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Stefanie Bisping

Lesereise Apulien

Über die Autorin

Stefanie Bisping studierte in Münster und Reading (England) Anglistik, Germanistik und Politikwissenschaft. Heute schreibt sie Reisereportagen für verschiedene Medien in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Im Picus Verlag erschienen ihre Lesereisen Estland, Malediven, Emilia Roma-gna, Normandie und Bretagne. 2015 erhielt sie den deutsch-italienischen Journalistenpreis »Cinque Stelle al Giornalismo«.

www.stefanie-bisping.de

Stefanie Bisping

Lesereise Apulien

Die Magie des Mezzogiorno

Picus Verlag Wien

Für Julius

Copyright © 2016 Picus Verlag Ges.m.b.H., Wien
Alle Rechte vorbehalten
Grafische Gestaltung: Dorothea Löcker, Wien
Umschlagabbildung: © age fotostock/LOOK-foto
ISBN 978-3-7117-1062-8
eISBN 978-3-7117-5311-3


Inhalt

Das Paradies im Olivenhain

Über Jahrhunderte kaum veränderte Landschaft und uralte Städtchen machen Apulien zu einer der schönsten Regionen Italiens

Otranto und die Magie des Mezzogiorno

Meer, Mondschein, Mosaiken: Vom Wesen des Südens

Schokolade im Haar, Mehl an den Händen

Eltern erlaubt: Wenn große und kleine Gäste auf einem apulischen Gutshof zusammen kochen

Der Retter des Granatapfels

Paolo Belloni hat es sich zur Aufgabe gemacht, vergessene Arten zu bewahren

Der Esel am Bett

Die Felshöhlen von Matera waren einst der »Schandfleck Italiens«. Heute sind sie UNESCO-Weltkulturerbe

Öl auf meiner Haut

Vom Haus- zum Allheilmittel: Olivenöl ist nicht nur bei innerlicher Einnahme gesund

Krippen und Paläste

An hohen kirchlichen Feiertagen streift sich Lecce ein Gewand aus Pappmaschee über

Hummer mit Grapefruit

Unser heutiges Brot gib uns täglich: Von den Lockungen der ländlichen Küche Apuliens

Hochzeit am Hafen

Zwischen Raub und Rettung: Bari, die zweitgrößte Stadt des italienischen Südens, ist zur Heimat des Nikolaus geworden ...

Der Tanz der Spinnenfrauen

Am Tag des Apostels Paulus pilgerten einst von der Tarantel gebissene Frauen ins salentinische Städtchen Galatina

Piraten vor dem Festungsturm

Höchstes Glück im tiefen Süden: Das ländliche Apulien ist für Kinder ein Abenteuerland ohne Zäune

Felsküste, Feigenkakteen und die Macht des Meeres

Land zwischen Leuchttürmen: Unterwegs an der Küste des Salento

Die beste »focaccia« der Welt

Ewig währt die Zeit nur in der Jugend: Bari, Lecce und das Salento funkeln auch in der Literatur

Gefahr für den Silberwald

Was geschieht mit den Olivenbäumen des Salento? Ein Bakterium bedroht den größten Schatz Apuliens

Das Paradies im Olivenhain

Über Jahrhunderte kaum veränderte Landschaft und uralte Städtchen machen Apulien zu einer der schönsten Regionen Italiens

Jeden Tag knetet Giovanni sechshundert Kugeln mozzarella. Wie im Schlaf vollführt der junge Mann jeden Handgriff: Er greift die Masse aus der Molke, taucht sie in heißes Wasser, zieht sie in Form und knetet sie zu Kugeln. Vorn im Laden bedient seine Mutter Tonia die Kunden. Mit leichter Hand verknotet Giovanni die Käsekugeln, Signora Tonia schneidet unterdessen eine burrata zum Probieren auf. Im Inneren dieses Frischkäses verbirgt sich eine unwiderstehliche Creme aus Sahne und mozzarella.

Früher verkauften Tonia und ihr Mann die Milch ihrer Kühe an Fabriken. Doch die Preise sanken, bis das Geschäft nicht mehr rentabel war. Also beschlossen sie, die Milch selbst zu mozzarella und burrata zu verarbeiten. Seit fünfzehn Jahren betreiben sie bei Fasano, etwa auf halber Strecke zwischen Bari und Brindisi, eine der wenigen traditionellen Käsereien, die es in der Gegend noch gibt.

Die Landschaft der Umgebung ist so außerordentlich schön, dass man sie so langsam genießen muss wie die kulinarischen Höhepunkte, die die Region im Südosten Italiens hervorbringt: den köstlichen Käse, wuchtige Rot- und spritzige Weißweine, aromatisches Olivenöl, das man löffelweise zu sich nehmen möchte. Bis zu tausend Jahre alt sind die Olivenbäume mit den gewaltigen verknoteten Stämmen, die Hügel bewachen und die Ebene bewalden. Aus den Früchten dieser Bäume wird die Hälfte allen italienischen Olivenöls gewonnen. Auf den Feldern zwischen den Olivenhainen wachsen aber auch Weizen, Sellerie, Spinat, Fenchel und Kohl – dank ausgeklügelter Bewässerungssysteme blüht die Landwirtschaft in der Gegend, die schon im Mittelalter die Kornkammer des Südens bildete.

Noch in den sechziger und siebziger Jahren verließen die Einwohner der desolaten wirtschaftlichen Lage wegen in Scharen ihre Heimat. Und noch heute sehen vor allem Hochschulabsolventen ihre Perspektiven eher im Norden des Landes oder im Ausland. Doch obwohl die Arbeitslosigkeit jenseits der größeren Küstenstädte noch immer hoch ist – im Mittel liegt sie bei gut zwanzig Prozent, unter jungen Leuten bis Anfang dreißig ist sie sogar doppelt so hoch –, kehren heute auch wieder Menschen zurück.

Alessandro zum Beispiel, der in seinen Zwanzigern im italienischen Café eines Vergnügungsparks in Florida mit Trinkgeldern ein kleines Vermögen machte. Seine Kollegen lebten wie die Könige im Sunshine State, erinnert er sich. Sie kauften Schmuck für die Freundin und Kleidung für sich, sie gingen aus, wenn die Dienstpläne es zuließen, sie reisten kreuz und quer durch Amerika.

Alessandro aber hielt sein Geld zusammen. Nach zwei Jahren kam er zurück. Er steckte seine Ersparnisse in einen Bauernhof und gründete eine kleine Reiseagentur. »Ich bin so zufrieden hier«, erklärt er und beschreibt die universelle Anziehungskraft seiner Heimat mit bescheidener Zurückhaltung: »Das Klima ist angenehm, die Menschen sind es auch, und das Essen ist gut.«

Das ist stark untertrieben. Apulien, die Region, die sich über eine Länge von vierhundert Kilometern bis zum Stiefelabsatz erstreckt, ist so anziehend, ihre Bewohner von solcher Herzlichkeit, ihre Landschaften so wenig berührt von allem, was den Menschen im Norden das Leben anstrengend erscheinen lässt, dass nicht wenige Besucher auf der Stelle beschließen, für immer zu bleiben. Oder, da das meist nicht ganz so leicht ist, wie es ab der Hälfte des zweiten Glases tiefroten primitivos erscheint, doch wenigstens ganz oft wiederzukommen.

Sechzig Millionen Olivenbäume tauchen die urwüchsige Landschaft in silbriges Grün und zeugen von der langen Kultivierung Apuliens. Viele der Bäume standen immer schon hier – oder doch wenigstens so lange, dass man sie bestaunen möchte wie sakrale Bauten aus längst vergangenen Jahrhunderten. Tatsächlich werden die ältesten von ihnen, die von Generationen von Bauern zurückgeschnitten, geschält und gestopft wurden, wie Denkmäler geschützt. Sie zu verpflanzen oder gar zu fällen ist per Gesetz verboten.

Die Stunde der Dämmerung scheint sie zum Leben zu erwecken, wenn das schwächer werdende Licht aus ihren Silhouetten in der Bewegung erstarrte Riesen macht und ihre zerfurchten Stämme in Gesichter verwandelt. Fast könnte man dann glauben, dass die Bäume ihr eigenes Leben führen, von dem kein Mensch etwas ahnt.

Das köstliche, kräftige Öl, das aus ihren Früchten hergestellt wird, ist Eckpfeiler einer Küche, die die Reichtümer der Natur nutzt, ohne sie zur Unkenntlichkeit zu verfeinern. Das wäre bei Produkten von solcher Güte auch kontraproduktiv. Denn die unverfälschte, vom Alltag der Bauern und Fischer geprägte Küche bietet ein erstaunliches Spektrum an Aromen und Genüssen.

Neben den Ölbäumen, die so fest in der Erde des Südens verwurzelt sind wie die Menschen, die hier leben, besitzt die Region auch Sehenswertes aus Stein. Am südlichen Ende Italiens beschritten die Menschen beim Hausbau bisweilen unorthodoxe Wege. Eindrücklichstes Beispiel sind die trulli – weiße, runde Häuser, die ihre grauen Dächer wie Zipfelmützen aus lose aufgeschichteten Steinplatten tragen. Die Altstadt Alberobellos, die fast vollständig aus solchen trulli besteht, zählt die UNESCO zum Weltkulturerbe.

Sie wurden im 17. Jahrhundert in großer Zahl hier und in der Umgebung erbaut, als die Anlage dörflicher Siedlungen mit der Zahlung von Steuern an den König einherging. Steuerpflichtig war der örtliche Graf und Lehnsherr, der in der Regel wenig Wert auf solche Verpflichtungen legte. Die fensterlosen Häuschen mit den spitz zulaufenden, ohne Mörtel übereinandergeschichteten Kegeldächern sperrten jedoch nicht nur die sengende Sommersonne aus. Sie erlaubten auch eine flexiblere Regulierung dieser Steuerlast.

Nahte der königliche Finanzbeamte, ließen sich ihre Dächer zum Einstürzen bringen, indem man einen einzigen Stein über dem Eingang aus der Struktur zog. War der Steuereintreiber weitergezogen, ließ sich das Dach des trullo rasch wieder aufbauen. So will es die Überlieferung. Glücklicherweise kam der Finanzbeamte nur unregelmäßig, sodass die Dächer der trulli nicht jedes Jahr in sich zusammenfielen.

Die elftausend Einwohner Alberobellos pflegen das steinerne Erbe mit Liebe und Engagement. So beschlossen sie, sämtliche Antennen und Satellitenschüsseln von den Dächern ihrer trulli zu verbannen, was im fernsehsüchtigen Italien nur dank neuer, weniger sichtbarer Technologien überhaupt durchsetzbar war. Einzig das Rathaus besitzt noch eine Antenne, ansonsten stört nichts die Silhouette dieses eigentümlichen, prachtvollen Ensembles.

Alberobello liegt im Valle d’Itria, das der Zipfelmützenhäuser wegen auch das Tal der trulli genannt wird. Ein Tal im eigentlichen Sinn ist es trotzdem nicht, sondern ein zerklüfteter Teil der Kalkhochebene Murgia. Sie dominiert die Landschaft des mittleren Apuliens und der östlichen Basilikata. Wiesen, aus denen sich hier und da ein Olivenbaum oder ein trullo erhebt, und Hügel formen sich hier zu Landschaftsbildern von geradezu magischer Schönheit. Keine Stromleitungen zerschneiden sie, mancherorts sind nicht mal Straßen zu sehen. Abschnitte der Straße mit dem bedauerlich prosaischen Namen 172 führen unmittelbar am Rand des Hochplateaus entlang, bevor diese sich in die vierhundert Meter tiefer gelegene Küstenebene absenkt. Zuvor beeinträchtigen die Ausblicke auf dichten Olivenwald, die in einem warmen Ockerton leuchtende Stadt Fasano und das Meer in bedrohlichem Maß die Verkehrssicherheit.

Bis heute ist Apulien weniger wohlhabend als die Regionen Mittel- und Norditaliens. Doch an Traditionen, die in Italien unauflöslich mit Mahlzeiten verbunden sind, und an Produkten, von denen Italiener aus Norden und Süden gleichermaßen schwören, dass von ihrer Qualität alles Gelingen in der Küche und somit auch eine gute Portion Lebensglück abhänge, ist die Region so reich wie der ferne Norden. Mindestens.

Der Lauf der Jahreszeiten ist hier seit ungezählten Generationen von beruhigender Gleichförmigkeit. Wachstum, Reifung und Ernte der Oliven weisen den Weg durchs Jahr wie ein immerwährender Kalender. Im Herbst beginnt die Olivenernte. Sie erfordert Ruhe und Zeit. Im Oktober reinigen die Bauern den Boden rund um die Bäume von Gras und Blättern und breiten die Netze aus, in denen im November die vorsichtig vom Baum geschüttelten Früchte gesammelt werden. Zunächst sind sie grün, dann lila, schließlich werden sie schwarz. Doch der ideale Erntezeitpunkt ist dann gekommen, wenn die Farbe zu violett wechselt. Die grünen Oliven im Glas sind unreif geerntete Früchte.

Die Bauern legen die Netze auch deshalb unter den Bäumen aus, weil sie nicht eine einzige Frucht verlieren wollen. Zur Ernte setzen sie Maschinen ein, die am Stamm rütteln; ein Schirm fängt die Oliven auf. Doch es wird auch von Hand geerntet – dort, wo besonders hochwertiges Öl hergestellt wird, wo die Bäume sich in Hanglage befinden oder sie so alt und knorrig sind, dass Maschinen an ihnen nichts ausrichten können.

Siebzig Euro verdienen die Olivenpflücker am Tag, die auf Leitern stehend mit Plastikkämmen die Früchte von den Ästen holen. Auch vorsichtiges Schütteln der Äste ist erlaubt. Fallen die Früchte hingegen von selbst zu Boden, können sie brechen oder aufplatzen und sind Regen und Witterung ausgesetzt. Die Verletzung der Frucht setzt zudem den Gärungsprozess in Gang. Durch ihn entwickeln Oliven Säure, was sich auf die Qualität des Öls auswirkt.

Deshalb wird, um das beste Öl zu erhalten, die Ernte auf schnellstem Weg zur Mühle gebracht, wo sie von Zweigen befreit, gewaschen und schließlich verarbeitet wird. Als Faustregel gilt: Von Hand geerntete Früchte, die noch am selben Tag die Mühle erreichen, ergeben das beste Öl. Vom Baum essen kann man Oliven nicht. Vierzig Tage müssen Oliven in Salzlake liegen, bis sie genießbar sind. So erklärt es der Verwalter den Besuchern der Masseria Maccarone.

Die Masseria Maccarone besitzt fünfundzwanzigtausend Olivenbäume, von denen achttausend über hundert Jahre alt sind. Das heutige Herrenhaus wurde 1754 erbaut, die Kapelle vier Jahre später, 1780 kam die von Eseln betriebene Olivenmühle hinzu. Noch immer wird hier Öl hergestellt. Heute trennt eine Maschine Schale, Wasser und Öl – das nur fünfzehn Prozent der Frucht ausmacht – voneinander. Die Flaschen, in die das vielfach preisgekrönte Olivenöl abgefüllt wird, etikettiert man indessen noch immer an einem einzigen Arbeitsplatz von Hand.

Masserien wie Maccarone wurden einstmals als Gutshöfe mit zahlreichen Wirtschaftsgebäuden nebst Hauskapelle erbaut. Strahlend weiß verputzt, mit schweren Mauern, die genauso vor Sommerhitze wie vor Angriffen schützten, wirken sie ein wenig, als hätte man sie aus Nordafrika hierher verpflanzt.

Hier lebten die Menschen völlig eigenständig, versorgten sich selbst und waren dazu der Aufsicht eines Großgrundbesitzers enthoben. Denn nur selten war der Hausherr im feudalen Wohnhaus anzutreffen; meist residierte er in der Stadt und ließ sein Land von Verwalter und Bauern bewirtschaften. Die an der Küste gelegene Höfe wurden im 16. und 17. Jahrhundert zur Verteidigung vor vom Meer angreifenden Sarazenen, Seeräubern und anderen marodierenden Horden befestigt; seither besitzen viele einen eigenen Wachturm.

Auch jenseits der masserie erwiesen sich befestigte Türme zur Verteidigung in jenen unruhigen Tagen als nützlich. Von der Gargano-Halbinsel im Norden Apuliens bis zum Capo Santa Maria di Leuca, dem südlichsten Punkt Apuliens am Ionischen Meer, erstreckt sich daher eine alte Verteidigungslinie aus mehr als dreihundert Festungstürmen.

Entdeckte ein Wachtposten von einem der Türme aus herannahende Feinde, wurden umliegende Dörfer durch reitende Boten gewarnt. Die masserie verständigten sich mithilfe von Brieftauben untereinander. Schafften Eindringlinge es tatsächlich an Land, ließen sich Belagerungen in den masserie mit ihren durch Kanalsysteme bewässerten Kräutergärten und ausreichenden Platz für Menschen und Tiere leicht einige Wochen lang überstehen.

Heute werden viele von ihnen touristisch genutzt. Die zu Festungen verstärkten Gutshöfe haben sich in Hotels verwandelt, deren Architektur sie selbst als Sehenswürdigkeiten qualifiziert. Aus Schafställen wurden Schlafzimmer, aus manchem Kuhstall von einst wurde ein Spa oder eine Sauna. Wer heute auf dem Dach eines der alten Wachtürme mit einem Aperol Spritz bewehrt im Lounge-Sessel ruht und den Abendhimmel betrachtet, teilt mit den Wächtern von einst nur mehr die Aussicht. Nicht weniger schön ist es, in einem der alten Gemäuer zu erwachen. Die Fenster öffnen den Blick auf Oliven-, Mandel- und Johannisbrotbäume. Schwalben wirbeln über den Morgenhimmel. Am Horizont leuchtet dunkelblau das Meer.

Otranto und die Magie des Mezzogiorno

Meer, Mondschein, Mosaiken: Vom Wesen des Südens

Antonio Milo fischt seit 1946. Er erinnert sich gut daran, wie es damals war, als er zum ersten Mal aufs Meer hinausfuhr. »Anders«, sagt er und lacht vergnügt. »Ganz anders als heute. Wir sind mit Ruderbooten gefahren. Es war Schwerstarbeit.«

Die Fischer orientierten sich nach dem Wind, dem Mond und den Sternen. Sie mussten das Meer und die Küste genau kennen, wissen, wo das Wasser wie tief ist und wie die Sandverhältnisse sind. Das heutige Fischen sei dagegen ein Kinderspiel. »Es sind viele Dilettanten da draußen unterwegs.«