühle mich wie eine Mogelpackung.«
Marco, 31, Logistiksachbearbeiter
»Ich bin niemand, in den man sich verlieben kann.«
Jörg, 33, Diplom-Informatiker
Es gibt noch andere Dinge im Leben – ältere Absolute Beginners
»Das Männerproblem war einfach der letzte Rest der noch geregelt werden musste.«
Christine, 43, Steuerberaterin
»Die Einsamkeit ist eine seltsame Kälte, die von meinem Bauch ausgeht.«
Rainer, 43, Mitarbeiter in einer gemeinnützigen Einrichtung
»Ein Leben lang ungeküsst zu bleiben: Das ist unnormal.«
Norbert, 49, Sozialpädagoge
Ohne Sex und Zärtlichkeit
Welche Unterschiede gibt es zwischen männlichen und weiblichen Absolute Beginners?
Vom Umgang mit einem unbefriedigten Trieb
Wie werde ich ein Ex-AB?
Der Schritt in die Öffentlichkeit
Tipps und Ratschläge von ABs für ABs
Und dann hat es doch noch geklappt
Was Experten raten
Absolute Beginners blicken in die Zukunft
Anhang
Hintergrundliteratur
Medienbeiträge zum Thema
Weiterführende Links
Zur Autorin

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

1. Auflage, Oktober 2012 (entspricht der 1. Druck-Auflage von September 2012)
© Christoph Links Verlag GmbH
Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0
www.christoph-links-verlag.de; mail@christoph-links-verlag.de

Titelgestaltung und Titelillustration: Burkhard Neie, www.blackpen.xix-berlin.de, 
unter Verwendung der Fotos von Nique282/fotolia und vege/fotolia

ISBN 978-3-86284-194-3 

Es geht uns alle an

Ungefähr ein bis zwei Millionen erwachsene Menschen in Deutschland kennen weder Liebe noch Sex. Und einige von ihnen erzählen in diesem Buch ihre Geschichte. So wie Christine, die mit Anfang 40 ihren ersten Freund hat, und Anna, 26, die noch nie richtig geküsst wurde, oder Marco, 31, der smalltalken, aber nicht flirten kann, und Rainer, 43, der sich seine ersten Sex-Erfahrungen schließlich bei einer Prostituierten gekauft hat. Menschen, die ohne Liebe, ohne Partner leben und ohne (realen) Sex. Manche nahezu, andere komplett und schon immer ohne. Manche mit dem einen, ohne das andere, aber auch das nicht gern. Sie haben einen Namen und der lautet: Absolute Beginners.

Auch wer nicht selbst betroffen ist, kennt garantiert jemanden, der es ist: Die Cousine, die noch nie einen Freund zu einer Familienfeier mitgebracht hat, doch die Gerüchte, sie sei lesbisch, glaubwürdig dementiert. Den Kumpel aus Schulzeiten, der immer noch ein super Kumpel ist, es aber mit den Frauen irgendwie nicht so hat. Die Endzwanzigerin aus dem Bekanntenkreis, die so sehr mit ihrer Clique aus anderen Dauer-Single-Frauen beschäftigt ist, dass die Männer überhaupt keine Chance haben, an sie heranzukommen. Obwohl sie sich nach einem Partner sehnt. Oder den besten Freund des Ehemannes, nicht gerade ein Partyhengst und nie dort präsent, wo sich einsame Frauenherzen herumtreiben.

Ein Leben ohne Liebe und Sex. In unserer zunehmend pornoisierten Gesellschaft ist das eine in höchstem Maß absurde Vorstellung und zugleich eine logische Konsequenz der jüngsten Entwicklungen auf dem weiten Feld der Liebe. Absurd, weil unsere Welt so voller Sex ist, dass es fast wehtut: Im Fernsehen werden wir mit den hüllenlosen Brüsten von Erotikmodel Micaela Schäfer in der TV-Serie Dschungelcamp konfrontiert, im Kino handeln inzwischen auch die Mainstream-Filme von der Erfindung des Vibrators (In guten Händen), den Sexphantasien der Frauen (Eine dunkle Begierde) oder dem Leben von Beate Uhse (Das Recht auf Liebe). Die Macher von Werbung mit nackter Haut, die in Trendblogs seit zwei, drei Jahren »Nudevertising« genannt wird, legen es inzwischen sogar drauf an, wie kürzlich die Ryanair- oder Diesel-Kampagnen ermahnt oder gar zensiert zu werden, weil der Werbeeffekt der »Banned Commercials« dann umso größer ist. Und die Jugendsexualität hat zwar laut der Studie Jugendsexualität 2010 der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung ihren Zenit überschritten und weist zuletzt rückläufige Zahlen auf. Aber immer noch haben sieben Prozent der 14-jährigen Mädchen und vier Prozent der 14-jährigen Jungen, beziehungsweise 66 Prozent der 17-jährigen Mädchen und 65 Prozent der 17-jährigen Jungen ihr erstes Mal bereits hinter sich.

Wie kann ein Mensch da am Sex vorbeikommen? Wie kann jemand keine Beziehung haben trotz Online-Partnerbörsen, Fisch-sucht-Fahrrad-Parties, Speed-Dating und Kuppelshows im Privatfernsehen? So schwer und so unglaublich ist das gar nicht. Denn die Liebe ist in unserer Gesellschaft längst nicht mehr unbeschwert zu genießen. Sie ist zum Problem geworden. Nicht nur für eine Minderheit, sondern grundsätzlich. Die Titel der einschlägigen Literatur lauten nicht ohne Grund: Das Ende der Liebe: Gefühle im Zeitalter unendlicher Freiheit von Sven Hillenkamp (2010) oder Warum Liebe weh tut von Eva Illouz (2011). Was aber steckt dahinter? Wir wollen unsere Freiheit nicht aufgeben und führen Selbstverwirklichung an erster Stelle auf der langen Liste für ein glückliches Leben – weit vor einer zuverlässigen Partnerschaft. Wir sind schon sehr früh (vom ersten Schulpraktikum in der neunten Klasse) und dann sehr lange (bis weit in die 30 hinein) mit Berufswahl und Berufseinstieg beschäftigt. Und wir bekommen durch das vermeintliche Überangebot an möglichen Partnern – insbesondere in den Online-Partnerbörsen – die Illusion vorgegaukelt, um die Liebe brauche man sich nicht zu bemühen, eine Beziehung werde sich schon ergeben, wenn die Zeit dafür reif ist.

Wenn wir uns aber auf die Absolute Beginners zubewegen, kommt noch ein Aspekt ins Spiel, den die Journalistin Nina Pauer in ihrem vieldiskutierten Artikel »Die Schmerzensmänner« im Feuilleton der Zeit vor kurzem beleuchtet hat: das durcheinander geratene Rollenbild der jungen Männer von heute. Da, wo wir Frauen uns früher über die Machos beschwerten, nämlich auf unseren Sofas und in unseren Betten, sitzen heute Weicheier. Oder etwas wohlwollender formuliert: Softies. Weil die Gesellschaft Männer wollte, die empfindsamer, tiefgründiger, weiblicher sind. Und jetzt ist doch keiner so richtig glücklich damit. »Was als eine begrüßenswerte Mentalitätsreform des alten Männerbildes begann, hat inzwischen groteske Züge angenommen«, schreibt Nina Pauer über den sogenannten Schmerzensmann. »Das eigene Leben reflektierend und ständig bemüht, sein Handeln und Fühlen sensibel wahrzunehmen, nach außen zu kehren und zu optimieren, hat er sich auf einer ewigen Metaebene verheddert, von der er nicht wieder herunterkommt.« Die jungen Männer von heute wissen also nicht mehr so recht, wer sie sind, wer sie sein sollen und sein wollen. Das gilt nicht nur für die Absolute Beginners unter ihnen, und das hat laut Nina Pauers Beobachtungen drastische Folgen: »Die erfolgreiche Kommunikation mit seinem weiblichen Gegenüber, in Liebesdingen ohnehin notorisch unwahrscheinlich, ist damit noch ein Stück weiter in Richtung Unmöglichkeit gerückt.« Mit anderen Worten: Das uralte Spiel zwischen Männlein und Weiblein funktioniert nicht mehr.

Natürlich sind daran nicht allein die Männer schuld. Ihre Rollenkrise hat sehr wohl auch ihr weibliches Pendant. Auch wir Frauen wissen nicht mehr, wer wir sind, wer wir sein sollen und sein wollen. Öko- oder Latte-Macchiato-Mutter? Hausfrau trotz Emanzipation oder jüngste Chefin aller Zeiten trotz Kind? Und wo die Sehnsucht nach einer Schulter zum Anlehnen verstecken in unserem Selbstbild der in allen Lebenslagen bewundernswert starken Powerlady? Junge Frauen von heute, kontert Christoph Scheuermann daraufhin in seinem Essay »Lieber nicht« auf Spiegel Online, sind »Optimier-Frauen«: »Die Optimier-Frau will alles und jeden optimieren, wie ein außer Kontrolle geratener Ingenieur.« Das gilt für die Menschen, die sie umgeben, ebenso wie für sich selbst. An den Männern wird herumerzogen, an sich selbst herumgezweifelt und -kritisiert. Und das Schlimmste daran, findet Christoph Scheuermann, sei der verzweifelte Versuch der Damen, in diesem Wust aus Ansprüchen bloß nicht nervig und kompliziert rüberzukommen. Am Ende wirkt das auf die Männer so abtörnend, dass nicht nur Mauerblümchen, sondern auch Powerfrauen einsam bleiben. »Dominanz beherrscht die Optimier-Frau perfekt«, resümiert Scheuermann. »Es ist aber gut möglich, dass sie beim Jonglieren ihrer vielen Rollen und Aufgaben vergessen hat, was es bedeutet, Geliebte zu sein.«

Die Neudefinition von Männlein und Weiblein in unserer Gesellschaft ist also auf Irrwege geraten. Viele junge Menschen kämpfen mit ihren Rollenbildern, fühlen sich darin nicht wohl. Und wie soll das funktionieren, dass sich jemand, der selbst nicht weiß, warum er ist, wie er ist, auf einen Partner einlässt, in dessen Selbstbild es mindestens genauso kompliziert zugeht? Gar nicht. Beziehungsunfähigkeit und Bindungsangst sind die Folge. Betroffen von diesen Irrungen und Wirrungen der Liebe oder dessen, was davon übrig geblieben ist, sind wir alle.

Die Absolute Beginners sind es auf extreme, aber nicht vollkommen unerklärliche Art und Weise. Und das ist auch der Grund, warum mich dieses Thema in seinen Bann gezogen hat. Die Frage, die mich dabei umtreibt: Was macht die Gesellschaft mit den Individuen, aus denen sie besteht?

Aus dem Stegreif fallen mir drei Leute aus meinem Bekanntenkreis ein, die allein durchs Leben gehen und das schon immer getan haben. Aber keiner von ihnen redet darüber. Und keiner von uns ist jemals auf die Idee gekommen, sie ernsthaft zu fragen, wie es ihnen damit geht. Wir nehmen sie, wie sie sind, und geben gelegentlich gut gemeinte, aber oberflächliche Ratschläge. Umso größer war mein Bedürfnis, in die Lebenswelt dieser Menschen einzutauchen, sie wirklich an mich heran zu lassen, um die Funktionsmechanismen unserer Gesellschaft besser zu verstehen.

Unfreiwillige Beziehungslosigkeit oder sexuelle Unerfahrenheit ist nichts ungemein Abwegiges oder Seltenes. Sie findet sich, wenn man genau hinschaut, in jedem weiteren Bekanntenkreis, in jedem Familienclan. Jeder »Normalo«, wie die Menschen mit einem »gewöhnlichen« Liebeslebenslauf bei den Absolute Beginners heißen, kann damit konfrontiert werden, besonders jetzt, wo das Thema in die Öffentlichkeit rückt und mit jedem Artikel, jedem Fernseh- oder Radiobericht und nicht zuletzt mit diesem Buch mehr Betroffene sich trauen zuzugeben, betroffen zu sein. Insofern ist das hier kein Special-Interest-Werk für eine Miniaturfraktion von Exoten und Sensationsgeiern. Die Absolute Beginners – oder vielmehr ihr Erscheinen in der Öffentlichkeit – sind ein Phänomen des 21. Jahrhunderts, das es genauso verdient hat, beleuchtet zu werden, wie jede andere gesellschaftliche Strömung auch. Es ist für alle interessant, die sich mit den Gefühlstrends in unserer Gesellschaft auseinandersetzen, denn die Unberührten, von denen in diesem Buch einige ausgewählte stellvertretend für viele andere sprechen, sind ein Teil von uns.

Doch dieses Buch bietet nicht nur eine Zusammenstellung ihrer Erfahrungsberichte über ein Leben ohne Sex und Beziehungen, sondern auch eine Einordnung des Phänomens in unsere Zeit und unsere Gesellschaft sowie eine umfassende Analyse der niedergeschriebenen Geschichten. Während die bisher zum Thema veröffentlichten Medienberichte regelmäßig die Einzelschicksale der Betroffenen in den Vordergrund stellen, gehen wir dem Phänomen als Ganzes auf die Spur, fühlen uns in die Szene ein, auf der Suche nach Antworten auf Fragen wie: Wer sind sie eigentlich, die Absolute Beginners? Inwiefern hat unsere Gesellschaft sie mit hervorgebracht? Gibt es Gemeinsamkeiten in ihren Lebensläufen – und unterscheiden sie sich denn eigentlich sehr von einer vermeintlich »gewöhnlichen« Vita? Gibt es Unterschiede im Umgang mit der Unerfahrenheit zwischen männlichen und weiblichen Betroffenen? Was ist das größere Problem: Der Mangel an Sex oder der Alltag ohne Beziehung? Warum entscheiden sich Absolute Beginners für oder gegen ein Outing, welche Reaktionen ernten sie und welche wünschen sie sich? Welche Tipps und Ratschläge gibt es für die unfreiwillig Beziehungslosen, um ihr Leben zu meistern und ihre Situation zu ändern?

Es lohnt sich, sich mit diesen Fragen auseinanderzusetzen: Man lernt dabei viel über sich selbst. Denn »Beginners« sind wir alle, immer wieder im Leben. Wenn wir uns zum ersten Mal auf etwas einlassen, wovor wir bisher davongelaufen sind oder wenn sich plötzlich herausstellt, dass alles ganz anders ist als gedacht. So wie in dem Film Beginners (2010) mit Ewan McGregor und Mélanie Laurent, in dem sich zwei junge Leute, von großer Bindungsangst geplagt, nur ganz vorsichtig aufeinander zubewegen können. Im Film outet sich zudem der Vater des Protagonisten (Christopher Plummer, der 2012 für diese Rolle den Oscar als bester Nebendarsteller bekam) im Alter von über 70 Jahren als schwul, bevor er an Krebs stirbt. Für den Sohn gerät die Welt aus den Fugen und setzt sich nach einem großen emotionalen Sturm vollkommen neu zusammen. In dieser durchgemangelten Realität, in der alle vorher sicher geglaubten Angelpunkte plötzlich nicht mehr existieren, ist Ewan McGregors Figur trotz ihres erwachsenen Alters noch einmal ein Anfänger, ein »Beginner« eben. Für einen Absolute Beginner im Sinne der sexuellen Unerfahrenheit und Beziehungslosigkeit ist es genau das, was er lernen muss zuzulassen, wenn er aus seinem Alleinsein ausbrechen möchte: den großen emotionalen Sturm, die Neuzusammensetzung seiner Welt. Auch auf die Gefahr hin, dass er sich selbst danach nicht wiedererkennt.

Wer sind die Absolute Beginners?

Wenn einer in seinem Leben Beziehungen hat und Sex, verschwendet er keinen Gedanken daran, dass es hätte anders kommen können. Warum auch? Er hat ja Beziehungen und Sex und all die Schwierigkeiten, die das mit sich bringt. Wenn er dann hört, dass es jemanden gibt, der das noch nie hatte, denkt er einen bissigen Moment lang vielleicht: Der Glückliche, hat die ganzen Probleme nicht. Oder er hat Mitleid und findet: Der verpasst was. Aber so recht vorstellen kann er sich nicht, was das heißt, »einer von denen« zu sein. Einer von denen, die Beziehungen nicht kennen und auch keinen Sex. Oder wenn, dann nur selten und kurzfristig, aber nichts Richtiges. Die Minimalausgabe: in 40 Jahren zwei Knutschereien, nach denen die Frauen nie wieder was von sich hören ließen. Oder eine unverbindliche Onlineaffäre mit Ende 20, statt endlich das echte »erste Mal«. Oder aus Frust gekauften Sex, bloß um nicht mehr unberührt zu sein. Oder jahrelang unerwiderte Gefühle für einen unerreichbaren Traumpartner. Oder einen viel versprechenden Flirt, aus dem was hätte werden können, wäre da nicht dieses traumatische Erlebnis in der Kindheit gewesen.

Aus den Unerfahrenen, Beziehungslosen, Unberührten, Immer-Singles in unserer Gesellschaft ist seit Ende der 90er Jahre eine eigene Szene hervorgegangen. Ein Mann mit dem Pseudonym Lion, der Gründer des ersten einschlägigen Internetforums, gilt als Urvater dieser Szene, und er hat die Betroffenen Absolute Beginners getauft, kurz: ABs. Zufällig war er auf diesen Begriff gekommen, beim Hören eines seiner Lieblingstitel von David Bowie, der genauso heißt. »Ein sehr gefühlvoller Song«, interpretiert Lion im Gespräch über seine Rolle innerhalb der AB-Bewegung: »Zwei Menschen haben sich endlich gefunden und spüren, dass sie ihre Liebe wie etwas sehr Kostbares in den Händen halten. Ein Aufbruch, ein hoffnungsvoller Morgen dämmert. Alles ist neu, beide betreten neues Land. Wobei ich nicht denke, dass die beiden ABs, also unerfahren sind. Sie sind vielmehr der Liebe ihres Lebens begegnet.«

Was die ganz große Liebe angeht, empfinden sich die Titelhelden des Bowie-Songs als totale Anfänger, denn sie ahnen, dass sie einer völlig neuen Erfahrung gegenüberstehen. So wie die Absolute Beginners ahnen, dass es weniger darum geht, was sie in ihrer Jugend an Flaschendrehen und »Wahrheit oder Pflicht« verpasst haben, als vielmehr um die erwachsene Liebe, die es wert ist, erlebt zu werden. Nicht umsonst richtet sich ihre Sehnsucht selten auf das Nachholen der unbeschwerten Jugend, so wie bei Ahmet, 22: »Soll das wirklich so laufen? Von null auf hundert, vom unberührten AB zum Ehemann und Vater? Kann ich nicht die null bis hundert erst mal in vollen Zügen genießen?«, überlegt der VWL-Student und meint damit vor allem das Ausprobieren verschiedener Frauen ohne Verpflichtungen. Bezeichnend für die Mehrheit der Absolute Beginners, auf deren Berichten dieses Buch basiert, ist eher Sascha, 29, der sein Sehnen auf die eine Traumpartnerin ausrichtet, auf die Liebe für immer: »Diejenige, die sich für mich entscheiden könnte, würde ich wie ein besonders wertvolles Geschenk behandeln. Ich würde bis hin zur Selbstaufgabe alles für sie tun, würde meine eigenen Bedürfnisse vernachlässigen. Würde ihr alles geben, wonach sie sich sehnt.«

Die meisten der Protagonisten dieses Buches wünschen sich als erste »richtige« Erfahrung kein oberflächliches Abenteuer, sondern eine echte, tiefe, langfristige Beziehung. So gesehen ist David Bowies Song für einen Absolute Beginner ein Blick in die Zukunft, wie er sie sich erhofft. Wenn er nun schon so lange warten musste, dann soll es auch die große Liebe sein, die als Belohnung am Ende der Durststrecke wartet. Eine Liebe wie bei Bowie.

Aber die Zukunft ist nicht das einzige Thema, um das es in diesem Song geht. »Absolute Beginners« beschreibt auch das aktuelle Lebensgefühl der unfreiwillig Beziehungslosen:

»Ich habe nicht viel zu bieten,
da gibt’s nicht viel zu kriegen.
Ich bin ein vollkommener Anfänger,
aber ich bin zurechnungsfähig.
So lange wir zusammen sind,
können die anderen zur Hölle fahren.
Ich liebe dich total,
aber wir sind vollkommene Anfänger
mit vor Unsicherheit weit geöffneten Augen.«

Das passt, was er da singt, wenn man sich die Geschichten, die in diesem Buch versammelt sind, anschaut. Es ist von der Angst die Rede, nicht viel zu bieten zu haben. Zum Beispiel in dem Gespräch mit Rainer, 43, der von seiner unerfüllten Schwärmerei für eine Traumfrau spricht: »Während ich sie für ein tolles, spannendes, wunderbares Wesen hielt, das mich leider nur aus den Augenwinkeln wahrnahm, war ich selbst der unattraktive Langweiler, der vor lauter Selbstzweifeln jede Annäherungstaktik schon im Keim erstickte hätte, wenn ihm denn eine eingefallen wäre.« Bonnie, 33, plagt vor allem das »schlechte Gewissen deswegen, weil ich ihm eine so komplizierte Frau wie mich zumute«, schon bevor der Mann, dem sie sich zumuten könnte, in ihrem Leben überhaupt aufgetaucht ist.

»Ich bin ein vollkommener Anfänger, aber ich bin zurechnungsfähig«, singt David Bowie weiter, und auch an dieser Stelle spricht er den ABs aus der Seele. Beinahe in jedem der vorliegenden Portraits appelliert einer von ihnen an alle Nichtbetroffenen: Wir sind nicht verrückt! Bitte nehmt uns ernst! »Manchmal habe ich schon das Gefühl, wenn ich jemanden mit meiner Unerfahrenheit konfrontiere, der denkt jetzt, ich sei abartig. Und ich will nicht, dass das jemand über mich denkt«, beschreibt Jörg, 33, die unangenehme Erfahrung, falsch eingeschätzt zu werden. Nicht zuletzt fällt das Schlagwort »Unsicherheit« aus Bowies Songtext in den vorliegenden Geschichten besonders häufig. Zum Beispiel bei Marco, 31, der sich davor scheut, ein Gespräch mit einer Frau von der freundschaftlichen auf die romantische Ebene zu heben, »weil ich Angst habe, dass sie früher oder später meine Unsicherheit und mein Problem bemerken und sich erschrocken abwenden, sich vielleicht sogar über die vergeudete Zeit ärgern wird.« Jede Zeile aus dem Bowie-Song findet ihre Entsprechung in einer oder mehreren Geschichten, so dass die Eigenbezeichnung Absolute Beginners in Anlehnung an diesen Song wohl ganz zufällig eine ziemlich treffende Wahl gewesen ist. Und die Benennung dieser speziellen Untergruppe der Singles kann als ein wesentlicher Beitrag zum Selbstverständnis der Betroffenen betrachtet werden. Denn selbst die Klassiker unter den Single-Studien widmen den Absolute Beginners meist keinen eigenen Raum. So stellte Stefan Hradil, Professor für Soziologie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, im Auftrag des Bundeskanzleramtes in seinem wissenschaftlichen Gutachten Die Single-Gesellschaft (1995) verschiedene Kategorisierungsideen von Single-Typen vor. Da ist die Rede von vorsichtigen, hoffenden und zufriedenen Singles. Ein anderer Wissenschaftler unterscheidet egoistische, defensive, distanzierte und offensive Singles. Doch in jedem Modell und in jeder dieser Kategorien wird davon ausgegangen, dass die beschriebenen Singles bereits Erfahrungen mit Liebe und Sex gesammelt haben. Zwar heißt es: »Üblicherweise geht man davon aus, dass etwa die Hälfte der Single-Existenzen freiwillig, die andere Hälfte unfreiwillig zustande kommt.« Doch als einzige unfreiwillige Art der Partnerlosigkeit wird eine Übergangsphase nach der Scheidung beschrieben.

Auf die Absolute Beginners trifft am ehesten noch die Definition der Lonely Singles zu, die Stefan Hradil im Namen seines Soziologiekollegen Ronald Bachmann wie folgt beschreibt: »Die Lonely Singles zeichnen sich durch ihre völlige Unzufriedenheit mit ihrer jetzigen Partnerlosigkeit aus. Ihr Ziel ist die möglichst schnelle Überwindung dieser Lebensform, die für sie keine Alternative zu Ehe oder Partnerschaft darstellt. Sie lehnen ihren Zustand ab, fühlen sich sozial desintegriert und einsam, haben Lebensbewältigungsprobleme. Sie sehen ihre Lebensform als defizitär an, streben nach einer normalen, richtigen Lebensform mit Ehe und Kindern. Sie bilden eine Minderheit unter den Singles.« Doch auch hier ist von einer »jetzigen«, also einer akuten im Gegensatz zu einer dauerhaften Partnerlosigkeit die Rede. Es bleibt also die Definition, die sich die Betroffenen selbst zusammengebastelt haben: Demnach sind Absolute Beginners schlicht und einfach Erwachsene, die unfreiwillig ohne Sex- und Beziehungserfahrung geblieben sind. Bevor wir einige von ihnen kennenlernen, gilt es zunächst, die Gesellschaft und ihren Einfluss auf das Lebensgefühl der Absolute Beginners ein wenig zu beleuchten.

Maja Roedenbeck

Und wer küsst mich?

Absolute Beginners – 

Wenn die Liebe auf sich warten lässt 


Ch. Links Verlag, Berlin