Cover

Über dieses Buch

Cora Frost, Performancekünstlerin, Sängerin und Herrendarstellerin, bewegt sich zwischen Nightclubs und Nationaltheater. Ihre Liederabende führen sie bundesweit auf Tournee und weltweit auf Gastspielreisen, u. a. mit Chico César nach São Paulo, ins Opernhaus von Manaus, nach Paris und Amsterdam, mit Tim Fischer durch Syrien, Ägypten und Sudan, als Tänzerin durch Florida, nach Chicago und New York. In ihrem Buch erzählt Cora Frost vom Unterwegssein, von den Versprengten der Nacht, den Wünschen einer Animierdame und dem verbrennenden Feuer der Einsamkeit. Die Reise durch ihr Leben wird flankiert von ihren Liedern und Gedichten, von Zeichnungen und Fotos.

»Cora Frost ist eine Expertin des Bizarren.« (FAZ Magazin)

Die Autorin

1963 in München geboren, tritt Cora Frost seit 1981 als Sängerin mit eigenen Liedern und Texten auf, später mit eigenwillig-schrägen Shows. 1996 Deutscher Kleinkunstpreis. Sie lebt in Berlin und arbeitet als Autorin, Performerin, Schauspielerin und Regisseurin.

Cora Frost
Mein Körper ist ein Hotel

Eingerichtet von Kai Precht

Edition diá

 

 

Inhalt

Über dieses Buch

Werden

Wie schöne Frauen schmecken

Intermezzo

Richtige Männer, richtige Frauen

Trink und stirb

Berufen

Striptease, Gebete und all das

Nur eine tote Chansonette ist eine gute Chansonette

Nachtsalon

Ich geh mit meinem Pianör

Begegnen

It’s often zu spät

Marie

Bleiben

München

Berlin

Gehen

Unterwegs

New York, New York

Italien

Brasilien

Hawaii

Syrien, Ägypten, Sudan

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Lieder und Texte
Impressum

für
für Gert
für meine Freunde
für meine Feinde

Lob der Reise

Joseph erlangte auf Reisen

kostbare Schätze und Glück –

Hatte er einst nicht geweinet

beim Abschied voll Traurigkeit?

Ging Mustafa nicht zur Reise

nach Jathrib, und fand er nicht dort

Herrschaft und wurde ein König

von Hunderten Ländern weit?

Fehlt dir der Fuß zur Reise,

so wähle den Weg in dich selbst:

Nimm auf, dem Rubinschachte gleichend,

in dich alle Strahlen der Zeit.

Reise, o Freund, aus dir selber

und in dein eigenes Herz.

Maulānā Dschēlaladdīn Rūmī, 1273

Morgens im Sudan. Ein Sufi-Scheich mit seinem Schüler. Der trägt ein gelbes Hemd – wie eine Teerose – und eine lange Narbe auf seiner rechten Wange. Er ist schüchtern. Dann legt er den Kopf zurück und singt. Sein Gesang ist, wie in einer gelben Rose zu schlafen, tief innen, wo ihr Duft dich betäubt. Er sieht schön aus dabei.

Nachts sitze ich mit einem Techniker auf dem Hoteldach. In der Nähe stehen Geisterhäuser, in denen Studenten gefoltert werden. Die Lager vor der Stadt sind planiert und ihre Bewohner in die Wüste gekarrt worden. Alle, denen wir begegnen, bilden nach kurzer Zeit mit ihren Händen ein Flugzeug, das wegfliegt.

Werden

Wie schöne Frauen schmecken

Manche sagen, dass ich schockieren will. Aber ich schreie, weil es so wehtut. Schreien ist einfach der Ausdruck von Schmerz. Jacques Brel

Weihnachten bei meiner Schwester in Schweden. Ein Mann, dessen Frau verschieden ist – das Kleinhirn war ihr abgestorben –, klingelt überall im Haus und kündigt an, dass er drei Stunden schreien wird. Zwischendurch geht er in den Hof und raucht. Ab und zu fragt er bei meiner Schwester nach, ob alles in Ordnung sei. In die Puppenstube meiner Nichten und Neffen schlägt eine Bombe ein. Die Familie wird evakuiert, Vorräte werden gehortet. Mein Schwager Karl singt mit einem Krebskopf auf der Nase Krebslieder. Er lutscht die Tiere, kaut die Füße und spuckt sie wieder aus. Nachts schneit es auf den Seen. Tannen und Birken sehen aus wie verbrannte Gerippe. Rauchgeruch. Meine gesamte Familie schläft während des Gottesdienstes in der Kirche ein. Ein Sonnenuntergang. Brennendes Pulver hinter dem Horizont. Die Schwiegermutter meiner Schwester legt zum Abschied die Hände auf den Ansatz ihrer großen Brüste. Ich schaue auf Örebro, den kleinsten Flughafen der Welt, der unter mir verschwindet. Die Stewardessen tragen weiße Handschuhe wie in Entenhausen, und die Lichter, trollblau, verschwinden. Ich habe Rentierfleisch in meiner Tasche.

Geboren in München, rechts der Isar, ging ich regelmäßig in die Kirche, bekam Unterricht, sah die vielen Kreuze und verstand sie nicht. Folterszenen sind besonders für Kinder hässlich. Noch immer halte ich es für problematisch, dass das Christentum als Glaubenssymbol das Kreuz gewählt hat. Das Kreuz, an dem ein gefolterter Mann hängt. Mit solch einem drohenden Zeichen aufzuwachsen, finde ich eher befremdlich.

Mein Urgroßvater war katholischer Priester. Wenn er mit seinem Pferd zur Frau des Dorflehrers geritten kam, ging der Lehrer ins Wirtshaus zum Kartenspielen. Besuchte er sie nicht, fuhr meine Urgroßmutter in einer Kutsche zu ihm. Er starb an einer Blutvergiftung, einer aufgeplatzten Blase, die er während einer Predigt bemerkte. Er wusste sofort, dass er sterben würde, davon zeugt ein kleines Sterbebüchlein mit seinen Eintragungen. Meine Urgroßmutter hatte zwei weitere Kinder – von dem Dorflehrer. Sie war winzig klein, trug aber riesige Hüte und galt als extrovertiert. Noch die nächste Generation musste die Schulden für ihre Hüte abbezahlen. Meine Großmutter hatte Berlin in den Augen. Sie kam aus Pommern und fuhr später immer, wenn sie Zeit hatte, nach Berlin.

Ach, Großmutter

Ach, wär mein Vater doch Scholle und grübe Gruben und hätte Eier voll Erde und meine Mutter den Mund voller Sand und Anemonen. In meinen Adern flösse fette weiße Milch, ich würde auf Kartoffeln schlafen und mit den Hunden sprechen. Ich hätte Arme wie ein Pferd, ich würde zu Maria beten, Schweine schlachten und Blutsuppe essen. Ich würde Enten haben. Ich würde Entenhälse und -füße wickeln und im Stadtsee baden und auf den ersten Storch warten. Ich würde Grützwurst und Erdbeeren essen. Ich würde meine Hände falten und beten. Ich glaube, ich glaube an das Kaffeeservice im Schrank, die goldene Hochzeit, Kompott, den Bürgermeister und Rexona. Amen.

Auch in der Nachbarwohnung wohnten Flüchtlinge aus Pommern. Sie machten kanonenkugelgroße böhmische Klöße, von denen mir schlecht wurde. Ich aß sie und spuckte sie dann heimlich ins Klo. Weil sie mir augenscheinlich so gut schmeckten, boten sie mir weitere Klöße an.

An dem Tag, an dem meine Großmutter starb, quälte ich meine Mutter damit, unbedingt mit meinen Freundinnen ins Hofbräuhaus gehen zu wollen. Meinen Geburtstag wollte ich mir nicht versauen lassen. Ich war sieben oder neun.

Mein Onkelchen aus dem Lied »Ich habe keine Füße mehr« war das Kind meines Großvaters und einer belgischen Krankenschwester. Er lag im Lazarett, und sie fälschte seine Fieberkurve, damit sie länger zusammen sein konnten. Mein Onkel warf ihr zeitlebens Fraternisierung vor. Erst ganz am Ende konnte er ihr verzeihen.

Vater Frost, die kleine Uroma ohne großen Hut und Onkelchen

Ich habe keine Füße mehr

Ich habe keine Füße mehr

sie sind mit dir begraben

Ich habe keine Füße mehr

will meine nicht mehr haben

Du hattest Füße comme baguette

schlank wie die Hasenpfoten

genau wie meine sahn sie nie aus

Es sind jetzt meine, deine Toten

Die toten Füße faulen fort

wie kleine braune Schlangen

erst ein Zeh, der zweite Zeh

der dritte, auch die langen

der vierte Zeh, der fünfte Zeh

wie oft hab ich schon für dich gesungen

der sechste, siebte, achte Zeh

es ist dir fast gelungen!

Der zehnte Zeh, auf dir liegt Schnee

der ganze Fuß verschwunden

Ich geb sie gern, es schmerzt mich nicht!

So bin ich doch mit dir verbunden

Wenn ich dir in die Augen sah

war’n meine Augen deine

und hab ich keine Füße mehr

so sind jetzt deine Augen meine!

Ich trink für dich, ich geh für dich

Ich sing für dich, ich seh für dich

Ich trink für dich, ich geh für dich

Ich sing für dich, ich seh für dich

Meine Mutter, das kleine Lottchen, mit einem Vater und einem Stiefvater, stammt aus einer Schneiderfamilie, und so sollte auch mein Bruder Schneider werden. Jetzt ist er Grafiker und entwirft meine Plakate. Ich sollte auch mein Bruder werden, aber mein Bruder wurde mein Bruder. Deshalb verprügelte ich ihn vor unserer Wohnung, als ich klein war. Danach kroch er zum Schrank und holte sich Schokolade heraus. Wenn ich ihn nicht verprügelte, spielten wir Krippenspiele.

Gille, gille Jesulein

In einer kalten Dezembernacht (anno null) stehen Maria und Josef in einem Stall zu Bethlehem. Nur der Wind pfeift erbarmungslos um die traurige Hütte. Die Könige, die Hirten, alle sind schon abgezogen. Das Christfest ist vorbei.

Josef: »Maria, Maria, Maria, Maria …«

Maria: »Josef, lieber Josef, lieber, lieber Josef …«

Josef: »Maria, Maria, Maria, Maria …«

Maria: »Josef, lieber Josef …«

Josef: »Du bist mir ein Früchtchen, Maria …«

Maria: »Sei g’scheit, Josef …«

Josef: »’s Stroh, wie’s raschelt …«

Da Ochs

Da Esl

D’ König

’s Kind

Die Hiaten

Weihrauch und Myrrhe

Beide: »Wer klopfet an?«

(Pause)

Maria: »Mei Lumpi! …«

Josef: »Maria, Maria. ’s Licht leuchtet, mein Unbeflecktes, Maria …

Schau, unser Jesulein lacht an jed’n an! Gille, gille Jesulein …«

Maria: »Woast no, da schwoaze, da König! …«

Beide: »Geht ein Mann die Treppe rauf …«

(Sie lachen.)

Josef: »Sterna blinkan, ’s is so klein!«

Maria: »’s is halt a Kind, Josef, a Babi …«

Josef: »Wie’s wächst! Horch! Man hört’s fast!«

Maria: »Des san doch die Mäusa …«

Josef: »Stern …«

Maria: »Mein Träumerle …«

Josef: »Maria, wenn i di net hätt …«

Maria: »Lass gut sein, Josef …«

Josef: »In deiner grenzenlosen Güte …«

Maria: »Lass gut sein, Josef …«

Josef: »Maria …«

Maria: »Lass gut sein.«

Josef: »Maria …«

Maria: »Alles wird gut …«

Josef: »Maria …«

Meine Mutter heiratete meinen Vater, als er ganz dünn war. Beide sahen aus wie Kinder. Kinder bekamen Kinder. Wenn er im Schwimmbad Badehosen trug, machte sie sich über seine Beine lustig. Das erzählt er noch heute. Dabei zeigt er aktuelle Bikinidias und sagt: »Da, schaut her, das ist eure Mutter«, und ist unheimlich stolz. Wir alle sagen: »Ja, weiter.« Meine Mutter lernte Wirtschafterin und arbeitete in Bad Tölz. Mein Vater war Beamter in der Staatskanzlei in München. Er fuhr jedes Wochenende mit dem Fahrrad zu ihr.

Meine Eltern Lilo und Jochen auf dem Standesamt

Später lebten wir im ersten Stock einer Nachkriegssiedlung der Neuen Heimat, einem Neubauklotz. Meine Mutter schob meinen Kinderwagen unter die Birken und ließ mich dort einfach stehen. Sie meinte, es kämen schon Leute vorbei, die sich mit mir unterhalten würden.

Eines meiner ersten orgiastischen Erlebnisse: Ich sitze in einem Urwald von Gewitterblümchen, mit einem Wasserfall von Kirschblüten über mir. Wenn man klein ist, kann man viel mehr orgiastische Erlebnisse haben, weil alles um einen herum größer ist.

 

Damals interessierte ich mich nicht für Jungs. Vor unserem Haus wuchsen ein paar Büsche, in die mich ein kleiner Junge mit den Worten lockte, er müsse mir was Tolles zeigen. Ganz stolz führte er mir seinen Schniedel vor. Ich schaute einmal hin, dachte, nein, das interessiert mich nicht, und ging weg. Das war schwer für ihn. Ich kochte eben lieber mit meinen Freundinnen. Das heißt, wir kochten uns gegenseitig. Nur einmal war mir peinlich, dass ein Mädchen von ihrer Mutter Salz und Pfeffer holte, um mich zu würzen. Ich überlege manchmal, ob die Geschichten und Märchen meiner Kindheit nicht etwas auslösten, was mit dem verwandt ist, das diesen Japaner in Frankreich dazu trieb, seine Kommilitonin zu erschießen und zu essen. Vielleicht wollte er wissen, wie schöne Frauen schmecken? Vielleicht würde ich heute auch wissen wollen, wie schöne Mädchen schmecken, und nur mein Singen und Reisen haben Schlimmeres verhindert. Man weiß so wenig, weiß im Grunde gar nichts über sich. Noch jetzt male ich mir aus, wie ich verschiedene Freunde zubereiten würde: Alfred Biolek nur mit frischen Zutaten, frischem Rosmarin und Petersilie, mit ein bisschen Knoblauch und Weißwein; Tim Fischer als arabisches Täubchen, ganz zart gebraten; Georgette Dee als deftiges Biergulasch oder als Apfelküchlein; Susanne Betancor in einer Erbsensuppe, mit ein bisschen Speck, damit sie würzig schmeckt. Aus Gert Thumser kann man ganz viele Tintenfischringe machen, dazu eine Knoblauchsauce; und aus mir Forelle blau – mit Butter.

Im Kindergarten biss ich die Kinder, bis Blut spritzte. Mag sein, dass ich auch bei ihnen wissen wollte, wie sie schmeckten. Oder weil ich dachte, ich wäre kein richtiges Kind und die anderen wären richtige Kinder, die ich aus dem Weg beißen müsste. Als ein Team vom »Feuerroten Spielmobil« in den Kindergarten kam und uns beim Spielen filmen wollte, dachte ich, das kann ich nicht, setzte mich auf die Seite und schaute zu. Aber ich sollte mit einem Jungen gefilmt werden, als Mutter und Vater. Der Kameramann sagte: »So, jetzt mach mal, was deine Mutti zu Hause immer macht.« Ich stand zwanzig Zentimeter von der Kamera entfernt, guckte entsetzt in die Linse und wusste nicht, was ich tun sollte. Meine Arme hingen herunter, leicht abgespreizt. Ich stand unter Schock. Sie führten mich ab – wie einen Kriminellen. Ich hatte mein Trauma weg fürs Leben. Noch heute brauche ich auf Auditions zwei Anläufe, weil ich denke, ich stehe im Kindergarten zwanzig Zentimeter von der Kamera entfernt, mit steifen, abgespreizten Ärmchen.

Die Eltern der anderen Kinder wollten mich anbinden, bevor ich alle beiße. Ich sei gefährlich. Aber es ist doch einfach nicht gerecht, wenn man zusammen »Flipper« spielt, und nur ein Mädchen, das blödeste, darf Flipper sein! Oder umgekehrt: Mit einem Jungen spielte ich in einem Heuschober in den österreichischen Bergen »Raumschiff Enterprise«. Ich saß vor einem Heuballen und war Lieutenant Uhura. Er war alles andere! Ich saß die ganze Zeit vor diesem Heuballen, das war nicht schön. Außerdem drehte er meinen Arm um, um sich zu amüsieren. Was außer Beißen soll man in einer solchen Situation denn machen?

Ich habe zwei ältere Schwestern, die wie zwei Feen für mich waren. Sie machten sich oft zurecht und gingen aus. Wenn sie so im Türrahmen unserer Küche standen, war ich verliebt in sie. Einen kleinen Moment ließen sie sich anschauen, dann verschwanden sie in eine wunderbare Welt. Ich fand sie schön und kam gar nicht auf die Idee, dass ich mich eines Tages auch zurechtmachen und in eine wunderbare Welt entschwinden könnte. Ich war das kleine Ding, das einfach nur dasaß und schaute und verliebt war in seine Schwestern. Ich war die Liebende, und das bin ich geblieben.

In der Pubertät steckten mich meine Schwestern in Laura-Ashley-Rüschenkleider oder in Faltenrock und Benetton-Pullöverchen und hängten mir eine Perlenkette um den Hals. Vielleicht nur zum Ausgleich nahm ich einen Flachmann und Tabletten in die Schule mit. Wenn ich mir die Zeit in der Volksschule vor Augen führe, sehe ich die Achselhaare meiner Lehrerin wie eine Stalaktitengrotte über mir hängen, und meine Freundinnen, die alle lange Zöpfe trugen und mich kochen mussten.

Im Ethikunterricht saß ein Mädchen, das ich sehr verehrte. Auch der Ethiklehrer war ihr verfallen. Weil sie lange schwarz lackierte Fingernägel trug und stark geschminkt war, wollte sich niemand neben sie setzen. Sie hatte schwarze Haare und einen Koffer, auf dem »Bi-Reisen« stand. Eines Tages hieß es, sie käme nicht mehr zum Unterricht, und es ging das Gerücht, sie arbeite in einer Peepshow am Hauptbahnhof. Daraufhin verlegte ich meinen Ethikunterricht in die Peepshow. Wenn ich sie besuchte, brachte ich ihr Aprikosen mit.

Peepshow

Ein kleiner schöner Koreaner in einem schwarzen Anzug sitzt in einer Solokabine vor einer Glasscheibe. Er hat die Beine übereinandergeschlagen. Sie sitzt breitbeinig vor ihm. Sie betrachten sich wohlwollend. Zwischen ihnen steht eine Tulpe.

Intermezzo

Früh versuchte ich zu zaubern, schon zu Hause beim Geschirrabtrocknen, ein bisschen wie Aschenputtel. Aber ich war eher der Aschenputter. Wenn man sich wie ich interessiert für die grausamen Geschichten als poetischen Gegenzauber – vielleicht versuche ich noch immer zu zaubern –, muss man manchmal sehr tief hinuntersteigen, um wiederzufinden, was man verloren hat. Ich stieg mit Lust und dem Ziel hinunter, meine Flügel wiederzufinden. Wenn ich sie fand, flog ich ganz hoch, einen kurzen Moment. Das konnte und kann überall passieren. Ich sitze und denke nicht darüber nach. Manchmal weiß ich auch nicht, wo oben oder unten ist. Wer seine Flügel verloren hat, kann sie an Orten wie Nachtklubs wiederfinden.

Dass ich das Leben nicht gespürt habe, war der eigentliche Grund, mit dem Tanztraining aufzuhören und die Nachtklubs zu besuchen. Nur noch nebenbei ging ich zur Schule. Mein Bruder erzählt, ich hätte zu der Zeit oft lächelnd an irgendwelchen Säulen gelehnt. Das war die Zeit, als meine Eltern eine Federboa in meiner Wohnung fanden. Den Sprung von den Rüschenkleidern zur Federboa, den schafften sie damals noch nicht.