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Stefan Krings

Hitlers Pressechef

Stefan Krings

Hitlers Pressechef

Otto Dietrich (1897–1952)

Eine Biografie

WALLSTEIN VERLAG

Inhalt

Vorwort

1    Einleitung

1.1   Otto Dietrich: »Hauptdarsteller« der NS-Propaganda?

1.2   Forschungsstand

1.3   Methodik und Aufbau der Arbeit

1.4   Quellen

2  »Ich kam 1914 zu früh ins Leben und in den Krieg« – Nationalistische Prägung zwischen Kaiserreich und Republik

2.1   Familie – Kindheit – Jugend

2.2   Freiwillig zum Dienst an die Front

2.3   Studium und Burschenschaft

2.4   Erste berufliche Stationen

2.5   Journalist der Generalanzeiger-Presse und im Hugenberg-Konzern

3  »Mit Hitler in die Macht« – Medien- und Wahlkampfmanager im Dienst der NSDAP

3.1   Aufbau einer Gauzeitung

3.2   Gründung von Parteipressestelle und NSK

3.3   »Lügenabwehr« und Deutschlandflüge

3.4   »Eroberung der bürgerlichen Presse« – Dietrichs zweigleisige Strategie

3.5   Dietrich und die Industrie

4  »Öffentliche Sauberkeit« – Deutsche Presse zwischen Republik und NS-Staat

4.1   »Die Wahrheit mit Posaunen blasen«

4.2   »Säuberung« des Reichsverbandes der deutschen Presse

4.3   Exkurs: »Ich rechne damit, dass auch Feigheit im Spiel gewesen ist« – Bürgerliche Journalisten zwischen Kooperation und Konformität

5  »Die öffentliche Meinung, das ist bei uns die Partei!« – Dietrich und die Presselenkung in den ersten Jahren der NS-Herrschaft

5.1   »Der Journalist im neuen Staat« – Auseinandersetzungen um ein Pressegesetz

5.2   »Donquichotterie« zwischen Reichsleitern

5.3   Ausbau der Reichspressestelle als Zentrale parteiamtlicher Presselenkung

5.4   »Sind wir langweilig?« – Eintönigkeit der Berichterstattung

5.5   Nachwuchssorgen

6  »Befreiung der Gehirne« – Erfolge und Rückschläge als Schriftsteller und Redner

6.1   Religion und Nationalsozialismus

6.2   »Philosophischer Edelquatsch«

6.3   Kampf gegen das »Untermenschentum« – Dietrich und der Antisemitismus

6.4   »Rechnen wir nicht, wo wir glauben müssen« – NS-Wirtschaftspolitik

6.5   »Die Nachfahren«: Das Dritte Reich im Jahr 2008

6.6   Die Lebensweise eines Parteifunktionärs

7  »Generalstab der deutschen Pressepolitik« – Als Staatssekretär im Propagandaministerium (1938-1945)

7.1   »Dietrich muß bei uns eingeschmolzen werden.« – Neue Strukturen im RMVP

7.2   »Divisionen und Armeen der deutschen Presse«

7.3   Tagesparolen des Reichspressechefs

7.4   »Zuckerbrot und Peitsche« – Streit um die Kontrolle der Auslandspresse

7.5   Internationale Pressepolitik und Beziehungen zur Zeitungswissenschaft

8  »Auf den Straßen des Sieges« – Pressemann im Führerhauptquartier

8.1   Das »Führermaterial«

8.2   »Der Sieg im Osten ist entschieden«

8.3   Briefe an Roosevelt und Churchill

8.4   »Niemals eine Spur von diesen Dingen gewusst«

8.5   »Es ist besser so …« – Dietrichs Entlassung

9  »Praktisch hatte ich mit der Organisation der Presse nichts zu tun« – Inhaftierung – Prozess – Beruflicher Neuanfang

9.1   »Der Kerl muss völlig verrückt sein« – Langwierige Verhöre

9.2   Anklage und Schuldspruch

9.3   Mitarbeiter für Verkehrsfragen: »Unverantwortlich«

9.4   Streit um die Memoiren

10  Schlussbetrachtung

Dank

Anhang

Abkürzungsverzeichnis

Quellen- und Literaturverzeichnis

Ungedruckte Quellen

Tages-, Wochenzeitungen, Pressedienste und sonstige Periodika

Veröffentlichungen von Otto Dietrich (Auswahl)

Sonstige veröffentlichte Quellen und Sekundärliteratur

Auskünfte

Bildnachweis

Personenregister

Vorwort

Otto Dietrich (1897-1952) war Reichspressechef, SS-Obergruppenführer, Reichstagsabgeordneter und Staatssekretär. Neben einigen anderen zumindest zwischen 1933 und 1945 wohlklingenden Ämtern wurde der promovierte Nationalökonom und überzeugte NS-Propagandist mit der mehr oder weniger freiwilligen »Gleichschaltung« im April 1933 auch zum Vorsitzenden des Reichsverbandes der Deutschen Presse (RDP) gewählt. Diese Wahl gehört zu den außerordentlich trüben Momenten in der Geschichte des deutschen Journalismus, und Stefan Krings schildert in dieser Dietrich-Biografie ausführlich die Umstände und die opportunistischen Motive der bürgerlichen Journalisten, die ihn wählten. Doch bei aller Ämterfülle und »Führernähe« quälte sich Dietrich nach 1933 damit ab, dass der Star aller Propaganda im »Dritten Reich« eindeutig Joseph Goebbels war. Das sahen alle so, nicht nur die Mitarbeiter des neuen Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda, sondern auch die Auslandskorrespondenten in Berlin, die an den ewigen Reibereien zwischen dem Reichspresse chef und Minister Goebbels ihre Freude hatten. Goebbels selbst hatte den »Einbau« Dietrichs 1937 als Staatssekretär in das Propagandaministerium noch gönnerhaft kommentiert und sogar einen Vorteil darin gesehen, wenn er den Apparat des NS-Pressechefs nun unmittelbar unter Kontrolle be kä me. Doch den Tagebuch-Einträgen von Goebbels ist zu entnehmen, wie sehr der Minister bald seinen Konkurrenten verachtete, weil er ihn für ungeschickt und nicht satisfaktionsfähig hielt. Dies kulminierte am 14. Dezember 1944 in der Betrachtung: »Dr. Dietrich hat auf der Union Europäischer Journalisten in Wien gesprochen. Auch diese Rede bewegt sich im hergebrachten Genre und erweckt in der Öffentlichkeit nicht einmal wohlwollendes Interesse. Dr. Dietrich hat sich durch seine seinerzeitige Erklärung, dass der Feldzug im Osten entschieden sei, in der Meinung des deutschen Volkes so kompromittiert, dass er keinerlei Kredit mehr besitzt.« Goebbels spielte damit auf den legendären Auftritt Dietrichs im Oktober 1941 an, als Hitlers persönlicher Pressewart, sicherlich im Einvernehmen mit seinem obersten Feldherrn, das Ende der Sowjetunion deklariert hatte.

Otto Dietrich wurde nicht im Nürnberger Prozess gegen die »Hauptkriegsverbrecher« angeklagt (die Stellvertreter-Rolle für den durch Suizid geendeten Goebbels übernahm hier der Hörfunk-Propagandist Hans Fritzsche), sondern dann im Wilhelmstraßen-Prozess 1949 zu sieben Jahren Haft verurteilt. Davon saß er nur einige Monate in Landsberg ab, bevor er im August 1950 von US-Hochkommissar McCloy begnadigt wurde. Ein langes Leben war ihm nicht mehr beschieden, Dietrich starb im November 1952 in Düsseldorf, wo er noch eine gewisse Zeit für die »Deutsche Kraftverkehrsgesellschaft« als Werbefachmann gearbeitet hatte.

Dietrich gehört damit zu den Administratoren der NS-Medienlenkung, die in Westdeutschland nach 1945 keine größere Karriere mehr machen konnten. Dies gilt auch für Hitlers alten Kumpan und obersten NS-Verleger Max Amann, der 1957 starb, für Hans Fritzsche (gestorben 1953) oder für Dietrichs mittelbaren Amtsvorgänger und späteren Reichswirtschaftsminister Walther Funk, der erst 1957 aus dem Spandauer Gefängnis entlassen wurde (gestorben 1960). Dagegen konnte Max Amanns offenbar sehr effizienter Stabschef Rolf Rienhardt (1903-1975) seine Qualifikation in der Bundesrepublik noch bei Burda, der FAZ oder der Westfälischen Zeitung unter Beweis stellen, und etliche Kader des Propagandaministeriums, wie Stefan Krings detailliert beschreibt, siedelten erfolgreich wieder im politisch-publizistischen Raum der Adenauer-Zeit. Einen Sonderfall bildet Helmut Sündermann, Dietrichs rechte Hand und allgemein unbeliebter Stellvertreter. Er baute nach 1945 am Starnberger See mit dem Druffel-Verlag ein für das rechtsradikale Milieu durchaus identitätsstiftendes Publikationshaus auf. Dietrichs Abteilungschef »Deutsche Presse«, Erich Fischer, warb später für den Spiegel Anzeigen in der nordrheinwestfälischen Industrie ein.

Stefan Krings’ Arbeit reicht weit über den Rahmen einer Lebensdarstellung des »Reichspressechefs« hinaus. Er orientiert sich an den »neuen Biografien«, die in der Geschichtswissenschaft verstärkt seit den 1990er Jahren Struktur- und Organisationsgeschichte, die Analyse politischer Generationen und konkrete Kommunikationsforschung verbinden. Neben den bekannten Studien von Ulrich Herbert über Werner Best oder von Michael Wildt über das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes sei hier etwa auf Barbara Lambauers Arbeit zu Otto Abetz (dem Botschafter des »Dritten Reiches« in Paris) oder auf Carmen Callils publizistisch-wissenschaftliche und sozialpsychologische Recherchen zu Louis Darquier de Pellepoix (dem »Judenbeauftragten« der Vichy-Regierung) verwiesen. Ähnlich ist zuletzt Frank-Rutger Hausmann in seiner Biografie über den Chef der Auslandsorganisation der NSDAP, Ernst-Wilhelm Bohle, verfahren. Es fällt auf, dass es dieser Forschungsrichtung nicht mehr darum geht, neue Re-Interpretationen zu Hitler, Friedrich dem Großen, Bismarck oder Stalin vorzulegen, sondern feiner und präziser einen Typus kenntlich zu machen, der sich als Zuarbeiter, Organisator oder auch halbintellektueller Propagandist des charismatischen Führers begreift und zugleich Fühlung mit der Bürokratie hat. Max Weber mag als der soziologische und kommunikationswissenschaftliche Ahnherr solcher modernisierter (Kollektiv-)Biografik genannt werden.

So erfahren wir auch in Stefan Krings’ Studie nicht nur einiges Neue über Otto Dietrichs journalistische Karriere oder die gespannte Beziehung zu seinem einflussreichen Schwiegervater, dem Essener Verleger Theodor Reismann-Grone, sondern darüber hinaus wesentlich mehr über den personalpolitischen Einfluss der SS auf die Publizistik des NS-Staates und Dietrichs Bemühungen, den angeblichen »europäischen Journalismus« der Achsenmächte und Kollaborateure verbandspolitisch in den Griff zu bekommen. Ein interessantes Kapitel beschäftigt sich mit den Ambitionen Dietrichs, im Zuge seiner Planungen für ein eigenes »Presseministerium« auch eine Zeitungswissenschaft im engeren Sinne zu fördern, gegen die Aspirationen einiger Fachvertreter, die eine Ausweitung des jungen Faches zur »publizistischen Wissenschaft« favorisierten. Goeb bels wiederum interessierte sich für diese wissenschaftspolitischen Fragen überhaupt nicht, so wie er auch die pseudophilosophischen oder öko nomischen Elaborate Dietrichs (»Die philosophischen Grundlagen des Nationalsozialismus«, »Das Wirtschaftsdenken im Dritten Reich«) nicht ernst nahm. Erfolgreicher war der Reichspressechef als steter Chronist der Handlungen seines Führers (»Mit Hitler an die Macht«, »Auf den Straßen des Sieges. Mit dem Führer in Polen«). Prosaischer hieß es dann posthum 1955 »12 Jahre mit Hitler« – Dietrichs mehr oder weniger geschönte Erinnerungen, aus denen allerdings auch große Desillusionierung sprach, erregten damals noch einiges journalistisches Aufsehen.

Am 31. März 1945 hatte es Goebbels dann endlich geschafft: Weil er dem Führer klarmachen konnte, dass »Dr. Dietrich ein ausgesprochener Schwächling (ist), der der augenblicklichen Krise nicht gewachsen« sei, habe sich der darüber sehr zornige Hitler »stehenden Fußes« entschlossen, »Dr. Dietrich sofort von seinem Amt zu beurlauben«, wie Goebbels seinem Tagebuch anvertraute. Er habe sich an Dietrich genauso aufgerieben, »wie der Führer sich an seiner Generalität zerreibt«. Damit hatte Goebbels dem zähen Behauptungswillen Dietrichs allerdings ein unfreiwilliges Kompliment gemacht, der ja auch nicht entlassen war, sondern erst einmal nur für ein paar Wochen Urlaub machen sollte. Dann allerdings ging das »Dritte Reich« schnell unter, und auch Goebbels kam nicht mehr dazu, »die deutsche Pressepolitik nun in die richtige Fahrbahn hineinzubringen«.

Als facettenreiche Dietrich-Biografie hat diese Arbeit sicherlich alle Chancen, als Standardwerk über längere Zeit wahrgenommen zu werden. Nachdem seit geraumer Zeit über das Feld der NS-Pressepolitik nur noch sporadisch geforscht worden ist, hat Stefan Krings’ Buch aber auch Qualitäten eines aktualisierten Gesamtüberblicks. Es macht vor allem deutlich, wie gründlich sich deutsche Journalisten von einer Clique untereinander zerstrittener Satrapen und Staatsterroristen domestizieren ließen.

Lutz Hachmeister

1     Einleitung

1.1     Otto Dietrich:
»Hauptdarsteller« der NS-Propaganda?

Am frühen Morgen des 9. Oktober 1941 wurde der amerikanische Journalist Howard K. Smith vom Klingeln seines Telefons aus dem Schlaf gerüttelt. Eine Sekretärin aus dem Propagandaministerium war am Apparat. Mit aufgeregter Stimme teilte sie ihm mit, dass es um zwölf Uhr mittags eine Sonderpressekonferenz geben werde, die außerordentlich wichtig sei. Nein, sie wisse nichts Näheres, aber man bitte unbedingt um pünktliches Erscheinen, da die Saaltüren kurz nach zwölf abgeriegelt würden. Obwohl Smith von Grippe und Kopfschmerzen geplagt wurde, machte er sich später per U-Bahn auf den Weg in Richtung Regierungsviertel Wilhelmstraße. In seinen Memoiren beschreibt der New York Times-Korrespondent, was ihn dort erwartete:

»Der in rotem Plüsch gehaltene Theatersaal des Propagandaministeriums wimmelte von Reportern aus aller Herren Länder, die in einem Dutzend Sprachen darüber spekulierten, worum das Ganze wohl gehe. Mein Kopf pochte vor sich hin. Vorne war ein langgestreckter Konferenztisch aufgebaut, und um diesen Tisch herum war eine stattliche Schar prachtvoller Uniformen gruppiert – grüne, braune, graue und zwei Schattierungen blaue – vollgestopft mit preußischen Offizieren, Parteifunktionären und schlichten Ministerialbeamten. Sie strahlten vor Freude darüber, daß sie hier vor ihrem alltäglichen Publikum in Kostümen auftreten durften, die ihren für zivile Kluft gebauten Figuren einen seltenen Glanz verliehen. Wie bei allen ›historischen‹ Nazi-Ereignissen […] traf der Hauptdarsteller mit eindrucksvoller und exakter Verspätung ein. Schlag 12 Uhr 30 hasteten ein paar Offiziere in den Raum und kündigten damit das Eintreffen des Führer-Sendboten an. Die Grüppchen formierten sich zu einer anständigen Phalanx, und herein kam der kleine Dr. Dietrich. Die Grußtechnik seines Führers imitierend, klappte er seine rechte Hand an die Schulter hoch und strahlte, als müsse er vor lauter mitgebrachten Neuigkeiten platzen. Es folgte ausgedehntes Händeschütteln, davor und danach jeweils ein steifarmiger Hitlergruß, Kameras blitzten und Blitzlichter zuckten. Über der großen Bühne hinter dem Hauptdarsteller Dietrich glitt der rote Samtvorhang auseinander und enthüllte eine riesige Karte des europäischen Teils von Russland. Sie war dreimal so groß wie der Sprecher. Die Wirkung war bestechend.«1

Die anwesenden Journalisten erfuhren wenig später, dass die russische Armee angeblich »militärisch erledigt« sei und ein Sieg des Deutschen Reiches über die Sowjetunion kurz bevorstehe. Viele Pressevertreter machten sich lustig über diese sensationelle »Nachricht« des Dr. Dietrich, denn sie hörten nicht zum ersten Mal eine solch waghalsige Prognose aus seinem Mund. Wer war dieser »Hauptdarsteller« jener NS-typischen Inszenierung? Sein offizieller Titel lautete Reichspressechef der NSDAP. Als Staatssekretär und Pressechef der Reichsregierung war er zugleich einer der ranghöchsten Vertreter des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda (RMVP). Dr. Dietrich gehörte zum erlesenen Kreis der Reichsleiter seiner Partei und innerhalb der Schutzstaffel rangierte er als SS-Obergruppenführer auf einer Ebene mit Männern wie Martin Bormann, Reinhard Heydrich und Rudolf Heß.

Diese Titel und sein Auftreten bei dieser Presseveranstaltung lassen vermuten, dass Otto Dietrich eine zentrale Rolle im nationalsozialistischen Propagandaapparat gespielt haben muss. Zeitgenössische Journalisten kamen zu unterschiedlichen Einschätzungen über die Bedeutung und die Fähigkeiten des »Pressediktators« – so wurde er 1948 in einem Zeitungsartikel genannt.2 Viele nahmen Dietrich als einen »Möchtegern« wahr, der von einem »unbestimmten Machtantrieb verzehrt« wurde und unter allen Umständen eine öffentliche Rolle spielen wollte, wie es ein Boulevardblatt formulierte. Sie waren überzeugt, dass der NS-Pressechef alles tat, »um ein gehorsamer Diener seines Auftrag gebers zu sein«.3 Deshalb hielten die Konferenzteilnehmer an jenem Oktobertag des Jahres 1941 den »Führer« für den Urheber der Propagandameldung über den kurz bevorstehenden Sieg im Osten. Manche bewerteten Dietrich als »Mann ohne Gewicht«, nannten ihn aber gleichzeitig eine »Nazi größe«.4 Andere bescheinigten ihm zwar rückblickend »Geschicklichkeit und Ellbogentaktik« auf der Karriereleiter. Doch aufgrund seiner »weichen, verschwommenen Züge« sei der Reichspressechef »keine Führer-, allenfalls eine Vorzimmernatur« gewesen: »Es fehlte ihm an geistigem Format, um sich als Persönlichkeit durchzusetzen. So schwamm er ausdruckslos im Kielwasser seines Führers.« Die Macht habe in Wirklichkeit ein anderer besessen: »sein schärfster Konkurrent: Goebbels!« Allerdings war man überzeugt, dass Dietrich »Einflüsterungsmöglichkeiten auf das Ohr des Allerhöchsten« hatte. Damit war Adolf Hitler gemeint.5

Was die fachliche Kompetenz ihres einstigen Berufskollegen Dietrich angeht, hielten die einen ihn von Anfang an für eine »Null« (Karl Silex).6 Aus Sicht anderer hingegen gehörte er »unzweifelhaft zu den fähigsten und bedeutendsten Köpfen unter den deutschen Journalisten«. So erklärte es ein Redakteur des Völkischen Beobachters (VB) im Juli 1933 in einem Vortrag über den Reichspressechef und seine »Persönlichkeit«. Jeder »neudeutsche« Schriftleiter müsse nach Dietrichs Vorbild »herangebildet« werden. Über die konkreten Eigenschaften dieses Prototyps erfuhren die Zuhörer allerdings wenig – betont wurde lediglich, dass Dietrich »mit Herz und Seele« für die »Idee Adolf Hitlers« kämpfe.7 Auch der in Budapest erscheinende deutschsprachige Pester Lloyd sah in Dietrich 1941 einen »Presse- und Kulturpolitiker von Format«, der in der Lage sei, die »bewegenden Kräfte der Geschichte unserer Tage mit größter Eindruckskraft festzuhalten«.8

Vergleicht man Dietrichs spätere Eigendarstellung mit den Aussagen mancher seiner einstigen Parteigenossen, so ergibt sich ebenfalls ein widersprüchliches Bild. 1947 präsentierte sich der ehemalige Reichspressechef als eine Art »Briefträger« Hitlers – eine Zeitung bezeichnete ihn damals als »eine der groteskesten Figuren« unter den Angeklagten des Wilhelmstraßen-Prozesses.9 Helmut Sündermann stellte seinen langjährigen Chef als nahezu bedeutungslosen Idealisten dar. Hitlers Adjutant Julius Schaub, der mit Dietrich viele Jahre im Führerhauptquartier verbracht hatte, beteuerte, der NS-Pressechef habe »politisch überhaupt keinen Einfluss« gehabt.10 Andere Zeugen hingegen wiesen Dietrich eine Schlüsselfunktion in der nationalsozialistischen Medienlenkung zu, allen voran Paul Karl Schmidt. Ging es dem einstigen Leiter der Presseabteilung im Auswärtigen Amt dabei neben der eigenen Verteidigung vor allem darum, sich für eine langjährige Feindseligkeit zwischen seiner Behörde und dem Propagandaministerium zu rächen, indem er den Erzfeind Dietrich nun vor Gericht belastete? In welcher Weise beeinflusste der Reichspressechef vor 1945 tatsächlich die sogenannte »öffentliche Meinung«, von der er damals annahm, dass sie mit dem Nationalsozialismus gleichzusetzen sei?

Die Forschung schenkte Otto Dietrich, insbesondere seinem Werdegang und seiner Persönlichkeit, bislang vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit. Ein großer Teil der Arbeiten zur Geschichte der NS-Presse beschäftigt sich mit strukturellen oder ökonomischen Aspekten der Medienlenkung bzw. mit Propagandainhalten.11 Biografische Darstellungen über Mitarbeiter des RMVP konzentrierten sich lange Zeit vor allem auf die Figur des Ministers. Dietrich blieb dabei im wissenschaftlichen Schatten seines innerparteilichen Rivalen. Dies führte zu Aussagen, wie sie in einem Buch mit dem Titel »Die 101 wichtigsten Fragen. Das Dritte Reich« zu lesen sind, das 2006 im Verlag C. H. Beck erschien. Der Verfasser erwähnt zwar auch Otto Dietrich als Pressechef der Reichsregierung, bescheinigt aber Goebbels für den Inhalt der deutschen Presse »die ausschließliche Kompetenz«.12

Michael Ruck weist in seiner Mitte der neunziger Jahre erstellten »Bibliographie zum Nationalsozialismus« in der Rubrik »Biographien führender Repräsentanten des NS-Regimes« mehr als 50 Arbeiten über Hitlers Propagandaexperten aus.13 Seitdem kamen zahlreiche weitere einschlägige Publikationen hinzu, die größtenteils neue Einblicke in dessen Leben und Wirken ermöglichten. Hierzu zählt auch die filmische Dokumentation »Das Goebbels-Experiment«.14 Bei dieser Fixierung auf den Chefpropagandisten kommt bis heute eine Betrachtung anderer NS-Medienpolitiker einschließlich ihrer Sozialisation und ihrer Dispositionen zu kurz – ähnlich wie es lange Zeit auch in anderen Forschungsbereichen zur Geschichte des »Dritten Reiches«15 der Fall war – und teilweise sogar heute noch der Fall ist. Diese Defizite sind zu bemängeln, weil die Repressalien und Verbrechen ohne die bereitwillige Mitarbeit der Funktionsträger nicht in dem bekannten Ausmaß hätten geplant und durchgeführt werden können. Bis neben dem Minister erstmals auch andere Funktionäre des NS-Propagandasystems ins nähere Blickfeld der Wissenschaft gerieten, sollte nach dem Ende der deutschen Diktatur mehr als ein halbes Jahrhundert vergehen. In den vergangenen Jahren sind einzelne Werke über Vertreter der mittleren Führungsebenen im RMVP entstanden. So befasste sich Christian Härtel mit Dietrichs Protegé Wilfrid Bade.16 Dieser war als Abteilungsleiter für die Lenkung der Zeitschriften zuständig, unterstützte seinen Vorgesetzten bei der Vorbereitung von Reden und Publikationen und ging außerdem selbst einer umfangreichen schriftstellerischen Tätigkeit nach. 2007 erschien auch eine Biografie des prominenten Rundfunkkommentators Hans Fritzsche.17 Bevor er »Goebbels’ Mann beim Radio« wurde, leitete er im Propagandaministerium die Abteilung Deutsche Presse. Obwohl Fritzsche in dieser Funktion Otto Dietrich unterstellt war, wurde im Herbst 1945 im Prozess gegen die »Hauptkriegsverbrecher« erstaunlicherweise nicht der (mittlerweile längst verhaftete) Reichspressechef, sondern Hans Fritzsche angeklagt – auf Betreiben der Sowjets und stellvertretend für den Minister, der sich und seiner Familie das Leben genommen hatte. Der Internationale Militärgerichtshof sprach Fritzsche 1946 jedoch frei.

Betrachtet man das gesamte Spektrum der nationalsozialistischen Politik und Propaganda, so spielte Goebbels zweifellos eine weitaus bedeutendere Rolle als Dietrich und andere NS-Propagandisten. Dies soll hier nicht infrage gestellt werden. Genauer zu untersuchen ist jedoch, in welchem Maße diese Bewertung auch für den Pressesektor zutrifft. Zunächst verwundert das extreme Ungleichgewicht in der wissenschaft lichen Behandlung der beiden NS-Funktionäre, zumal der Reichspressechef mehr als zwölf Jahre lang zu Hitlers engstem Begleiterkreis gehörte und somit leichteren Zugang zu ihm hatte als der Propagandaminister. Symptomatisch für das Desiderat ist die Tatsache, dass der Name Otto Dietrich im Personenverzeichnis der Deutschen Pressegeschichte von Rudolf Stöber selbst in der überarbeiteten Ausgabe aus dem Jahr 2005 nicht auftaucht.18 Goebbels hingegen findet zehnfach Erwähnung. Dabei waren die Aufgabenbereiche des Reichspressechefs und auch die jahrelangen Kompetenzrangeleien mit seinem ärgsten Rivalen bereits verschiedentlich Gegenstand der Diskussion – wenn auch nicht im Kontext einer biografisch angelegten Analyse und lediglich auf einer (aus heutiger Sicht) unzureichenden Quellenbasis.

1.2   Forschungsstand

Noch bevor sich Dietrich vor dem Gerichtshof der Amerikaner verantworten musste, hatte ein anonymer Autor dessen Bedeutung im »NS-Presse-trust« Anfang 1947 in einer Buchpublikation thematisiert (»Presse in Fesseln«).19 Es handelt sich bei diesem Werk – wie der Titelseite zu entnehmen ist – um eine »Gemeinschaftsarbeit des Verlages auf Grund authentischen Materials«. Die britischen Besatzungsbehörden fanden bald heraus, dass der Verfasser Fritz Schmidt hieß. Er war einst Verleger der Saarbrücker Zeitung und von 1937 bis 1939 Mitarbeiter in einer Dienststelle, die dem Reichsleiter für die Presse, Max Amann, unterstand. Schmidt war für die Papierzuteilung an die deutschen Zeitungen zuständig, somit also in die NSVerlagspolitik involviert. In seinem Buch stellte er Journalisten und Verleger nun pauschal als Opfer des NS-Regimes dar. Obwohl seine Schrift insgesamt äußerst fragwürdig ist, so lieferte sie 1947 dennoch einige zumindest teilweise zutreffende, bis dahin weitgehend unbekannte Hintergründe über die Verlagsenteignungen. Schmidt bot Einblick in Machtkämpfe, an denen auch Otto Dietrich beteiligt war. Es gab zudem erste Hinweise auf Aspekte seiner Persönlichkeit: Schmidt schilderte, wie der Reichspressechef Mitte der dreißiger Jahre seine Geliebte zu einem Staatsbesuch mit nach Italien genommen und sie dem »Duce« als seine Frau vorgestellt hatte. Eine Karikatur über »Dietrich und sein ›Verhältnis‹ zu Mussolini« verbildlichte dieses Ereignis.20 Almut Dietrich wusste damals noch nichts von der schon seit längerer Zeit bestehenden Liebschaft ihres Mannes.

Nachdem ehemalige Dietrich-Mitarbeiter in streckenweise ebenfalls apologetischen Büchern am Rande auch auf ihren früheren Vorgesetzten eingegangen waren,21 wurde dessen Rolle in verschiedenen Publikationen aus den sechziger Jahren aufgegriffen. Oron J. Hale, der als amerikanischer Offizier in Nürnberg zahlreiche NS-Propagandisten vernommen hatte, beschrieb 1965 unter anderem die innerparteilichen Auseinandersetzungen um das NS-Schriftleitergesetz, an dessen Entstehung Dietrich 1933 maßgeblich beteiligt war.22

Ein Jahr später thematisierte der US-Historiker Ernest K. Bramsted in seiner Studie über »Goebbels und die nationalsozialistische Propaganda« die komplexen Kontrollsysteme der »organisierten Indoktrinierung« und die »komplizierte Beziehung und Rivalität« zwischen Dietrich und dem Minister.23 Bramsted bewertete die Position des Reichspressechefs für das Jahr 1938 einerseits als »ziemlich stark«, kam allerdings zu dem Schluss, dass dessen Stellung im Vergleich zu Goebbels »immer die schwächere« gewesen sei, wenngleich »man« ihn, so die Einschätzung von Bramsted, »niemals ganz übergehen« konnte. Kurz darauf publizierte Willi A. Boelcke ein umfangreiches Werk über die »geheimen« Ministerkonferenzen im RMVP und lieferte darin auch Kurzbiografien der Teilnehmer. Der Verfasser ging zwar nicht näher auf die Person des Reichspressechefs ein, da dieser bei besagten Veranstaltungen nie anwesend war. Boelcke betonte aber mit Blick auf das Jahr 1939, dass sich auf dem Gebiet der Presselenkung »inzwischen Dietrich stärker in den Vordergrund geschoben« habe.24

1967 erschien dann in New York ein Buch über »Hitler’s Secret Weapon. The ›Managed‹ Press and Propaganda Machine of Nazi Germany«. Der Verfasser Alexander G. Hardy gehörte Ende der vierziger Jahre zu Dietrichs Anklägern im Wilhelmstraßen-Prozess und fungierte damals als »Spezialberater« für das Prozessverfahren.25 Das Werk fällt aus dem Rahmen, weil Hardy die Bedeutung des NS-Pressechefs für außerordentlich hielt und ihm in seiner Darstellung wesentlich mehr Platz einräumte, als es sämtliche Medienhistoriker seither tun. Aus seiner Sicht war Dietrich nicht nur Hitlers »Poisened Pen« und »the great mouthpiece of the Nazi Party«:

»At the end, Dietrich would have liked the world to think he was just a desk man through it all. But history tells us he was one of the bloodthirsty Nazis in Hitler’s entourage.«26

Hardy ging sogar davon aus, dass die Verantwortung des NS-Pressechefs für die Vertreibung und Vernichtung der Juden größer war als die von Goebbels oder Julius Streicher. Hinsichtlich des Werdegangs von Otto Dietrich erfuhr man allerdings kaum mehr als in den früheren Publikationen, von Details zu seiner SS-Zugehörigkeit wie Rang und Mitgliedsnummer einmal abgesehen.

Zum Beleg für seine gewagten Thesen führte Hardy unter anderem kurze Passagen aus Zeugenvernehmungen an, die im Rahmen der Nürnberger Prozesse durchgeführt worden waren. Auf entsprechende Protokolle und Eidesstattliche Erklärungen von ehemaligen Dietrich-Mitarbeitern sowie anderen Protagonisten der NS-Bürokratie griff wenig später auch Karl-Dietrich Abel zurück – wenngleich er das Buch von Hardy offensichtlich nicht kannte. In seiner 1968 publizierten Dissertation teilte er die »Presselenkung im NS-Staat« – so der Titel der Arbeit – in drei verschiedene Bereiche ein. Er beschrieb die Machtkämpfe und Kompetenzüberschneidungen zwischen dem »Goebbels-Bereich« und den Bereichen von Otto Dietrich bzw. Max Amann.27

Abel kommt in seiner recht quellenarmen Studie zu dem Ergebnis, dass die Presselenkung im nationalsozialistischen Staat aus einem »kalkulierten Chaos« bestand. Dies habe der Prozess gegen Otto Dietrich bewiesen.28 Damit tendierte Abel zur Sichtweise der sogenannten Funktionalisten, wobei er annahm, dass die Kompetenzüberschneidungen von Hitler bewusst geschaffen und aufrechterhalten wurden. Im Gegensatz zur intentionalistischen Sichtweise von Historikern wie Karl Dietrich Bracher, die der Persönlichkeit des »Führers« die maßgebliche Rolle für die Politik des »Dritten Reiches« zuschreiben, betrachten »Funktionalisten« bzw. »Strukturalisten« wie Hans Mommsen und Martin Broszat das NS-Regime als ein polykratisches Herrschaftsgefüge. Sie gehen von einem eher schwachen Diktator aus und nehmen an, dass viele politische Entscheidungen weniger das Ergebnis längerfristiger, konkreter Planungen waren, sondern sich oftmals eigendynamisch als Folge eines Gegen-und Miteinanders von rivalisierenden Personen und Gruppierungen entwickelten.29

Mit Fokus auf die Figur Dietrich und unter Berücksichtigung von Quellen, die Abel nicht einbezogen hat (bzw. die ihm vor 40 Jahren noch nicht zugänglich waren), ist sein Befund eines »Lenkungswirrwarrs« als zentrales Merkmal der NS-Medienpolitik zu überprüfen und zu differenzieren. Nicht zuletzt geht es dabei auch um die Frage nach den Auswirkungen, die Dietrichs Kompetenzkonflikte mit Goebbels und Amann auf die Arbeit der Journalisten hatten: Inwieweit beeinflusste Otto Dietrich als Teil eines polykratisch strukturierten Presselenkungsappa rates den Gestaltungsspielraum der Zeitungsvertreter? Hinsichtlich der Beziehung zwischen dem Reichspressechef und »seinem« Minister wird auch zu analysieren sein, ob den jahrelangen Streitigkeiten unterschiedliche Propagandakonzeptionen zugrunde lagen, wie Dietrich es später behauptet hat, oder ob die Rangeleien durch andere Motive verursacht wurden. Was machte Otto Dietrich zu einem lange Zeit funktionierenden Rad in diesem polykratischen Herrschaftsgefüge? Welche persönlichen Eigenschaften und Kompetenzen spielten hier eine Rolle?

Verschiedene Forscher knüpften später an die Arbeit von Abel an – etwa Engelbert Schwarzenbeck, der Ende der siebziger Jahre die nationalsozialistische Pressepolitik im Kontext der Sudetenkrise von 1938 untersuchte. In einem separaten Abschnitt beschrieb er auch die Aufgaben der Reichspressestelle der NSDAP, deren Leiter Dietrich von 1931 bis 1945 war.30 Zu erwähnen ist außerdem die Studie von Michael Balfour aus dem Jahr 1979. Der britische Historiker hat die Strukturen des deutschen »Volks-aufkl-ärungs«Apparates und die von diesem verbreiteten Botschaften mit der britischen Regierungspropaganda verglichen. Er legte den Schwerpunkt auf die Kriegszeit und erwähnte Dietrich im Kontext zahlreicher deutscher Propagandaaktionen. Balfour zeigte die Grenzen auf, denen der Reichspressechef in seinem Wirken ausgesetzt war, attestierte ihm aber vor allem für die ersten Jahre des NS-Regimes eine herausgehobene Bedeutung: »His star had been ascendent for some time.« Balfour bezog sich dabei unter anderem auf die Gründung der Reichspressekammer im Jahr 1933, deren Vizepräsident Dietrich wurde.31 Heute ist allerdings bekannt, dass er als solcher kaum in Erscheinung trat. Stattdessen waren es andere Posten und Funktionen, in denen sein Einfluss während jener Aufbauphase der NS-Herrschaft begründet lag.

Peter Longerich befasste sich in den 1980er Jahren mit der Presseabteilung des Auswärtigen Amtes unter Joachim von Ribbentrop (»Propagandisten im Krieg«) und analysierte dessen Machtgerangel mit dem RMVP, sprich mit Goebbels und Dietrich. Neben einigen anderen haben Longerich, Schwarzenbeck und Balfour die Quellenbasis verbreitert, indem sie unter anderem auch im Bundesarchiv forschten und dort auf Dokumente aus dem Propagandaministerium zurückgriffen – soweit sie damals zugänglich waren.

Wenig später nutzte Doris Kohlmann-Viand einen weiteren Bestand des Bundesarchivs, der zuvor kaum Beachtung gefunden hatte. Auf Basis von amtlichen Presseanweisungen des RMVP, den sogenannten Vertraulichen Informationen (V.I.), die der Journalist Theo Oberheitmann während der NS-Zeit entgegen der staatlichen Vorschriften aufbewahrt hatte, erweiterte sie vor allem den Kenntnisstand über die inhaltliche Ebene der Zeitungslenkung und die medienpolitischen Rahmenbedingungen – ins besondere auch in der Provinz. Ausführlicher als es zuvor der Fall war, ging sie in diesem Zusammenhang auch auf die Tagesparolen des Reichspressechefs ein. Die Einführung dieses Kontrollinstruments markierte im November 1940 einen zentralen Punkt im Konflikt zwischen Dietrich und Goebbels.32

Lag der Fokus bei Kohlmann-Viand auf den Kriegsjahren, so konzentrierte sich Peter Stein in seiner Studie über die NS-Gaupresse auf die Zeit vor 1933. Otto Dietrich war spätestens ab Sommer 1931 für die NSDAP von Bedeutung, als Hitler ihn in München mit dem Aufbau einer Pressestelle seiner Partei beauftragte und ihn so in den komplizierten Machtapparat der »Bewegung« integrierte.33 Stein schildert die innerparteilichen Differenzen über unterschiedliche Propagandakonzeptionen sowie die Zusammenarbeit zwischen Dietrich und Gregor Strasser – Vertreter des linken Parteiflügels und damals Reichsorganisationsleiter der NSDAP. Auch die von Dietrich mitorganisierten »Deutschlandflüge« im Wahljahr 1932 sprach er an. Später wurden sie von Gerhard Paul aufgegriffen.34

Obwohl Dietrichs Funktionen und Aufgaben in Partei und Staat in den vergangenen Jahrzehnten bereits aus verschiedenen Blickwinkeln (wenn auch teilweise nur sehr oberflächlich) thematisiert wurden, existiert bisher keine biografische Darstellung über den Reichspressechef, die seine Rolle im Gesamtgefüge nationalsozialistischer Medienlenkung aufzeigt und dabei heutigen wissenschaftlichen Anforderungen gerecht wird. Zu erwähnen bleibt eine Diplomarbeit aus dem Jahr 1989, in der sich Thomas Steinmaurer an der Universität Salzburg mit Otto Dietrich befasste. Das Resultat ist mit weit mehr als 200 Seiten für eine Studienabschlussarbeit zwar quantitativ sehr umfangreich, für die Forschung allerdings aus heutiger Sicht wenig ergiebig. Der Verfasser griff ausschließlich auf publizierte Quellen zurück und übernahm deren Inhalte oftmals unkritisch. Zudem erfährt der Leser kaum etwas über die Persönlichkeit des Protagonisten.35 Das aufgezeigte Desiderat soll mit der vorliegenden, biografisch angelegten Studie geschlossen werden.

1.3   Methodik und Aufbau der Arbeit

Anders als in der angloamerikanischen Tradition genossen biografische Arbeiten in Wissenschaftskreisen des deutschsprachigen Raums lange Zeit einen schlechten Ruf. Man betrachtete die historische Biografik als »unreines« Genre und als »Bastard der Geisteswissenschaften«.36 Bisweilen wurden Autoren sogar vor »akademischem Selbstmord« gewarnt.37 Die Rezipienten kritisierte man aufgrund ihres »merkwürdigen Interesses« an Biografien. Dem Vorwurf, Biografen seien »Besserwisser«, begegnete der Publizist Klaus Harpprecht 1998 in der FAZ mit der Frage, ob es das Leben selbst sei – »das immer unordentliche, dem die Professorenschaft nicht über den Weg traut, das sie erschreckt und vor dem sie sich fürchtet? Handelt es sich um Notwehr gegen die Unberechenbarkeit der menschlichen Existenz, die sich ums Verrecken nicht in Kästchen und Kategorien sperren, kaum je auf einen Nenner, niemals auf die Summe der Theorie bringen lässt?«38

Inzwischen haben zahlreiche geschichtswissenschaftliche Arbeiten das Image der biografischen Herangehensweise deutlich verbessern können. Es hat sich erwiesen, dass sozialwissenschaftlich-biografisch angelegte Studien über Einzelpersonen hinaus wertvolle Einsichten in gesellschaftliche Prozesse und Strukturen ermöglichen können und auf diese Weise sogar tiefer gehende Erkenntnisse über individuelle Handlungsspielräume zu gewinnen sind als durch andere historiografische Zugänge. Exemplarisch genannt seien etwa die verschiedenen Untersuchungen über Funktionäre des Reichssicherheitshauptamts (zum Teil kollektivbiografischer Art), die ein neues Verständnis individueller wie kollektiver Kooperationsbeziehungen zum nationalsozialistischen Regime ermöglicht haben.39 Methodisch wegweisend war etwa der preisgekrönte wissenschaftshistorische Beitrag von Margit Szöllösi-Janze über den Chemiker Fritz Haber.40

Ähnlich verlief der Methodendiskurs in der historischen Kommunikationswissenschaft. Wolfgang Langenbucher konstatierte 1991, biografische Arbeiten aus den vorangegangenen Jahrzehnten seien »nicht immer eine Zierde der mediengeschichtlichen Forschung« gewesen, wobei der Wiener Publizistikwissenschaftler allerdings die Idee zurückwies, die bis dato entstandenen Arbeiten »in den Papierkorb zu werfen und keine solche mehr [zu] beginnen«.41 Tatsächlich lieferten einschlägige Publikationen über Jahrzehnte hinweg oftmals nur begrenzten Erkenntnisgewinn, da sie – wie weite Teile der damaligen Journalismusforschung insgesamt – stark einer historisch-monografischen Herangehensweise verhaftet waren. An einer interdisziplinär ausgerichteten Untersuchung von Publizistik, die individuelles Handeln in Wechselwirkung mit kollektiven Interessen und in Verbindung zu allen am Kommunikationsprozess beteiligten Personen und Gruppen betrachtet, waren die meisten Fachvertreter wenig interessiert. Die Begründer der westdeutschen Publizistikwissenschaft hingen den Ansätzen einer empirisch und soziologisch ausgerichteten Forschung, wie sie bereits Jahrzehnte zuvor etwa von Max Weber ent wickelt worden war, weit hinterher.42

Im ethisch-normativen, subjektivistischen Verständnis von Journalismus, wie es etwa Emil Dovifat besaß,43 zeigen sich zahlreiche Parallelen zu Otto Dietrichs Vorstellungen über journalistische Begabung und Sendungsbewusstsein: Der Reichspressechef, der vor seinen Tätigkeiten in NSDAP und Reichsregierung Redakteur verschiedener Zeitungen war, ging von einem hohen journalistischen Berufsethos aus und warb jahrelang um »journalistische Persönlichkeiten von hervorragendem Ausmaß«.44 Schriftleiter mussten aus seiner Sicht für ihre Aufgabe »berufen« sein und sollten vor allem »Begabung« mitbringen: »Zum Journalisten muss man geboren sein!«45 Dietrichs berufliches Selbstverständnis wird in dieser Arbeit näher zu untersuchen sein. Auf welche Weise hat er mit seinen Überzeugungen über Journalismus, Öffentlichkeit und Pressefreiheit die Entwicklung des Zeitungswesens in den Jahren vor und während der nationalsozialistischen Herrschaft (und möglicherweise darüber hinaus) beeinflusst, vielleicht sogar geprägt?

Obwohl inzwischen eine Reihe biografisch konzipierter Arbeiten entstanden sind, die dem Fachgebiet durch ihre interdisziplinäre, ganzheitliche Herangehensweise neue Perspektiven eröffnet haben,46 stellt die »neue« sozialwissenschaftliche Biografik des ausgehenden 20. Jahrhunderts nach wie vor gerade auch für die kommunikationsgeschichtliche Forschung eine Herausforderung dar.47

Methodische Grundlage der vorliegenden Studie ist ein individualbiografischer Forschungsansatz, der sich am Konzept einer wissenschaftlichkritischen Biografie orientiert. Neben der Person Otto Dietrich, seinem äußeren Wirken und seiner Charakteristik müssen vor allem auch soziale Faktoren einbezogen werden, um sich ihm in seiner Zeitgebundenheit annähern zu können. Biografie-Theoretiker sprechen in diesem Zusammenhang von »biografischer Totalität«. Eine solche umfasst biotische, d. h. die individuellen Merkmale eines Menschen betreffende Aspekte ebenso wie psychische und soziale Einflüsse. Eine entsprechende Darstellung reicht demnach vom »Allgemeinen« über das »Ökonomisch-Soziale« bis hin zum »Allerpersönlichsten«.48

Soweit es die Quellenlage zulässt, werden in der vorliegenden Studie die Lebensumstände von Otto Dietrich untersucht, die sein Menschen-und Gesellschaftsbild geprägt haben und so auch seinen beruflichen wie politischen Werdegang beeinflussten. Dabei geht es auch um ideologische Kontinuitäten. Walter Hagemann hat in diesem Zusammenhang bereits 1948 in seinem »Beitrag zur Methodik der Massenführung« zu Recht darauf aufmerksam gemacht, dass »vieles, was heute gern als typisch nazistische Denkweise verurteilt wird, […] entlehntes früheres Gedankengut andersgesinnter, keineswegs nur nationalistischer Kreise« war.49

Einiges deutet darauf hin, dass Otto Dietrich in zwei Lebensphasen in besonderer Weise geformt wurde: In der Zeit als junger Frontsoldat im Ersten Weltkrieg und während der späten zwanziger Jahre, als er journalistisch tätig war. Dietrich klagte in (medien)politischen Reden später regelmäßig über seine einstige Abhängigkeit von verlegerischen Interessen; rückblickend machte er dafür vor allem einen angeblich zu großen »jüdischen Einfluss« in der Weimarer Presselandschaft verantwortlich. Seine allgemeinen politischen Überzeugungen und sein Sendungsbewusstsein führte er selbst vor allem auf einschneidende Kindheits-und Jugenderlebnisse zurück. Im April 1933 erklärte er im Preußischen Landtag:

»Wir verlebten unsere Kindheit im kaiserlichen Deutschland. Das Wissen und die Erinnerung an die äußere Kraft und Stärke des Bismarckreiches sind in uns lebendig. Die schönsten Jahre unserer Jugend opferten wir in den Schützengräben des Weltkrieges gern und voll Hingabe dem Vaterlande. Wir wurden Zeugen der tiefsten Schmach unseres Volkes. Wir ertrugen die Novemberrevolte mit innerstem Abscheu und fanden uns im Haß gegen die Verderber der Nation wieder zusammen in der herrlichen Bewegung Adolf Hitlers, die die nationale und soziale Befreiung auf ihre Fahne schrieb, um das ungeschriebene in unseren Herzen lebende Vermächtnis unserer gefallenen Kameraden zu erfüllen. In zehnjährigem unendlich hartem und mühsamen Ringen erkämpften wird den Sieg der nationalen Revolution und sind nun als Männer berufen, das neue Deutschland der Freiheit und sozialen Gerechtigkeit, das dritte Reich zu bauen und zu verwirklichen. Wir wollen dem Schicksal dankbar sein, dass es uns in eine so große und gewaltige Zeit gestellt hat. Und wir wollen uns ihrer würdig zeigen, auf welchem Posten wir auch immer stehen.«50

Die Ursachen für Dietrichs Entwicklung zum Nationalsozialisten pauschal auf Generationszusammenhänge zu reduzieren, würde allerdings zu kurz greifen, wie sich am Beispiel von Carlo Mierendorff verdeutlichen lässt: Der »militante Sozialdemokrat«51 gehörte wie Dietrich zum Jahrgang 1897 und hatte sich ebenfalls als 17-Jähriger aus freien Stücken zum Fronteinsatz zur Verfügung gestellt. Sie kämpften beide in einem Feldartillerie-Regiment, beide verloren an der Westfront jeweils ihren ältesten Bruder und kehrten 1918 desillusioniert und mit Hörschäden in ihre Heimat zurück, wobei Mierendorff allerdings noch andere, schwerwiegendere Erkrankungen durchgemacht hatte. Auf essenzielle Erfahrungen des Jugendalters mussten sie in ihren Schützengräben jahrelang verzichten. Dietrich studierte wie Mierendorff anschließend Staatswissenschaften und Nationalökonomie, beide besuchten (wenn auch in unterschiedlichen Semestern) Vorlesungen und Seminare in Freiburg, Frankfurt und München, beide waren von sozialistischen Ideen fasziniert und beide beendeten 1921 ihr Studium mit einer Promotion. Dietrichs Vater Philipp, ein Essener Korbwarenhändler, verlor im Zuge der Inflation im Jahr 1923 genauso sein Vermögen wie Georg Mierendorff, ebenfalls ein Kaufmann. Carlo Mierendorff war wie Otto Dietrich als Journalist tätig, beide wandten sich der Politik zu und waren später intensiv mit politischer Propaganda befasst – allerdings in ganz unterschiedlichen Lagern. Mierendorff wurde Ende der zwanziger Jahre neben anderen Tätigkeiten Pressesprecher des sozialdemokratischen hessischen Innenministers Wilhelm Leuschner (1890-1944). Während Mierendorff im Februar 1933 einen Aufmarsch der Frankfurter SPD gegen die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler organisierte,52 stand Dietrich inzwischen im Dienst der NSDAP, gegen die sein Altersgenosse nun öffentlich protestierte – und dabei sogar sein Leben aufs Spiel setzte. Wenn Otto Dietrich sich dem Nationalsozialismus näherte und seine Ziele und Werte spätestens im letzten Drittel der Weimarer Republik in eine ganz andere Richtung tendierten als die des lange Zeit unter ähnlichen Bedingungen sozialisierten Mierendorff, so müssen also auch noch andere Faktoren seine Entwicklung beeinflusst haben.

Deshalb sind in dieser Studie nicht nur die biografischen Stationen des Protagonisten, sondern auch sein Wesen, seine Charakterzüge und seine Milieubindungen, sprich das persönliche Umfeld zu erforschen. Der Soziologe Dirk Käsler beschreibt die »Umwelt« eines Menschen als ein abgestuftes System, das sich aus einem von familiären Abhängigkeiten gekennzeichneten »Ursprungs-Milieu« und den verschiedenen Milieus der sekundären Sozialisation zusammensetzt.53 Zu Letzteren zählen beispielsweise Dietrichs Kontakte während seiner Studienzeit (etwa zu einer schlagenden Studentenverbindung) sowie seine ersten beruflichen Schritte. Leider ist die Quellenlage für die ersten drei Jahrzehnte seines Lebens bis in die späten zwanziger Jahre, die für seinen weiteren Werdegang mit ausschlaggebend waren, weniger ergiebig als für spätere Lebensabschnitte. Zu berücksichtigen sein werden auch soziokulturelle Faktoren wie die Religion. Dietrich stammte aus einer streng katholischen Familie und manches spricht dafür, dass ihn diese religiöse Anbindung stärker geprägt hat, als seine spätere äußere Distanz zur Institution Kirche zunächst vermuten lässt. In Reden und Publikationen bezog sich der Reichspressechef vielfach auf christliche Bilder und Mythen, die er zu Propagandazwecken pervertierte.

Neben einer Annäherung an die Person Dietrich über das Milieu wird zusätzlich der Zugang über die Werkebene gewählt. Schließlich sollte gerade eine kommunikationshistorische Arbeit die publizistische Tätigkeit der Hauptfigur hinreichend berücksichtigen und dessen Werke hermeneutisch analysieren. Zu fragen sein wird etwa nach wiederkehrenden Themen und Motiven in Dietrichs Publikationen und Reden, die – unter kritischer Berücksichtigung der Entstehungszeit – Aufschluss über die Gedankenwelt des Verfassers, über seinen Lebensantrieb, seine Hoffnungen und Ängste, seine Vorlieben und Abneigungen geben können.

Die folgende Studie orientiert sich in Grundzügen am Werdegang des Protagonisten. Um inhaltliche Zusammenhänge zu wahren und Konstanten, aber auch Entwicklungen im Denken, Empfinden und Handeln der Hauptfigur aufzuzeigen, wird mehrfach zeitlich Auseinanderliegendes kombiniert und die Chronologie auf diese Weise partiell durchbrochen. Nicht nur die Quellenlage, sondern insbesondere Dietrichs Funktionen in Partei und Staat gebieten es, dass die Darstellung seines Wirkens im Zeitraum zwischen 1931 und seiner Haftentlassung im Sommer 1950 den größten Raum einnimmt. Insbesondere für die Zeit ab 1938 war eine Auswahl zu treffen: Exemplarisch werden solche Propagandathemen aufgegriffen, die einen möglichst aussagekräftigen Einblick in die Figur Dietrich und seine Position im nationalsozialistischen Machtgefüge bieten. Eine umfassende Geschichte der Presse im Dritten Reich kann diese Arbeit nicht liefern. Bereits erforschte Hintergründe werden aufgezeigt, wann immer sie für das Verständnis im Kontext der Person Dietrich erforderlich sind. Um den Umfang dieser Studie nicht zu sehr auszudehnen, müssen ansonsten entweder knappe Zusammenfassungen in den Fußnoten bzw. Hinweise auf die umfangreiche Fachliteratur genügen.

Die Entwicklungspsychologie weiß, dass die politische Prägung des Menschen vor allem in den Jugendjahren erfolgt.54 Deshalb zeichnet das sich an diese Einleitung anschließende zweite Kapitel ausführlich Dietrichs Erfahrungen als junger Frontsoldat nach, gefolgt von einer Darstellung seiner Studienzeit und der ersten beruflichen Schritte (Kapitel 2). Rund zwei Jahre nach seinem Eintritt in die NSDAP wird Otto Dietrich 1931 Mitarbeiter der Partei und kümmert sich von nun an um deren Pressearbeit. Schon bald macht Hitler ihn zu seinem ständigen Reisebegleiter. Kapitel 3 befasst sich unter anderem mit Dietrichs pressepolitischen Aufgaben während des Dauerwahlkampfs des Jahres 1932 sowie mit seinen erfolgreichen Bemühungen, auch die bürgerliche Presse für die Ziele der Nationalsozialisten einzuspannen. In einem gesonderten Abschnitt geht es um seine angebliche Funktion als Kontaktvermittler zwischen NS-Parteiführung und der (Ruhr-)Industrie.