Über das Buch

Mit zehn Jahren wird Nadja Tolokonnikowa Feministin, mit sechzehn Philosophiestudentin, mit einundzwanzig Mitbegründerin von Pussy Riot. Als Putins Richter sie verurteilen, nutzt sie die Bühne des Gerichts für eine Verteidigung der Freiheit. Und während ihr Land sich patriotisch beseelt der autokratischen Herrschaft ergibt, beharren sie und ihre Mitstreiterinnen darauf, dass Widerstand möglich ist und Kunst eingreifen kann. In Anleitung für eine Revolution erzählt Tolokonnikowa ihre Geschichte, von den ersten Aktionen im Geiste der Riot-Grrrl-Bewegung bis zu den brutalen Erfahrungen im Arbeitslager.

Ihr Buch – zart, laut und mitreißend – ist eine Ermutigung zum Eigensinn im Angesicht politischer Gleichgültigkeit. Denn ziviles Engagement ist keine Heldentat, sondern eine Notwendigkeit. Und Menschenrechte sind überall bedroht – nicht nur in Russland.

Nadja Tolokonnikowa

ANLEITUNG
FÜR EINE
REVOLUTION

Aus dem Russischen von
Friederike Meltendorf &
Jennie Seitz

Hanser Berlin

ISBN 978-3-446-25323-0

© 2016 Nadja Tolokonnikowa

Alle Rechte der deutschen Ausgabe

© Hanser Berlin im Carl Hanser Verlag München 2016

Umschlag: Peter-Andreas Hassiepen, München

Satz: Greiner & Reichel, Köln

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INHALT

0 Einführung

1 Wie man ohne Phallus in einer phallozentrischen Welt überlebt

2 Wie man seine Jugend richtig verschwendet

3 How to start a Pussy Riot

4 Pussy Riot Church

5 Das Jüngste Gericht

6 Prison Break

7 Russia Today

Anmerkungen und Belege

0
EINFÜHRUNG

1.

Wenn ich meine Seele verkaufen muss, damit Putin verschwindet und in Russland politischer Wettbewerb entsteht, dann tue ich es.

Verkaufe deine Seele nicht zu billig.

Entwickle eine Protestkultur. Es gibt eine Esskultur, wie es eine Buch- und Filmkultur gibt – und es gibt eine Protestkultur. Sie besteht darin, unbequeme Fragen zu stellen, Zweifel zu äußern, etwas zu verändern.

Noch ein halbes Jahr bis zum Punk-Gebet. In mir brodelt es in Erwartung großer Veränderungen. Nie haben mich politische Entwicklungen dermaßen schwindlig gemacht wie im Herbst 2011.

Am 24. September 2011 verkündet Putin, dass er eine dritte Amtszeit anstrebt. Eine dritte Amtszeit – kein Scherz. Nach den ersten beiden Amtszeiten hatte Putin den pseudoliberalen Medwedew als seinen Statthalter eingesetzt. Doch jetzt kehrt er zurück. Am 24. September 2011 wird klar, dass sich unser Leben verändert. Es wird klar, dass schwierige Zeiten bevorstehen, in denen ein Leben ohne Lügen zur Herausforderung wird. Leben, ohne zu lügen, wird richtig schwer.

Undenkbar, dass ich mir diese politische Spielzeit – die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen – entgehen lasse. Wenn ich mir die entgehen lasse, begehe ich den größten Fehler meines Lebens.

Meine Entschluss steht fest: Diese Wahlen sollen über mein Leben entscheiden. Ich werde alles dafür tun, diesen unguten politischen Determinismus ins Wanken zu bringen.

2.

Die Macht sind wir.

Russians by birth. Rebels by choice.

Plötzlich durchbohrt eine Nadel mit aller Wucht deinen Nagel und dringt in den Finger. Fünf Sekunden lang versteht das Bewusstsein nicht, was geschehen ist. Kein Schmerz, nichts. Du fragst dich bloß, warum du die Hand nicht aus der Nähmaschine ziehen kannst. Erst nach fünf Sekunden überrollt dich eine Welle aus Schmerz: Wow, schau nur, dein Finger ist auf die Nadel gefädelt. Deswegen kannst du die Hand nicht rausziehen. Ganz einfach.

Vielleicht kannst du einfach fünf Minuten mit dem Finger so dasitzen, aber länger nicht. Du musst weiternähen. Bist du etwa die Erste, die sich den Finger durchsteppt? Ein Pflaster willst du? Woher denn? Du bist hier im Lager, Kleines.

Und du nähst. Mich schüttelt es – nicht vor Schmerz, sondern vor Staunen: Zum ersten Mal ist etwas in meinen Finger eingedrungen. Ich wurde quasi entjungfert. Das ist ein großes Ereignis.

3.

Gründe, warum man Russland verlassen muss, finden die Menschen viele. Welche zu bleiben in der Regel weniger. Dabei sind diese viel existentieller. Die möchte man nachempfinden, sich zu eigen machen.

»Warum ich nicht weggehe? Weil ich hier lebe … hier fühle, mich hier … verliebe.«

Rennt nicht weg! Verliebt euch!

An der Passkontrolle des Moskauer Flughafens Scheremetjewo. Wir kehren gerade nach Russland zurück. Der junge Grenzer nimmt meinen Pass, tippt was in den Computer, nimmt noch mal meinen Pass, schaut ganz genau. Greift zum Hörer. Fragt:

»Tolokonnikowa, Nadja Andrejewna. Durchlassen?«

Hört die Anweisungen, nickt. Drückt mir einen Stempel in den Pass, lässt mich durch.

Mascha ist die Nächste. Der Grenzer hämmert ihre Daten in den Computer und holt tief Luft.

»Junge Frau, was macht man mit Ihnen an der Grenze denn sonst so?«

»???«

»Na, wenn Sie an die Passkontrolle kommen und da sitzt so ein junger Kerl wie ich – was macht der? Ruft der seinen Vorgesetzten an?«

»Bin ich, ehrlich gesagt, überfragt. Was denn, ist es so schlimm?« Mascha nickt Richtung Computer.

»Na ja, könnte schlimmer sein, aber gut ist anders.«

4.

Wovon man mich nicht alles abhalten wollte: Tu dies nicht, rede mit dem nicht, geh dort nicht hin. Bitte keine Aktionen. Lieder auch nicht. Nur angemessene Fotos. Was immer ich mir ausdenke, ist zu dreist, zu provokativ.

Ich wähle das Handeln. Ab und zu kriege ich dafür eins auf die Nuss – alles hat seinen Preis. Entscheide dich. Bete nicht. Hör auf dein Inneres. Lebe.

»Der Feminismus ist in Russland nicht organisch gewachsen, er entbehrt hier jeder Grundlage. Der Feminismus zielt darauf ab, die Grundfesten des Christentums zu zerstören. Der Feminismus versucht, die Frau mit dem Mann auf eine Stufe zu stellen, sie ihrer weiblichen Vorzüge zu berauben. Die Frau wird dem Mann weggenommen. Der Feminismus zerstört die Familie. Besondere Rechte für Männer, Frauen und Kinder zerstören die Familie. Wir als Getaufte müssen den Feminismus als Gift betrachten, das, wenn es in das Bewusstsein der Gesellschaft und der Familie eindringt, den Menschen unglücklich macht.«

(Erzpriester Dmitri Smirnow, populärer Sprecher der russisch-orthodoxen Kirche)

Wir hatten schon immer eine Vorliebe für YouTube-Filmchen mit dem Erzpriester Smirnow. Er war unsere Sonne, einer derjenigen, die uns zu Pussy Riot inspirierten. Wir lagen unterm Tisch, wenn wir seine Auftritte anschauten – und wie wir so herunterkugelten, kam uns die Idee, eine feministische Punk-Band zu gründen.

5.

Eine Frage an Pussy Riot liegt auf der Hand:

»Was zum Teufel macht ihr Mädels da? Warum sitzt ihr nicht einfach auf dem Sofa und trinkt Bier?«

Was zwingt uns zu handeln? Die Tatsache, dass die wichtigsten politischen Institutionen unseres Landes Sicherheitsorgane, Armee, Polizei, Geheimdienste und Gefängnisse sind. Und ein durchgedrehter Möchtegern-Superheld, der halbnackt auf Pferden reitet und vor nichts und niemandem Angst hat, außer vor Homosexuellen. Ein Mann, der so großzügig ist, dass er das halbe Land an seine engsten Freunde verschenkt hat – die Oligarchen.

Erst wenn wir gemeinsam handeln, können wir andere Institutionen etablieren.

Anfang 2012. Wir tragen Sturmhauben und reden mit Journalisten. Niemand hat je unsere Gesichter gesehen. Die Strumpfhosen jucken an den Beinen. Die Wolle dringt in Mund und Augen. Die Sturmhauben sind mit der Nudelsauce und der Pizza verschmiert, die wir während des Interviews essen, ab und zu gibt es Brandlöcher, weil wir rauchen.

6.

Macht haben nicht diejenigen, die über Posten und Gefangenentransporter verfügen, sondern diejenigen, die ihre Angst überwinden. Es ist ganz einfach: Hab keine Angst.

Als der Staat beschloss, uns zu verhaften, waren wir keine professionellen Politikerinnen, Revolutionärinnen oder Mitglieder einer Untergrundorganisation. Wir waren Aktivistinnen und Künstlerinnen. Ein wenig naiv und offenherzig, wie das bei Künstlern eben vorkommt.

Im Moment unserer Verhaftung ähnelten wir eher den Helden bei Woody Allen als einer Salt oder einer Lara Croft. Wir lachten eher über unsere Verfolger, als dass wir Angst vor ihnen hatten. Wir prusteten los bei dem Gedanken an die Absurdität der Situation, während eine Heerschar gut ausgebildeter, vom Staat bezahlter Schnüffler einer Gruppe von Prankstern und Freaks mit absurden grellen Mützen überm Gesicht hinterherjagtе.

Wir – die fünf Teilnehmerinnen des Punk-Gebets – saßen da, unsere Rucksäcke umschlungen, tranken Kaffee und gewöhnten uns allmählich an den Gedanken, dass jeder Schluck der letzte in Freiheit sein könnte.

7.

»Verfahren Nr. 17.780, Ermittlungsbehörde des Ministeriums für Innere Angelegenheiten (OMWD) Russlands im Bezirk Chamowniki, 24. Februar 2012:

Sicherungsmaßnahmen ohne Inhaftnahme können die Einhaltung der von der Strafprozessordnung auferlegten Verpflichtungen der Beschuldigten nicht garantieren, sie ermöglichen der Angeklagten Tolokonnikowa unterzutauchen, die Durchführung ihres Verfahrens zu behindern und die Tätigkeit fortzusetzen, auf deren Grundlage das vorliegende Strafverfahren eingeleitet wurde.«

(aus den Unterlagen im Strafprozess gegen Pussy Riot)

Damit du keine weiteren Aktionen startest (deine »kriminelle Tätigkeit nicht fortsetzt«, wie sie es nennen), sperren sie dich hinter Gitter. Mach trotzdem weiter mit deinen Aktionen. Auch im Gefängnis.

Mein Mann Petja und ich verließen das Haus, um ein Geschenk für unsere Tochter Gera auszusuchen – am nächsten Tag, dem 4. März, war ihr Geburtstag. Wir hatten zu dem Zeitpunkt schon eine kleine Spielzeug-Dachsfamilie zusammen – Mama, Papa, Tochter, Sohn. Jetzt brauchten wir für die noch Möbel, eine Küche und eine Igelfamilie als Freunde.

»Stehenbleiben!« An den Glastüren der Metrostation Begowaja stürzen sich zehn Männer auf mich und Petja. In Zivil.

Petja schleudern sie mit Gewalt an die Wand.

»Du Sackratte, hierher!« Sie zerren mich weg.

Wir werden in die Zelle eines Polizeistützpunkts gedrängt. Die Zivilbullen wedeln mit Pappen des Moskauer Fahndungsdienstes. Sie sind an die zwei Meter groß, tragen Trainingsanzüge und Fake-Adidas.

Ich reiße die Seite mit dem Passwort des Pussy-Riot-Postfachs aus meinem Notizbuch, zerknülle sie und schlucke sie runter. Das Papier bleibt mir im Hals stecken.

»Kann ich Wasser haben?«, frage ich.

»Du Nutte hast es nicht verdient, gut behandelt zu werden!«, antwortet der Bulle.

Als Antwort ziehe ich die Kapuze über und lege mich auf die Bank im Polizeistützpunkt. Der Gedanke an eine Unterhaltung mit diesen Fahndungsleuten ist nicht gerade erfreulich. Mir steht ein langer Weg bevor, ich muss Kräfte sammeln.

»Gewöhn dich dran zu sitzen, Schlampe!« Ein anderer, ebenfalls im Trainingsanzug, packt mich und reißt mich hoch.

»Sie benehmen sich echt merkwürdig. Na gut, ich les ein bisschen«, entgegne ich und hole ein Buch raus.

Petja schafft es, mit dem Anwalt zu telefonieren. Fünf Sekunden. Die Fahndungsfuzzis sind wütend, dass sie nicht aufgepasst haben, nehmen das Telefon und zerlegen es in Einzelteile.

»Fuck, die tut so, als würde sie lesen«, der Fahnder nickt böse grinsend in meine Richtung.

»Ich lese, wie ich das immer mache«, sage ich lächelnd und rücke das gepunktete Haarband zurecht.

8.

»Feminismus und Feministin sind obszöne Schimpfwörter«, sagte Beloglasow, ein Wärter der Christ-Erlöser-Kathedrale und einer der »Geschädigten«, beim Prozess gegen Pussy Riot.

Wenn das so ist, dann fluche, sooft es geht. Schimpfe und sei unanständig.

Früher konnte ich keine Liegestütze machen wie Männer, mit der Brust bis auf den Boden. Im Gefängnis habe ich es gelernt. Ich verausgabe mich auf den Spaziergängen mit Hunderten von Übungen. Und dann gehe ich in die Sporthalle, schnappe mir Hanteln, irgendwelche Sportgeräte und zeige anderen, wie man boxt oder wie man sich beim Ringen abrollt.

9.

Journalist: »Eine letzte Frage: Was bedauern Sie in Ihrem Leben am meisten? Was, denken Sie, war ein Fehler, den Sie nie wiederholen möchten?«

Wladimir Putin: »Ich will ganz offen mit Ihnen sein: Ich kann Ihnen da nichts nennen. Offensichtlich hat Gott mein Leben so gelenkt, dass ich nichts bereuen muss.«

Antwort: »Sie sind ein glücklicher Mensch.«

Wladimir Putin: »Dem Herrn sei gedankt.«

Der Staat – das sind einfach Beamte, Bürogehilfen, die wir bezahlen. Keine Herren. Nur Gehilfen. Beamte sollten gewissenhaft und bescheiden sein, bereit, jederzeit Rechenschaft abzulegen. Wenn ein Beamter das nicht tut – auf Wiedersehen! Wir finden einen anderen.

Ich stehe mit Mühe auf und gehe pinkeln. Ich habe monströsen Hunger. Mein Magen träumt von Essen und infiziert damit mein Gehirn.

Der erste Tag im Gefängnis.

Die Toilette: ein stinkendes Loch im Boden, aus irgendeinem Grund auf einem gekachelten Sockel. An der Decke, direkt über dem Loch, hängt eine Überwachungskamera. Gute Unterhaltung, Schweine! Ich lasse die Hosen runter und hocke mich hin.

»Frühstück! Frühstück!« Lärmend klappt die Luke in der Gefängnistür auf. »Hier, das Frühstück!«

»Ich will keins.«

»Trotzdem, hier.«

»Ich will nicht. Ich bin im Hungerstreik.«

»Und gehst du wählen?«

»Ja, klar.« Plötzlich werde ich munter.

»Dann fertigmachen, anziehen, Bett machen.«

Eine halbe Stunde später ist die Nachricht, dass ich im Hungerstreik bin, beim Chef der Isolationshaft angekommen, und man zerrt mich zu ihm. Gleich nachdem ich wählen war.

»Hör mir bloß auf mit dem Theater. Nimm deine Erklärung wieder mit, ich werde eh nicht unterschreiben.« Der Chef macht keinen Hehl daraus, dass er von meinem Hungerstreik genervt ist.

»Die Erklärung müssen Sie annehmen. Und ich bleibe im Hungerstreik.«

»Dir ist schon klar, dass das alles keinen Zweck hat?«

»Meine Entscheidung steht.«

»Ist dir wenigstens klar, wie du dich hier aufführst, ja?«

»Wie denn?«

»Wie so eine, na, so ’ne Revoluzzerin.«

»Das ist sehr schmeichelhaft.«

»Also, wollen wir jetzt essen?«

»Nein.«

Man bringt mich zurück in die Zelle. Beißend grelles Licht und der Gestank nach ungeputztem Klo.

10.

Jede deiner Gesten bedeutet etwas, auch wenn du dir das nicht vorstellen kannst. Mit jeder Geste setzt du Normen. Keine Entscheidung, die du fällst, fällst du ausschließlich für dich.

»Während Ihres Prozesses war ich fast jeden Tag im Gericht Chamowniki. Ich denke immer wieder an die Richterin Syrowa. Denken Sie oft an sie?«, fragt mich eine Journalistin. Sie ist eigens in die Strafkolonie gekommen, um mich zu interviewen.

Ich bin zum Umfallen müde – seit Tagen haben wir uns auf den Besuch der Journalistin vorbereitet. Das Lager geschrubbt, die Böden gewichst, die Leisten lackiert, Metallstockbetten von einer Baracke in die nächste geschleppt.

»Nein, nie. Die Richterin ist für mich ein graues Nichts.« Ich zucke mit den Schultern.

»Hören Sie mal, dieses graue Nichts hat Ihnen zwei Jahre aufgebrummt.«

»Ist doch nicht schlimm.«

»Aber dieses Nichts ist in Freiheit, und Sie sind hier!« Vor Empörung springt die Journalistin auf.

»Jesus ist sogar gestorben.«

Schweigen.

»Wollen Sie Präsident Putin etwas sagen?«

»Eigentlich nicht. Ehrlich gesagt, ist der Luft für mich.«

1
WIE MAN OHNE PHALLUS
IN EINER PHALLOZENTRISCHEN
WELT ÜBERLEBT

11.

Empowering people.

»Die Sorokina pisst, als hätte sie einen Schwanz«, raunen die Näherinnen der mordwinischen Strafkolonie einander bei der Arbeit zu.

Ich wusste von Sorokina nur, dass sie sich durch die halbe Kolonie gefickt hat. In mir ruft so etwas eine Flut übermenschlicher Zärtlichkeit hervor.

»Ja?«

»Ja.«

12.

Erleuchtung kommt nicht einfach so. Aber du kannst dein Bündel schnüren und dich auf den Weg machen in der Hoffnung auf Entdeckungen, Abenteuer und Schätze.

Und wenn die Erleuchtung über dich gekommen ist, gib dich ihr hin.

»Ninka kommt zu mir und sagt: ›Komm, wollen wir zusammen fallen?‹«, erzählt mir Natascha überschwänglich über Nina Sorokina, die Lesbe Nummer 1 in unserem Lager.

Ich nähe und sitze dabei gegenüber von Natascha – geschwätzig, aalglatt und eifrig ist sie. Die schnellste Näherin am Band. Alle gehen gerne mit Natascha in die Banja, denn sie ist dünn und hat dabei große Brüste. Wie auf den Bildchen. Alle schauen und staunen: Wie, gibt es das echt auch in Wirklichkeit, wie auf den Bildchen?

»›Fallen?‹«, frage ich nach.

»Fallen, fallen. Wie? Weißt du etwa nicht, was das heißt? Zum Ficken hat sie mich aufgefordert. Im Kabuff.«

»Haha, cool ist die, eure Ninka. Und du, hast du etwa abgelehnt?«

»Natürlich.«

»Scheiße noch mal, wieso denn?«

13.

You have questions. We have Pussy Riot.

»Die Sorokina darf sich nicht in die Finger nähen.«

»Warum nicht?«

»Weil die Hand ihr wichtigster Körperteil ist.«

»Ja?«

»Klar, die ist ihr Schwanz.«

Der hat’s euch wohl angetan, liebe Frauen, dieser Schwanz. Macht es euch echt so viel Spaß, ihn selbst dort zu sehen, wo keiner ist?

Ihr sagt: den Phallozentrismus dekonstruieren. Von wegen. Völlig überdekonstruiert.

14.

Lies keine Nachrichten, mach sie.

Zu dem Vortrag über feministischen Punk am 30. September 2011, mit dem die Geschichte der Gruppe Pussy Riot begann, druckten wir eine Zwei-Meter-Kopie von Lynda Benglis’ Artforum Advertisement1 aus.

Die Arbeit von Benglis ist ein bizarrer Mix prälogischer, irrationaler, totemischer Stereotypen: 1) Frau, weibliche Sexualität, Mutter-Frau, Brust, Amme und 2) Phallus, Phallozentrismus, männliches Prinzip, Härte, Druck, Aggressivität.

Das Thema der Verbindung von weiblicher und männlicher Identität in einem Menschen, dem Benglis in ihrer Arbeit nachgeht, ist genau das, was mich Jahr um Jahr dazu zwingt, Gender-Theorie zu betreiben, Traditionen des Feminismus zu erforschen, Platons Symposion zu lesen und ein androgynes Wesen zu sein.

15.

»Wenn du Schilderungen von Liebe als Krankheit liest, denkst du: ›Fuck, was für rosa Rotz mit Mayonnaise, was heißt hier Krankheit, das ist doch ganz normale Ergebenheit, die aus einer Mischung unterschiedlicher Wünsche resultiert.‹ Aber wenn du zwei Wochen ununterbrochen an dieser Krankheit leidest, dann wird dir klar, wie sehr einen dieser Scheiß in Beschlag nimmt.«

(Petja Wersilow, Politiker und Künstler)

Der Scheiß verwandelt dich. Hege ihn.

Sorokina nimmt zwei Zigaretten aus der Packung, steckt beide zwischen die Lippen und zündet sie an. Hält mir eine angesteckt hin, die zweite behält sie. Sie hat ein graues Daunentuch mit voluminösem Flaum um und ähnelt damit wegen ihrer großen Nase einem Adler, der noch nicht flügge ist. Das Tuch hat Nina von einer Frau, die in sie verliebt ist. Ich nenne sie nicht Nina: Die, die ich will, verlieren für mich ihren Namen.

Neun Uhr abends, in den Dörfern Mordwiniens wird es Nacht. Keine Kühe, die muhen. Keine Pferdewagen mit Sauerkrautfässern.

Gegenüber bei den Mechanikern brennt das Licht. Dorthin schickt man die inhaftierten Frauen, wenn es diese sehr stark nach körperlicher Nähe verlangt. »Es wird Zeit für die Mechaniker«, heißt es dann. Vier Kerle arbeiten da, alle vier Alkoholiker. Der Gang zum Mechaniker endet für so manche mit einer Entbindung im mordwinischen Lagerkrankenhaus Baraschewo.

Rund um die Nähhallen ist es leer. Keine Menschenseele. Zu dieser Uhrzeit darf man die Halle nicht verlassen. Wir haben sie verlassen. Spazieren, rauchen.

Sorokina lebt an meiner Seite auf. Frauen zu verführen und sich in sie zu verlieben – das ist das Lebenswerte, was sie in ihren neun Jahren hier in der Kolonie gefunden hat. Und ich lerne begeistert und dankbar ihre Methode, Tod und Langeweile zu überwinden.

Hinter dem schlappen Lagerzaun aus verfaultem Holz liegen schwarzer Wald und Sumpf. Neun Jahre. Neun Jahre hinter einem verfaulten Zaun.

Aber mir ist hinter diesem Zaun gerade nicht langweilig.

16.

»Seiner Kenntnis nach habe Tolokonnikowa seine Tochter in die sogenannte feministische Bewegung hineingezogen. Aus gegebenem Anlass habe er mehrmals ausdrücklich die Idee des Feminismus in Russland verurteilt, weil diese Bewegung seiner Meinung nach nicht der russischen Zivilisation entspreche, die sich von der westlichen unterscheide.«

(aus dem Urteil im Verfahren gegen Pussy Riot)

Think big.

»Warum hältst du mir eigentlich die Tür auf?«, stichele ich, als Sorokina und ich aus der Halle in das feuchte Märzschneetreiben treten. »Wann hast du zum ersten Mal beschlossen, dass du Frauen die Tür aufhalten wirst?«

»Weiß nicht mehr«, winkt sie ab.

Das Ergebnis meiner Gender-Diskussionen mit Sorokina ist so dürftig, wie wenn du einen Mann beim ersten Date fragst, warum verdammt noch mal er Blumen angeschleppt hat. Er hat sie angeschleppt und gut is. Hätte auch keine anschleppen können. Ist ihm doch scheißegal.

17.

»Jegliche Pionierarbeit ist theatralisch.«

(Alexandra Kollontai, die leidenschaftlichste Feministin der frühen Sowjetzeit)

Lebe so, dass dein Leben ein Filmplot werden könnte.

Ich werde in die operative Aufsichtsabteilung zitiert.

»Du hast Zeitschriften geschickt bekommen, aber ich gebe sie dir nicht.«

»Warum nicht?«

»Es handelt sich um Homosexuellenpropaganda«, antwortet die Aufsichtsfrau scharf, kritzelt auf das Regenbogen-Cover meiner Zeitschrift »S C H W U C H T E L N« und legt sie zur Seite. »Tolokonnikowa, ist dir eigentlich bewusst, dass im Lager nicht nur die Theorie von Homosexualität, sondern auch die Praxis verboten ist?«

Die Dialektik von Theorie und Praxis.

18.

Im Iran sind 27 Prozent der Parlamentsmitglieder Frauen, in Russland 11 Prozent. Wir liegen nur vor den ärmsten Ländern Afrikas und vor der arabischen Welt, in der gesetzliche und religiöse Verbote politischer oder gesellschaftlicher Tätigkeit von Frauen gelten. Zudem zeigen Umfragen, dass jeder vierte Bürger Russlands denkt, in der Politik sei kein Platz für Frauen oder dass man ihre Zahl senken sollte.

No fun, baby, no fun.

Der zweite Tag in der Werkhalle. Slata bringt mir Nähen bei.

Slata sitzt seit acht Jahren. Kam als Jugendliche. Im Lager wurde sie zum Jungen. Talent, Veranlagung, aufgewachsen auf der Straße – ein Wildfang, der durch Oberfenster in Wohnungen einstieg. Schwarze Haare, Raucherstimme, lange Wimpern. Beine, Grazie, Größe, Figur. Und – ohne jede weibliche Affektiertheit: ein jungenhafter, aggressiver Drang und die Fähigkeit, sich zu nehmen, was man will.

Slata ist so geworden, wie ich immer sein wollte, aber nicht konnte.

19.

Mit dem Aufstellen von Regeln, nach denen ihr heute einvernehmlich in einer Bar Mädchen aufreißt (und sie euch), hat sich George Sand ihr Leben lang beschäftigt. Und ist dabei erstickt unter einer Lawine von Vorwürfen wegen Unmoral. Das war ein verflucht gutes Leben, denn Leben beginnt da, wo es Kampf und Überwindung gibt.

Expanding possibilities.

Wir trinken löslichen Kaffee – den stärksten löslichen Kaffee, der mir je untergekommen ist. Kaffee so stark wie Absinth. Später lerne ich im Lager, selbst solchen Kaffee zu machen – jeden Morgen. Slata teilt mit mir ihre leckeren Schokoriegel, und ich ziehe aus den Socken Bounty und Snickers, die ich trotz Filzen durchs Tor des Industriegeländes geschmuggelt habe.

»Du lernst schnell.« Slata lacht. Sie schämt sich für ihre Zähne, wegen der Lücken, und möchte sich neue machen lassen, wenn sie rauskommt. Aber ich finde, dass die Lücken ihre Verwegenheit unterstreichen, und das ist gut.

Ich rede wenig, habe Angst vor meinen Worten. Die sind für ein Gespräch mit Slata irgendwie zu glatt, zu gebildet. Meine Sprache und ihre – das ist wie totes Latein im Vergleich zu lebendigem Italienisch. Slata wird, wenn sie mir zuhört, verlegen ob ihrer Sprache, die ihr schlicht und vulgär vorkommt. Aber ich finde, dass in Slatas Sprache viel mehr Leben steckt als in meiner. Mehr Nuancen und Schattierungen. Hier entscheidet die Betonung: Ein und dasselbe Wort kann, unterschiedlich betont, völlig Unterschiedliches meinen. Wie im Chinesischen.

Sie hat acht Jahre abgesessen und will auf Bewährung früher raus. Sie bindet sich ein weißes Kopftuch um, wenn die Aufseherin kommt, und sagt: »Guten Tag.« Dabei ist sie eigentlich ein Raubtier, muss wild tanzen, spielen, Leute anpöbeln – Miley Cyrus wird dafür mit Liebe und Millionen Dollar bezahlt, Slata verschwendet ihre Grazie an Mordwinien.

20.

»Als was sieht die orthodoxe Kirche den Feminismus?

Als weitere Schwachsinnsidee des westlichen Bewusstseins.«

(Haltung der russisch-orthodoxen Kirche zum Feminismus)

Geh hin und schrei ihnen ins Ohr: »Was ist das für ein verfickter sexistischer Schwachsinn?«

Slata bekommt öfter mal Besuch von Vera aus der Nachbarhalle. Vera ist jung und sehr weiblich: Langes dichtes blondes Haar, mädchenhaftes Benehmen, schlank, Körbchengröße C. Vera setzt sich mit einem Plastikbecher Kaffee hin und betrachtet Slata stundenlang. Später erzählt mir Vera, dass sie sich in ihren sechs Jahren Strafkolonie nie in jemanden verliebt hat, aber das ist gelogen.

Slata gefallen so kleine Mädchen wie Vera nicht. Ihr gefallen die, mit denen man ordentlich rummachen kann. Manchmal hat Slata schnellen, wilden Sex mit Lisa, einer erfahrenen Insassin aus einer anderen Halle. Lisa hat rotblond-verbranntes lockiges Haar, eine raue Stimme und den unverschämtesten Blick im ganzen Lager. Und wenn Slatas fester Freundin Katja, unserer Truppenältesten, Gerüchte über diese Treffen zu Ohren kommen, dann knallt’s. Dann fliegen Geschirr, Bänke, Blumentöpfe.

21.

Have you forgotten how good a riot tastes?

Heute Nacht kam es in Moskau zur Rache am tausendjährigen Patriarchat. In der Villa eines Aristokraten aus dem vorigen Jahrhundert. Laute Musik. Menschenmassen. Drei Uhr morgens.

Eine Schlange vor der Männertoilette, vor der Frauentoilette KEINE SCHLANGE, ein junger Kerl kann’s nicht mehr verdrücken und kommt zu uns ins Frauenklo. »Entschuldigung«, sagt er zu mir und geht in die Kabine. Wie oft ging es mir wie ihm! Und erst heute Nacht geschah das WUNDER.

22.

Was die Kleidungsfrage angeht, sind Frauen freier als Männer. Über eine Frau im Anzug wundert sich heute wohl niemand mehr, während ein Mann im Kleid oder Rock zumindest ein Schmunzeln hervorruft, doch in einigen Ländern ist es möglich, dass man ihn dafür umbringt. So auch in Russland.

Für das 21. Jahrhundert steht an, den Männern in Bezug auf Kleidung und Kosmetik mindestens so viele Freiheiten zuzugestehen wie den Frauen.

Slata fängt Sorokina und mich mit ihrem Blick ein und schaut uns lange hinterher, als wir zu meiner Nähmaschine gehen. Sorokina läuft betont gewichtigen, fließenden Schrittes mit stolz erhobenem Kopf und setzt die Füße beim Gehen breit auseinander. Wie ein Kerl. Wie Slata trägt sie das Kopftuch im Gangsterstil: Die Enden nicht vorn zusammengebunden wie Aljonka auf der Schokoladenpackung, sondern hinten wie Jack Sparrow und Konsorten. Slata ist die Liebste der Truppenältesten und Sorokina die Meisterin der Nachbarbrigade: Beider Status garantiert Protektion.

Fünf Minuten vorher war ich durch die gesamte Halle getigert auf der Suche nach jemandem, der mir den Motor repariert. Alle lehnten ab, angekotzt von den ewigen Pannen. Zehn Leute hatten mir gleich gesagt, ich solle mich verpissen. Sorokina aber bot von sich aus an zu helfen. Also gingen wir den Motor reparieren.

Sorokina riecht stark nach einfachem Männerparfüm. Parfüm ist im Lager verboten – es enthält Alkohol. Aber gegen viel Geld kann man es aus zuverlässigen Quellen bekommen. Es ist schwieriger als draußen mit den Drogen.

23.

Und Gott schuf die Feministin.

Im Knast ist die Teilnahme an Schönheitswettbewerben Pflicht. Wenn du nicht teilnimmst, wirst du nicht vorzeitig entlassen. Nimmst du nicht an der Wahl zur Miss Liebreiz teil, gibt es einen Vermerk in deiner Akte: »… verfügt über keine aktive Lebenseinstellung.« Ich habe den Wettbewerb boykottiert. Und deswegen hat das Gefängnis entschieden, dass ICH ÜBER KEINE AKTIVE LEBENSEINSTELLUNG VERFÜGE. Aufgrund meiner Nichtteilnahme am Schönheitswettbewerb hat mir das Gericht eine vorzeitige Entlassung verweigert.

Das Lager war auch der Ansicht, dass Slata nicht für eine vorzeitige Entlassung bereit ist, solange sie bei Gefängniskonzerten keine hohen Hacken trägt. Ohne Absatzschuhe auf der Bühne, das ist nach Meinung der Lagerleitung zu männlich. Eine Frau muss Absätze tragen. Slata wurde die vorzeitige Entlassung erst gewährt, nachdem sie ein Jahr lang bei Auftritten Absätze getragen und damit ihre Loyalität gegenüber dem weiblichen Regime unter Beweis gestellt hatte.

24.

Als ich zehn war, gestand ich einem Klassenkameraden, dass ich Feministin bin. Er antwortete: »In ein paar Jahren wirst du aufhören, Männer zu hassen, dann fängst du an, sie zu mögen, und hast keine Lust mehr auf Feminismus.« Am liebsten hätte er mich wohl beschimpft, aber das ging nicht: Er schrieb immer die Hausaufgaben von mir ab.

Wenn du Sexist bist, schreib nicht von dummen Tussen ab.

Das erste Lied von Pussy Riot, Oktober 2011:

Töte den Sexisten