Paul M. Zulehner

Religion und industrielle Gesellschaft

Zur Entfremdung von Arbeiterschaft und Kirche

Eine historische und empirische Studie

Patmos Verlag

Zum Geleit

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Das Verhältnis zwischen der katholischen Kirche und der aufkommenden Industriearbeiterschaft in Österreich war von allem Anfang an die Geschichte einer tiefen Entfremdung. Die vom Staatsabsolutismus geknebelte Kirche rang zu dieser Zeit um ihre Freiheit vom Staat und konnte diese im Zuge der Revolution von 1848 auch erstreiten. Das änderte aber nichts daran, dass die Kirche an die vergehende ständische Gesellschaft gebunden war und diese aus tragischem Selbstinteresse verteidigte. Die arbeitenden Menschen in den neuen Fabriken rund um Wien waren, so analysierten Zeitzeugen, ein Abfallprodukt der zerfallenden mittelalterlichen Stände der Bauern und des Handwerks, zu denen neben dem Adel und dem Bürgertum auch der Klerus gehörte. Zu begreifen, dass mit der Industrialisierung die ständische Gesellschaft zu Ende ging und eine nach Klassen geteilte Gesellschaft mit einem prekär lebenden Industrieproletariat entstand: Das war den Klerikern, aber auch den Theologen dieser Zeit nicht zugänglich. Sie waren problemblind, vertrösteten – so belegen Predigten und Erbauungsschriften – die Ausgebeuteten auf das Jenseits und organisierten für die Massen der Elenden lediglich Armenhilfe. »Klingelbeutelsozialreform« geschah, so ätzte die junge Arbeiterzeitung 1890. Die Ursachen der Verelendung der wachsenden Arbeitermassen wurden erst von Leo XIII. kirchenamtlich wahrgenommen, fast ein halbes Jahrhundert nach den Analysen von Karl Marx.

Die vorliegende Arbeit geht dieser Geschichte der Entfremdung von Kirche und Arbeiterschaft in Österreich einfühlsam nach. Viele Dokumente, Flugblätter, Reden und analytische Beiträge bilden die Grundlage der Studie und werden so in Erinnerung gebracht.

Die christlich-soziale Bewegung, zur selben Zeit wie die sozialistische Partei entstanden, beendete die Blindheit der Katholiken in Österreich für die Arbeiterfrage. Viele berührende Erfahrungsberichte aus der sozialkritischen Zeitschrift »Vaterland« unter der Federführung des Freiherrn Carl von Vogelsang belegen den neuen, geschärften Blick.

Es freut mich, dass ich als langjähriger Vorsitzender der FCG im ÖGB die Drucklegung dieser ersten Dissertation des Religions- und Werteforschers Paul M. Zulehner aus dem Jahre 1961 ermöglichen konnte. Paul M. Zulehner hatte fast ein Vierteljahrhundert den Lehrstuhl für Pastoraltheologie inne, der 1774 von Maria-Theresia zur Ausbildung von staatstreuen Religionsdienern in der k.u.k. Monarchie gegründet worden war. Just die vom feudalen Staat gebildeten und von diesem in Dienst genommenen Kleriker waren es, welche die Entfremdung der Arbeiter von der Kirche nachhaltig mitverschuldet haben. Ihre Pflicht war es, die ständische Ordnung zu sichern, Gehorsam gegenüber der Autorität und die Pflicht zum Zahlen der Steuern einzumahnen. Für das Aufkommen der Industriegesellschaft waren sie, dank solcher Aufgaben für den absolutistischen Staat, mit einer professionellen Blindheit geschlagen, als die einsetzende Industrialisierung vielen Menschen unvorstellbares Elend, damit aber das alte gesellschaftliche Gefüge ins Wanken brachte.

Die Geschichte lehrt, dass ohne Gerechtigkeit keine Gesellschaft auf Dauer Bestand hat.

Fritz Neugebauer,

Nationalratspräsident a. D.

Wien, 2015

ÜBER DEN AUTOR

Paul M. Zulehner, Dr. phil., Dr. theol., gehört zu den bekanntesten Religionssoziologen Europas. Von 1984 bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2008 war er Professor für Pastoraltheologie in Wien. In seinen zahlreichen Veröffentlichungen beschäftigt er sich vor allem mit religionssoziologischen, kirchensoziologischen und pastoraltheologischen Themen.

ÜBER DAS BUCH

Über die Religion von IndustriearbeiterInnen

In seiner Dissertation aus dem Jahr 1961 untersucht Paul M. Zulehner die vielfältigen Gründe der Entfremdung zwischen Kirche und Arbeiterschaft in Österreich.

Der erste Teil der Studie zeichnet diese Entfremdungsgeschichte nach, vom Entstehen der Industriearbeiterschaft bis zur Organisation einer christlichen Sozialtätigkeit einerseits und bis zum Zusammenschluss der Arbeiter unter der Fahne von Marx andererseits. Themen sind u.a. Liberalismus und Presse sowie die Stellung der Juden, des Protestantismus und des Deutschkatholizismus.

Den zweiten Teil bildet eine empirische Studie über die Religion von Industriearbeitern. Herkunft, geistige Lage und soziale Situation werden als wesentliche Faktoren analysiert. Zulehner konnte in seiner frühen Studie zeigen, dass der politische Bruch zwar mit der Kirche geschah, nicht aber mit der Religion und deren rituellem Reichtum, wie Taufe oder Beerdigung.

Auch als Printausgabe erhältlich.

www.patmos.de/ISBN978-3-8436-0731-5

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LESEEMPFEHLUNG

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Paul M. Zulehner

Entängstigt euch

Die Flüchtlinge und das christliche Abendland

Unerwartet viele Schutz suchende Frauen, Männer, kleine Kinder, alte Menschen sind in der letzten Zeit nach Europa gekommen oder sind noch unterwegs. Das ruft bei vielen starke Gefühle wach: von Zuversicht bis Wut, von hilfsbereiter Solidarität bis Hass. Die Flüchtlinge spalten die Bevölkerung in Europa.

Paul M. Zulehner geht in diesem aktuellen Zwischenruf den Ängsten nach, die hinter den abwehrenden Haltungen liegen, und zeigt Möglichkeiten auf, sie zu überwinden. Jede und jeder kann in diesen großen Herausforderungen einen wertvollen Beitrag leisten.

Das wird dann eher gelingen, wenn diffuse Angst in rationale Besorgnis gewandelt wird. Begründete Sorge kann kraftvolle Energie für eine zukunftsfähige Politik und einen nachhaltigen Einsatz freisetzen.

Die Formel lautet: »Wird (diffuse) Angst kleiner, kann (liebende) Solidarität größer werden.«

Dann aber heißt die große Zumutung der heutigen Zeit: »Entängstigt euch!«

Als Printausgabe erhältlich:

www.patmos.de/ISBN978-3-8436-0760-5

Als eBook-Ausgabe erhältlich:

www.patmos.de/ISBN978-3-8436-0761-2

Inhalt

Zum Geleit

Vorwort

Einleitung

Ursachen der Entfremdung zwischen Kirche und Arbeiterschaft

Die Umwelt als Ursache der Entfremdung

Der Liberalismus

Wesen und Wurzeln

Der Liberalismus als politische Bewegung

Der ökonomische Liberalismus

Die Entchristlichung der Wirtschaft

Die antikirchliche Haltung des Liberalismus

Das Pressewesen

Liberale Ideen und die Arbeiterschaft

Andere Umweltfaktoren

Der Protestantismus

Der Deutschkatholizismus

Die Judenfrage

Die politische Stellung des Judentums

Die Juden im Wirtschaftsleben

Der Antisemitismus

Judentum und Kirche

Die Juden als Entfremdungsfaktor

Zusammenfassung

Die Entfremdung vom Arbeiter aus gesehen

Die Industrialisierung in Österreich

Die Herkunft der Industriegesellschaft

Der Proletarier

Die geistige Situation des Proletariats

Die Hauptquellen des Proletariats

Unbrauchbare Menschen

Der Bauernstand

Die Zünfte

Der Standortverlust

Die religiöse Lage des Volkes überhaupt

Die religiöse Lage der Zünfte und des Bauernstandes

Die Bauernschaft

Die Zünfte

Zusammenfassung

Die soziale Lage der Arbeiterschaft

Berichte über die soziale Lage

Zusammenfassung der wesentlichen Missstände

Soziales Elend und Sittlichkeit

Zum Verhältnis von Armut und Sittlichkeit

Jugendverwahrlosung

Der Familienzerfall

Lebensflucht

Rückblick

Die Organisation der Arbeiterschaft durch den Sozialismus

Die Wurzeln des Marxismus

Der Weg zur Partei

Die Zeit bis einschließlich 1848

Die Zeit von 1848 bis 1867

Die Zeit von 1867–1870

Die Zeit von 1870–1878

Die Zeit von 1878–1888/89

Die Stellung der roten Arbeiterorganisation zu Kirche und Religion

Die Stellung des vormarxistischen Sozialismus in Österreich zu Kirche und Religion

Der marxistische Sozialismus in Österreich

Die Bedeutung dieses Entfremdungsfaktors

Die Entfremdung von der Kirche aus gesehen

Die Situation in der Kirche

Die Staatskirche

Geschichte und Wesen

Die Folgen des Staatskirchentums

Der Auszug aus der Öffentlichkeit

Die Seelsorgssituation

Äußere Umstände

Mammutpfarren

Fehlen von Kirchen

Überlastung der Seelsorger

Zerfall der Pfarrfamilie

Der Klerus

Der Mangel an Seelsorgern

Die Herkunft der Seelsorger

Die Stellung des Klerus zur Seelsorge

Die Problemblindheit

Wirklichkeitsfremde Begründung der sozialen Frage

Gottgewollte Armut

Sittliche Begründung

Problemblinde Lösungsvorschläge

Caritas statt iustitia

Der Konservativismus

Stellung zur neuen Wirtschaftsreform

Stellung zum Arbeiter

Das religiöse Verhalten des heutigen Industriearbeiters

Vorbemerkungen

Bedeutung und Grenzen der empirischen Sozialforschung

Fragebogen und Arbeitshypothese

Das Sample

Das Sample der Aktivenbefragung

Das Sample der Rentnerbefragung

Die Kontaktaufnahme

Die formelle Religiosität

Die Gläubigkeit

Gott

Glaube an ein höheres Wesen und Alter

Glaube an ein höheres Wesen und Herkunft

Glaube an ein höheres Wesen und Schulbildung

Christus

Gott und Christus

Alter und Einstellung zu Christus

Auferstehung des Leibes

Auferstehungsglaube und Alter

Der Glaube an Gott und an ein Weiterleben nach dem Tode

Bemerkungen zu dieser Frage

Die Kirchlichkeit

Kirchgang

Frequenz und Alter

Frequenz und Herkunft

Frequenz und Schulbildung

Sakramentenempfang (Kommunion)

Gründe für die Unkirchlichkeit

Ende der Praxis

Entfremdungsgründe

Schichtarbeit am Sonntag

Die Arbeitsumwelt

Kirche als Geldmacht

Weitere Entfremdungsgründe

Zusammenfassung

Die informelle Religiosität

Konventionelle Kirchlichkeit

Öffentlichkeitsferne Religiosität

Informeller Gottesglaube

Informelles Gebet

Weitere, eigentliche informelle Religiosität

Informelle Religion in der Familie

Verschönerung der Kindheit durch die Religion

Religion als Erziehungsmittel

Religion aber nur für die Zeit der Erziehung

Schlussbemerkungen

Allgemeine Zusammenfassung

Gedanken zur Entfremdung des heutigen Arbeiters von der religiösen Institution

Entfremdung durch eine Ersatzreligion

Direkte Entfremdung von der religiösen Institution

Innere Problematik der religiösen Institution

Differenzen mit der religiösen Institution durch Sublimierung

Erkenntnisse und Ergebnisse

Fundierung und Wesen der Religion

Die Bestimmung des Menschen

Das Wesen der Religion

Die individuelle Dimension der Religion

Die soziale Dimension der Religion

Die Religion in der industriellen Gesellschaft

Die individuelle Dimension der Religion in der industriellen Gesellschaft

Actus fundamentaliter intellectualis

Gründe für das Fehlen einer positiven Erkenntnisgrundlage

Religionswidrige Erkenntnisgrundlagen

Actus formaliter voluntativus

Consequenter actus emotionalis

Die soziale Dimension der Religion in der industriellen Gesellschaft

Die endogene Problematik

Die Binnenstruktur der Kirche

Übermacht der sekundären Systeme

Die exogene Problematik

Mobilität der Gesellschaft.

Pluralistische Gesellschaft

Anmerkungen

Schrifttumsverzeichnis

Fragebogen, welcher bei der empirischen Untersuchung verwendet wurde

Vorwort

Dies ist die erste Drucklegung meiner Dissertation aus dem Jahre 1961. Der Titel der damals von Johannes Schasching SJ in Innsbruck betreuten Doktorarbeit lautete: »Das religiöse Verhalten der Industriearbeiterschaft. Versuch einer religionsphilosophischen Analyse«.

Die Entscheidung für die Drucklegung hat mehrere gute Gründe. Erstens führt die Studie ein in das hochsensible Verhältnis der weithin austromarxistisch geprägten Österreichischen Arbeiterschaft zur Kirche. Es war, was die Arbeiterinnen und Arbeiter betraf, weniger ein ideologischer Konflikt, sondern mehr ein politischer. Die Kirche war mit dem politischen Lager der Christlichsozialen eng verwoben. Die Arbeiterschaft hingegen wurde weithin von der Sozialistischen Partei organisiert und vertreten. Zwischen Christlichsozialen und Austromarxisten verschärften sich die politischen Konflikte bis zum Bürgerkrieg. Der Bundeskanzler Prälat Ignaz Seipel ließ auf ­kämpfende Arbeiter schießen. Auch im innerkirchlichen Bereich waren die Spannungen mit Händen zu greifen. Manche Beichtväter verweigerten die Lossprechung, wenn sich der Beichtende als Mitglied der Sozialistischen Partei deklarierte.

Nach 1945 war der politische Kampf zu Ende gegangen. In den Konzentrationslagern des Nationalsozialismus lernten einander führende Köpfe beider politischer Lager kennen und verstehen. Unter dem Sozialisten Bruno Kreisky und Kardinal Franz König kam es formell zur Annäherung. Es wurde – aus der Sicht der Kirche – auch aus pastoralen Gründen Frieden geschlossen.

Die Aussöhnung auf der Ebene der führenden Persönlichkeiten führt aber nicht von selbst zur Aussöhnung der Menschen. Voraussetzung für eine pastorale Annäherung ist sowohl die Kenntnis der Entfremdungsgeschichte, zugleich aber auch ein gediegenes Wissen um mögliche Anknüpfungspunkte. Von hier aus ergibt sich die Aufgabenstellung der beiden Hauptteile dieser Studie. Der erste Teil geht der Entfremdungsgeschichte nach. Der zweite Teil ist eine empirische Studie über die Religion von Industriearbeitern – Frauen wie Männern.

Im historischen Teil kommen wenig bekannte Dokumente ans Licht. So beispielsweise Flugblätter aus dem Jahre 1848. In diesem Jahr gab es zunächst noch eine Allianz zwischen Bürgerlichen und Arbeitern. Doch im Verlauf der Revolution kam es zur Entfremdung. Arbeiter stürmten Fabriken. Liberale und Sozialisten kämpften zwar politisch gegen das herrschende Regime, trennten sich aber rasch aus sozialpolitischen Gründen.

Der empirische Teil macht einen Sprung in die (damalige) Gegenwart. Mit noch ziemlich einfachen Mitteln wurde eine Repräsentativstudie unter arbeitenden Menschen der VÖEST in Linz durchgeführt. Thema war die Religion von Industriearbeitern. Es sollte sich zeigen, dass der politische Bruch mit der Kirche geschah, nicht aber mit der Religion und deren rituellem Reichtum, wie Taufe oder Beerdigung. Die Auswertung der durch mündliche Erhebung gesammelten Daten geschah damals händisch, Computerprogramme standen noch nicht zur Verfügung. Auch Lochkarten und Auszählmaschinen waren nicht zur Hand. Und dennoch lohnt es sich, die rudimentär präsentierten Ergebnisse zu dokumentieren. Denn es ist die erste größere religions­soziologische Studie in Österreich (und wohl auch darüber hinaus).

Paul M. Zulehner, Wien 2015

Einleitung

Es ist eine Tatsache, dass auf Grund der wirtschaftlichen, sozialen, politischen und kulturellen Entfaltung eine Reihe von Institutionen und Sozialgebilden einem bedeutenden Wandel unterliegen. Dieser Wandel betrifft einerseits das innere Gefüge solcher Institutionen, er betrifft aber auch das Verhältnis verschiedener Institutionen zueinander.

Die Interpretation dieses Wandels verlangt sowohl eine historische Analyse sowie auch eine empirische Bestandsaufnahme des Gewor­denen. Erst aus dem Ergebnis dieser beiden Untersuchungen und aus der Zusammenschau beider Faktoren ergibt sich die Möglichkeit eines Versuches einer grundsätzlichen Systematisierung dieses gesamtgesellschaftlichen Phänomens.

Zu diesen erwähnten Sozialgebilden und Institutionen gehört zweifellos auch das Sozialgebilde ›Kirche‹. In den kommenden Ausführungen soll der Versuch unternommen werden, die besondere Problematik, welche dieser Institution im Raum der industriellen Arbeitswelt erwächst, sowohl auf Grund einer historischen Analyse als auch einer empirisch-soziologischen Forschung näher in den Griff zu bekommen.