Inhalt
Einleitung
»Doing Aging« –
Die Macht der Bilder und Gedanken
Der unterschiedliche Blick auf Frauen und Männer
Frauen als Protagonistinnen einer neuen Alterskultur
Die verändernde Kraft innerer Bilder und Vorstellungen
Von der Freiheit der »geschenkten Jahre«
Abhängigkeit und Bezogenheit als Grundbedingungen des Menschseins
Alle Menschen sind von Anfang an abhängig
Bedürftigkeit ist ein menschlicher Normalzustand
Dankbarkeit bereichert das Leben
Bezogenheit ist die Grundlage allen Lebens
Gott gibt es nur in Beziehung – Feministische Theologien des Bezogenseins
Die schwarze Alte in Sagen, Märchen und Mythen
Die alte Göttin als Ratgeberin und Begleiterin
Die Göttin als Verkörperung zyklischer Wandlungsenergien
Holla und Perchta als Wächterinnen der kosmischen und irdischen Ordnung
Die winterliche Gestalt der strengen alten Göttin
Die strahlende und die dunkle Göttin
Großmütterchen Immergrün
»Der Wunsch, verschont zu bleiben,
taugt nicht …«
Persönliche Erfahrungen mit schwerer Krankheit
Krankheit als Auslöser von Reifungsprozessen
Auch starke Frauen dürfen schwach sein
Versehrt und dennoch heil sein
Ein alternatives Verständnis von Krankheit und Gesundheit
Hildegard von Bingen und Teresa von Avila – Ihr Umgang mit Krankheit und Älterwerden
Hildegard von Bingen
Gesundheit und Krankheit im Leben der heilkundigen Äbtissin
Krankheit, Prophetie und Schamanismus
Weibliches Begehren und Gesundheit
Hildegard und die heilige Grünkraft
Das Verständnis von Gesundheit und Krankheit bei Hildegard und ihrer Zeit
Teresa von Avila (1515–1582) – Ein Leben zwischen Aktion und Kontemplation
Teresas Verständnis von weiblicher Stärke und Schwäche
Teresas Umgang mit Krankheit und Alter
Allein leben und verbunden sein
Ältere Frauen gestalten ihr Leben allein und mit anderen
Ein Lob des Alleinseins
Alleinlebende Frauen in der Mythologie und Kulturgeschichte
Schwestern und Freundinnen als wichtigste Altersgefährtinnen
Eine »Älteste« werden – Großmütter verändern die Welt
Die Hüterinnen des Seins in traditionellen Gesellschaften
Träume und Visionen als Kraft der Veränderung
Die neuen Großmütter
Der internationale spirituelle Rat der Großmütter
Der Rat der Großmütter in Deutschland
Rotkäppchen ade – Die Großmütter-Revolution in der Schweiz
Spirituelle Praxis im Kreislauf des Jahres und des Lebens
Spiritualität verändert sich im Älterwerden
Spiritualität ist Verbundensein
Spirituelles Naturerleben und jahreszeitliche Erfahrungen
Naturnahes Leben in der Stadt und spirituelle Gartenpraxis
Tanz und Ritual im Jahreskreis
Gaben und Aufgaben der Jahreskreisfeste Lichtmess und Allerseelen
Hinüberschauen – Im Angesicht der Endlichkeit leben
Heimgehen mit Schwester Tod
Die heilige Odilia als Sterbebegleiterin
Beziehungen sind »Sterbeglück«
Anmerkungen
Einleitung
Die durchschnittliche Lebenserwartung der Menschen in den westlichen Industrieländern ist im Verlauf der letzten Jahrzehnte stark angestiegen und liegt für Frauen nach wie vor um einige Jahre höher als bei Männern. Die entscheidende Veränderung besteht meines Erachtens jedoch nicht darin, dass wir immer älter werden, sondern dass wir wesentlich später alt werden als unsere Großeltern und Urgroßeltern. Mit 60 oder 70 Jahren bezeichnet sich heute kaum jemand als alt. Die meisten Frauen und Männer sind in dieser Phase ihres Lebens noch relativ gesund und aktiv, sie erwarten noch einiges vom Leben und haben noch vieles vor. Und sie fühlen sich Umfragen zufolge um 10 bis 15 Jahre jünger, als ihr Geburtsdatum besagt.
Es sind geschenkte Jahre, zumindest im Vergleich mit der Lebenszeit und den Lebensverhältnissen früherer Generationen. Es sind Jahre voller Chancen und Herausforderungen, Gaben und Aufgaben. Sie stellen uns vor ganz neue Fragen und sie geben uns Raum, sie auf unterschiedlichste Weise zu erleben und zu gestalten.
Die Altersforschung bezeichnet die Zeit zwischen dem 60. und 75. Geburtstag als »Voralter« oder als »junges Alter«. Dementsprechend werden die Menschen dieses Alters heute »Best Ager«, »Silver Ager« oder »Silver Worker« genannt. Laut Statistik hat eine 65-jährige Frau heute noch durchschnittlich zwei Jahrzehnte Lebenszeit vor sich, ein Mann im selben Alter etwa drei bis vier Jahre weniger.
Das war noch vor 50, 60 Jahren ganz anders. Wenn ich Fotografien anschaue, die mich als Schulkind mit meinen beiden, Ende des 19. Jahrhunderts geborenen, Großmüttern zeigen, dann sehe ich zwei Bäuerinnen mit schwarzen Kopftüchern und langen dunklen Röcken, das Gesicht voller Falten, der Körper von schwerer Arbeit gezeichnet, der Rücken gebeugt. Sie kleideten sich bereits als 60-Jährige wie alte Frauen und fühlten sich wahrscheinlich auch so. Heute dagegen sehen manche Großmütter noch im Rentenalter aus wie ihre ältesten Töchter und kaum eine von ihnen würde sich als alt bezeichnen.
Als meine Großmütter starben, waren sie beide schon über achtzig und um viele Jahre älter als die meisten Menschen ihrer Elterngeneration, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur Welt kam. Um 1875, als meine Urgroßeltern jung waren, betrug die durchschnittliche Lebenserwartung im Deutschen Reich laut Angaben der Bundeszentrale für politische Bildung für Frauen 38, für Männer gut 35 Jahre, also weitaus weniger als die Hälfte der Zeit, die ein Menschenleben im 21. Jahrhundert im Durchschnitt dauert.
Die Gründe für diese rasante Entwicklung sind vielfältig. Eine entscheidende Verbesserung der hygienischen Verhältnisse und der medizinischen Versorgung gehören ebenso dazu wie die rückläufige Säuglings- und Kindersterblichkeit, die Abnahme tödlich verlaufender Infektionskrankheiten, gesündere Arbeitsbedingungen und ein höherer Lebensstandard zumindest für einen großen Teil der Bevölkerung. Allerdings schwankt die Lebenserwartung je nach regionalen Gegebenheiten, Bildungsstand und Einkommensverhältnissen bis heute erheblich und wird es trotz weiter steigender Tendenz auch in Zukunft tun. Die Unterschiede hinsichtlich der Lebenserwartung zwischen Frauen und Männern gleichen sich zwar allmählich an, dennoch werden sie nach Ansicht von Statistikern weiterhin bestehen, was unter anderem mit dem größeren Gesundheitsbewusstsein bzw. einem vernünftigeren Lebensstil von Frauen zu tun hat. Wie alt wir tatsächlich werden, wie wir unser Alter und auch das sogenannte Voralter erleben, ist also von vielen Faktoren abhängig, die wir zum Teil beeinflussen oder verändern können, manchmal jedoch einfach hinnehmen und akzeptieren müssen.
In Weltregionen, in denen der weibliche Alltag von Diskriminierung, Armut, harter körperlicher Arbeit, Entbehrung, Krankheiten oder Hunger geprägt ist, haben Frauen eine wesentlich kürzere Lebenszeit als in den hochindustrialisierten Ländern und wirken schon mit 40 oder 50 Jahren oftmals ausgezehrt und alt. Zwar steigen die Lebenserwartung und der Lebensstandard inzwischen in vielen sogenannten Entwicklungsländern; in den Armenhäusern der Welt, vor allem in manchen Gegenden Afrikas, werden viele Frauen jedoch auch heute nicht älter als 35 Jahre. Nicht zuletzt spielen Seuchen wie Aids oder Ebola dabei eine große Rolle. Auch in dieser Hinsicht können wir Frauen im Westen von geschenkten Jahren sprechen.
Für mich handelt es sich bei dieser gewonnenen Lebenszeit um besonders kostbare Jahre, denn noch nie in der Menschheitsgeschichte erlebten Frauen und Männer jenseits ihrer aktiven Erwachsenen-, Eltern- und Berufsphase eine so breite Spanne von Möglichkeiten zur Entfaltung ihrer geistigen und kreativen Potenziale, von körperlicher Mobilität und gesundheitlichem Wohlbefinden. Uns wurde nicht nur mehr Lebenszeit geschenkt, wir haben auch ein Mehr an Freiheit, an Spielräumen und Entscheidungsvarianten, als unsere VorfahrInnen sich je erträumen konnten.
Weil es uns jedoch weitgehend an Vorbildern und Modellen fürs Alter fehlt, wirft uns dieser Lebensabschnitt mit all seinen Chancen zugleich in einer Weise auf uns selbst zurück, wie es keine Generation vor uns kannte. Seminarteilnehmerinnen oder Freundinnen, die ich frage, welches Bild sie von sich selber als älter werdender Frau haben und wie sie sich ihr Alter vorstellen, müssen oft lange überlegen und geben sehr unterschiedliche Antworten. Die Vielfalt und Verschiedenheit weiblicher Lebensentwürfe und moderner Frauenbiografien spiegelt sich also auch im Blick auf das Voralter und das Alter. Man könnte einerseits den Eindruck gewinnen, alles sei heute möglich und machbar, selbst eine Schwangerschaft mit 65 Jahren. Während die Forschung eine ständige Verlängerung des Lebens, ja sogar das Erreichen der Unsterblichkeit anvisiert, erleben viele Menschen bereits das Voralter als eine mühselige und schwierige Lebensphase voller offener Fragen und diffuser Ängste, oft auch großer Orientierungs- und Hilflosigkeit.
Unter dem neudeutschen Stichwort »Aging well« geben Werbung, Filme, Ratgeberliteratur oder auch wissenschaftliche Publikationen zwar zahllose Empfehlungen und Rezepte, um gesundheitlichen Beschwerden beizukommen, schlaffe Brüste oder Falten zu beseitigen und dem Nachlassen der geistigen Kräfte bzw. dem Abbau des Körpers mit Pillen Einhalt zu gebieten. Dass trotz Fitnesstraining, regelmäßigen Vorsorgeuntersuchungen, gesunder Ernährung und vernünftiger Lebensführung niemand mit Sicherheit davon ausgehen kann, bis ins hohe Alter vor Demenz, Krebs, Depressionen oder anderen Krankheiten und Krisen verschont zu bleiben, wird in einer Zeit des Machbarkeitswahns oft ignoriert, verleugnet oder verschwiegen.
Eine große Frauenzeitschrift fragte vor Kurzem gar: Wie werden wir richtig älter?
Aber gibt es ein richtiges Altern? Was bedeutet das und wer definiert, was richtig und was falsch ist? Sollen Frauen, die jahrzehntelang um die eigene Emanzipation und um Selbstbestimmung gekämpft haben, nun – freiwillig – neue Normen für ihr Alter entwickeln oder akzeptieren? Erschöpfen sich ihre Ziele darin, einen 40 Jahre jüngeren Liebhaber zu haben oder mit der Bikinifigur einer 30-Jährigen am Strand zu posieren? Oder geben sie auch jenen Werten und Wünschen Raum, die den Bildern und Geschichten vieler Hochglanzmagazine widersprechen? Wagen wir es, unsere eigenen Bilder zu entwerfen und von einer anderen Altersrealität und Alterskultur zu träumen, als Werbung und Gesundheitsindustrie uns diktieren wollen?
Der Alltag zeigt, dass Älterwerden nicht nur ein Geschenk ist, sondern zugleich eine hohe Kunst, eine Aufgabe und eine ganz besondere Herausforderung, die uns einiges abverlangt. Dass es nur wenige Vorbilder gibt, an denen wir uns abschauen können, wie ein gelingendes Alter aussehen könnte, macht die Sache nicht einfacher. Dabei warten die vielen alten Frauen und Göttinnen unserer Sagen, Märchen und Mythen schon lange darauf, für unsere Zeit neu entdeckt zu werden und uns zu erzählen, wie sie das Älterwerden und auch seine Beschwerden erlebten und meisterten. Dasselbe gilt für eine Hildegard von Bingen, Teresa von Avila und manch andere historische Frauengestalt, die es verdient hat, über ihre Erfahrungen befragt zu werden und die uns staunen lässt, wenn wir merken, wie aktuell diese auch heute noch sind. Dieses Buch will diese beiden und andere Lehrmeisterinnen im Umgang mit dem Älterwerden, mit Krankheit und Schwäche in Erinnerung bringen. Wichtige Impulse bekommen wir zudem von den Frauen indigener Völker und deutschsprachiger Länder, die sich heute zusammenschließen und als »Älteste« und Großmütter das Ziel haben, das herkömmliche Bild vom weiblichen Altern zu verändern und ihren Beitrag für eine lebenswerte Zukunft kommender Generationen zu leisten.
Von den Frauen traditioneller Kulturen können wir lernen, dass das Älterwerden eine Zeit ist, in der wir aufgefordert sind, über den eigenen Tellerrand, die eigene Person und Familie hinauszuschauen, unseren Horizont zu erweitern und das »große Ganze« in den Blick zu nehmen. Spätestens jetzt bekommen spirituelle Fragen und Bedürfnisse Raum, manchmal sogar Priorität im Leben vieler Frauen.
Auch hierzulande belegen Studien, dass die Bedeutung von Religion und Spiritualität zunimmt, je älter ein Mensch wird. Spiritualität gibt dem Eingebundensein in ein weitmaschiges Netz menschlicher Beziehungen eine zusätzliche Dimension und Tiefe. Sie macht einen wesentlichen Teil unserer seelischen Widerstandskraft (Resilienz) aus und wirkt sich positiv auf Wohlbefinden und Gesundheit aus, besonders in Krisen, bei schwerer Krankheit, im Alter und im Sterben. Sie spielt deshalb in der Hospiz- und Palliativversorgung und im therapeutischen Bereich eine immer größere Rolle. Spiritualität erfährt als »Gero-Transzendenz« auch in der Altersforschung verstärkte Aufmerksamkeit, insbesondere im Sinne einer »protektiven Ressource«, die in der dritten und vierten Lebensphase von unschätzbarem Wert sein kann.
Mit dem Älterwerden wächst jedoch nicht nur das Interesse an Spiritualität, auch das Spektrum dessen, was Menschen bei ihrer spirituellen Suche entdecken, verändert sich, es wird größer, weiter und unterschiedlicher. Wie Untersuchungen zeigen, gilt dies besonders für Frauen und Männer, die in ihrem Leben mit vielen Problemen, Brüchen, Krisen und Konflikten konfrontiert wurden und diese bewältigt haben. Sie sind im Blick auf ihr Glaubensverständnis, ihre Gottesvorstellungen und ihre Frömmigkeitspraxis meist offener, flexibler und in gewisser Weise anspruchsvoller als andere Menschen, deren Biografie weniger Bewegung und Herausforderung aufwies.
Trotz solcher Beobachtungen und Erkenntnisse ist eine Spiritualität des Älterwerdens noch wenig entwickelt. Es sind bisher eher die Frauen, die den Mut haben, alte eingefahrene Traditionen hinter sich zu lassen und neue Wege zu wagen, die ihren Erfahrungen und Bedürfnissen entsprechen. Sie wollen nicht eine für alle gültige und lebbare Spiritualität des Älterwerdens erfinden, sondern die Fülle und Vielfalt dessen zulassen, die sich ihnen eröffnet, wenn sie fragen, was ihrem Dasein Bedeutung und Sinn gibt, wo ihre Kraftquellen zu finden sind, was sie trägt und hält.
Sie haben – inspiriert von der kirchlichen Frauenbewegung, von ökologischen und ganzheitlichen Denkweisen, von feministischer Theologie, Matriarchatsforschung und Göttinnenreligionen – eine spirituelle Praxis entwickelt, deren Merkmale Bezogensein und Beziehungen sind. Verbundensein mit sich selbst, mit anderen Menschen, mit Natur und Kosmos, mit dem Göttlichen – das ist auch für mich die Grundlage und die Vision einer Spiritualität des Älterwerdens, die wie ein roter Faden alle Kapitel dieses Buches durchzieht.
Weil viele Frauen danach fragten, habe ich in den letzten zwei Jahren mehrmals Seminare zur Spiritualität des Älterwerdens angeboten. Die Resonanz darauf war so groß, dass ich das Spektrum der Themen von Mal zu Mal vertiefte und erweiterte. Schließlich hat Claudia Lueg vom Patmos Verlag mich davon überzeugt, dieses Buch zu schreiben und etwas von dem weiterzugeben, was ich selbst erfahren habe und was mir selbst wichtig geworden ist. Dafür bin ich ihr sehr dankbar, denn durch den Prozess des Schreibens ist im Blick auf mein eigenes Altern eine große Zuversicht und Gelassenheit in mir gewachsen. Dieses Geschenk teile ich nun gerne mit anderen Frauen, die wie ich seit Langem eine Spiritualität des Verbundenseins praktizieren oder danach suchen.
Ich wünsche allen Leserinnen, ihr Älterwerden als geschenkte Zeit zu verstehen, die reichen Gaben dieser Lebenszeit mit offenen Augen und Herzen anzunehmen und sich voller Mut und Kraft ihren Aufgaben und Herausforderungen zu stellen.
Freising, im September 2015
Erni Kutter