Vorwort

Altern ist in den letzten Jahren zu einem öffentlichen Thema geworden. Dazu beigetragen haben nicht nur wirtschaftliche und soziale Veränderungen, sondern auch künstlerische Reaktionen und Bearbeitungen, wie etwa Michael Hanekes Film „Liebe“, in dem es um das Altern geht, um den Verlust an Selbstbestimmung und um den Tod. Aber es geht auch um Liebe und Verbundenheit, die für eine positive Grundstimmung sorgen und die Radikalität des Alterns begleiten. Zu dieser gegenwärtigen kreativen Auseinandersetzung mit dem Alter zählt auch die in den Wiener Kammerspielen aufgeführte Geschichte eines Holocaust-Überlebenden, der in hohem Alter von Australien nach New York zu seiner Tochter zieht und deren Leben durcheinanderwirbelt. Während die Tochter bereits an den Ankauf einer Grabstätte denkt, ist der 87-jährige Vater vor allem an Geschäft und Partnerschaft interessiert. Konnte noch vor wenigen Jahren die Aussage gemacht werden: Wer über das Alter schreibt und es künstlerisch bearbeitet, erfreut damit nicht unbedingt das Publikum, so verweisen die beide genannten Beispiele auf ein doch stark verändertes Verständnis von Altersprozessen.

In diesem Buch geht es nun nicht um das Altern in städtischer Umgebung, sondern in ländlichen Lebensräumen – ein Altern, das in der öffentlichen Diskussion sehr polarisierend, verzerrt oder zumindest ambivalent vorkommt. Da ist einmal von alten Menschen die Rede, die in der Familie aufgehoben, beschützt und gebraucht werden; des Weiteren von alten Menschen, die isoliert und zurückgezogen in Gemeinden leben, die durch starke Abwanderung und wirtschaftliche Krisen gekennzeichnet sind. Ebenso ist Armut im Alter ein zentrales Thema, von der Menschen in ländlichen Gemeinden stärker betroffen sind als Menschen in Städten. Viele Traditionen des Lebens und Arbeitens im ländlichen Raum sind jedenfalls in den letzten Jahren ins Wanken geraten. Individualisierung, die Verbreitung von Informationstechnologien oder Globalisierung werden hierfür verantwortlich gemacht. Aktuelle Studien kommen allerdings zu dem Ergebnis, dass es weiterhin eigenständige dörfliche Lebensstile gibt undsich diese hoher Wertschätzung erfreuen.

Diskussionen um regionale Mentalitäten, lokale Identitäten und kleinräumige Milieus werden in jüngerer Zeit zusammengeführt und intensiviert. Historische, kulturanthropologische, sozialwissenschaftliche und geographische Forschungen kommen immer öfter zu dem Ergebnis, dass es weiterhin eigenständige dörfliche Lebensstile gibt und sich diese hoher Wertschätzung erfreuen. Diese Kultur des Kleinteiligen und diese Nachhaltigkeit im Lokalen sind zwar auch in Städten feststellbar, im ländlichen Raum jedoch wesentlich verbreiteter. Mit diesem Hinweis auf die Eigenständigkeit regionaler Mentalitäten und Lebensstile ist die Annahme verbunden, dass die Lebenssituation von älteren Menschen in Klein- und Kleinstgemeinden nicht nur unter dem Gesichtspunkt regionaler Benachteiligungen zu untersuchen ist, sondern auch unter dem Gesichtspunkt eigenständiger Lebens- und Handlungsformen.

Lebens- und Handlungsformen älterer Menschen im ländlichen Raum stehen somit im Mittelpunkt dieses Buchs. Dabei soll es aber nicht nur um Aktivität, die wohl wesentlich ist für die Entfaltung des Alternspotentials, sondern konkret um soziale Teilhabe gehen. Dabei versuchen wir auf Basis unserer Forschungen neue Akzente zu setzen. Die gerontologische Forschung zeigt seit mehr als fünfzig Jahren einen deutlichen Zusammenhang zwischen Aktivität und Lebenszufriedenheit im Alter, doch kann daraus noch keine zureichende Vergesellschaftung und Vergemeinschaftung abgleitet werden. Was uns also bei diesem Buchprojekt beschäftigt hat, ist der Übergang von Aktivität(en) zu sozialer Teilhabe. Wir beschäftigen uns erstens mit dem Einfluss der Gemeindegröße und dem Leben in der Gemeinde auf soziale Aktivitäten und wir befassen uns zweitens mit dem moderierenden Einfluss von Lernprozessen. Letzteres steht in einer längeren Tradition des Instituts für Soziologie, in der stets der Zusammenhang zwischen Bildung und Altern zentral war.

Der Zusammenhang zwischen Bildung und Altern im ländlichen Raum ist mit der Herausforderung verbunden, diesen aus diesem Kontext heraus zu verstehen. Gemeint ist damit nicht nur die spezifische Angebotssituation, sondern vor allem eine Vorstellung von Bildung und Lernen, die das Alltägliche, Informelle berücksichtigt. Wenn von implizitem Lernen die Rede ist – im Englischen spricht man von Tacit Knowledge – dann ist damit gemeint, dass vielen Menschen, die aus alltäglichen Anforderungen heraus Anpassungsleistungen und Verhaltensänderungen vornehmen, die dahinter befindlichen Lernprozesse kaum bewusst sind. Dem informellen Lernen gilt daher besondere Aufmerksamkeit.

Dass wir uns mit diesen Fragen befassen konnten und die Ergebnisse unserer Forschung nun auch in Buchform vorlegen können, verdanken wir der finanziellen Unterstützung und freundlichen Begleitung dieses Projekts durch die Abteilung V/A/6, Grundsatzangelegenheiten der Seniorinnen-, Bevölkerungs- und Freiwilligenpolitik des Bundesministeriums für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz. Besonders nennen wollen wir hier die Leiterin der Sektion, Frau Mag.a Edeltraud Glettler, den Leiter der Abteilung, Herrn Mag. Anton Hörting, und Frau Dr.in Elisabeth Hechl. Von Frau Dr.in Hechl wurde das Projekt von Anfang an inhaltlich beraten und durch anregende Diskussionsbeiträge fachlich kompetent begleitet. Bedanken wollen wir uns auch bei Mag.a Daniela Rojatz, welche bereits in der zugrundeliegenden Studie mitgearbeitet und für dieses Buch ihre Expertise im Bereich Gesundheit und Selbsthilfe beigesteuert hat. Zusätzlich gewann das Buch durch ihre konstruktive Kritik weiter an Qualität. Ein großer Dank ergeht auch an Herrn Dr. Feistritzer, welcher uns in der Phase der Fragebogenerstellung beratend zur Seite stand. Ebenfalls bedanken wollen wir uns bei den Teilnehmenden der Befragungen und die Praktiker der vorgestellten Good-Practice Projekte.

Wien, im April 2013

Anna Wanka, Katrin Baumgartner, Franz Kolland

Einleitung

Wenn wir in diesem Buch das Konzept der sozialen Teilhabe theoretisch entwickeln und anhand empirischer Daten verdichten, dann geht es uns darum, eine Dimension erfolgreichen Alterns soziologisch vertiefend aufzuarbeiten. Über die soziale Teilhabe entfaltet sich das Alter(n)spotential zur wirkmächtigen Kraft gesellschaftlichen Handelns. Und über die soziale Teilhabe überschreitet das Individuum physiologische Bedingtheit und psychologische Entwicklungsorientierung. Das Private wird öffentlich. Physische und psychische Bedingungen sind jedoch nicht als Voraussetzung oder vorauslaufende Prozesse sozialer Teilhabe zu verstehen, sondern stehen in einem steten Wechselwirkungszusammenhang mit sozialen Beziehungen. Sie wirken auf die Vergesellschaftung des Individuums. Das gilt für den gesamten Lebenslauf. Zwar haben verschiedene Alternsforscher herausgearbeitet, dass im höheren Alter – aufgrund der unvollendeten Humanontogenese (Paul B. Baltes) – biologische und physiologische Veränderungen das soziokulturelle Potential menschlicher Entwicklung einschränken, jedoch kann daraus nicht auf eine Ent-Gesellschaftung des Alters geschlossen werden. Mag sich auch die Zahl der sozialen Kontakte verändern, so kann nicht von einer grundlegenden Desozialisation im Alter gesprochen werden. Körperlich und gesundheitsbedingter sozialer Rückzug sind – so unsere These – keine natürliche Folge des Alterns, sondern über weite Strecken sozial konstruiert und konstituiert. Mit dieser Behauptung schaffen wir ein Fundament für eine optimistischere Sicht auf das Altern. Denn sehen wir Gebrechlichkeit und Immobilität nicht nur als geriatrische Diagnose, sondern als sozial bedingt, erweitert sich das Spektrum der Interventionsmöglichkeiten. Werden eingeschränkte soziale Beziehungen ausschließlich als Folge gesundheitlicher Belastungen gesehen, wird Altern primär zum medizinischen Problem und es geht vorwiegend um die Behandlung einer Krankheit. Wir wollen diese Sichtweise modifizieren und statt einer eher pathogenetischen die salutogenetische Perspektive in den Vordergrund rücken. Um die Stränge der medizinischen und sozialen Intervention zusammenzubringen schlagen wir eine Sozialgeriatrie vor.

Nach dieser ersten Begründung des Konzepts der sozialen Teilhabe aus der alternswissenschaftlichen Perspektive wollen wir in einem zweiten Schritt den sozialräumlichen Bezug herstellen. Der sozialräumliche Bezug unterstützt eine salutogenetische Perspektive und nimmt das Individuum in seiner Ortsgebundenheit in den Blick. Hat die alternswissenschaftliche Perspektive mit ihrer Verortung des Individuums in einem Lebens(ver)lauf die Zeit als Referenz, so ist das Individuum aus sozialräumlicher Perspektive eines, welches von Räumen physisch und symbolisch beeinflusst wird und diese umgekehrt ergreift und bewohnt. „Wir wohnen nicht“, heißt es bei Martin Heidegger, „weil wir gebaut haben, sondern wir bauen und haben gebaut, insofern wir wohnen, d.h. die Wohnenden sind.“ (1994: 143) Markierungen in der Zeit – im Lebenslauf – und im Raum schaffen Identität und Sicherheit. Wenn wir uns fragen, wer wir sind, wir unser Gewordensein bedenken, dann bedenken wir seit der Moderne Phasen und Übergänge. Wir denken an Kindheit, Jugend, Erwachsenensein, Alter. Wenn wir uns räumlich verorten, dann denken wir an Landmarks. Wer im ländlichen Raum lebt, denkt an Kirchtürme, Bergspitzen, Bäche, Friedhöfe. Mit diesen Landmarks ist das Gefühl des „Daheim-Seins“ verknüpft. Dieses Gefühl des „Daheim-Seins“ bedeutet: Ich gehöre (hier)hin! Ich habe einen Platz.

Soziale Räume bezeichnen in der Wissenschaftstradition der Soziologie seit Georg Simmel (1908) nicht einfach Territorien im physikalisch-geografischen Sinn, sondern räumlich bezogene und erfahrene Kontexte sozialen Handelns. Erst über die Tätigkeit des Menschen wird ein Territorium zum sozialen Raum und die Menschen erfahren dementsprechend den Raum als Ortszusammenhang von zugänglichen Möglichkeiten und einschränkenden Verwehrungen. „Wenn eine Anzahl von Personen innerhalb bestimmter Raumgrenzen isoliert nebeneinander haust“, so Simmel (1908: 460; http://socio.ch/sim/unt9a.htm, Zugriff: 15.3.2013), „erfüllt (eben) jede mit ihrer Substanz und ihrer Tätigkeit den ihr unmittelbar eigenen Platz, und zwischen diesem und dem Platz der nächsten ist unerfüllter Raum, praktisch gesprochen: Nichts“. Erst wenn Menschen in Wechselwirkung treten, ist der Raum erfüllt.

Der soziale Raum ist Ort gesellschaftlicher Strömungen, Entwicklungen, Kulturen und Widersprüche. Struktureller Wandel verändert die Arbeitswelt, Raumplanungen verändern Lebensräume, Arbeitslosigkeit verändert das soziale Miteinander, Umwelteinflüsse verändern die Lebensqualität und der demographische Wandel verändert die Alterstruktur im Lebensraum. Kommt es in bestimmten Gebieten und Gegenden zu starken demographischen Verschiebungen etwa aufgrund von Ab- oder Zuwanderung, dann formen sich Konflikte, die als sozialräumlich entstandene zu behandeln sind.

Sozialraum beschreibt die Wechselwirkung zwischen der sozialen Situation seiner Bewohnerinnen und der räumlichen Beschaffenheit. Einerseits prägt das „Soziale“ den Raum, andererseits wiederum prägt auch der Raum das „Soziale“. Es handelt sich also um eine sozial konstruierte, relationale Anordnung von Lebewesen und sozialen Gütern an Orten (Löw, 2007). Personen erschaffen und modifizieren Räume und werden durch solche Räume in ihrem Handeln beeinflusst. Sehr deutlich sichtbar ist das etwa in Pflegeheimen, die je nach ihrer räumlichen Beschaffenheit soziale Beziehungen stimulieren oder reduzieren können.

Es sind verschiedene „sozialökologische“ Qualitäten, die die Handlungsmöglichkeiten der Individuen bestimmen. Sie erlauben mehr oder weniger Eigentätigkeit, fördern oder verhindern Partizipation, eröffnen Gelegenheiten für Erfahrungen und Erlebnisse und bestimmen die Lern- und Entwicklungschancen. Räume sind nicht wertfrei, in ihnen finden sich gesellschaftliche Dimensionen und Funktionsbestimmungen in Form von „kodifizierten Regelungen, Machtbefugnissen, Herrschafts- und Eigentumsansprüchen“ (Böhnisch/Münchmeier, 1990: 58) wieder. Wie soziale Räume in den verschiedenen Lebensphasen angeeignet werden, hängt einerseits mit den lebensphasenspezifischen Ansprüchen und Erwartungen, aber auch mit den räumlichen Sozialordnungen der Gesellschaft zusammen.

Kinder entwickeln sich vor allem dadurch, dass sie ihre Lebensräume immer mehr erweitern (vgl. Deinet/Reutlinger, 2004). Die scheinbar tote sozialräumliche Welt verwandelt sich in ein je individuelles sozialräumlich-personales Erlebnissetting. Im Jugendalter verläuft der sozialräumliche Aneignungsprozess vor allem über die peergroup und die von ihr vermittelte gemeinsame Aneignung von Räumen und Stilen. Für Erwachsene in der Phase der Kindererziehung ist der sozialräumliche Kontext über die Kinder gegeben, zum Beispiel über Kinderspielplätze oder über erlebte soziale Ausgrenzung, wenn etwa die Kinder zu laut sind. In der Lebensphase des Alters, in der die sozialen Funktionen und Rollen zurücktreten oder aufgegeben werden, spielt die sozialräumliche Dimension eine umso wichtigere Rolle. Im Alter nehmen die meisten Menschen einen räumlichen Bruch wahr. Der Weg zur Arbeit entfällt und damit auch eine bestimmte Form der Nutzung des Sozialraums. Es findet eine Art territorialer Rückzug statt, der gleichzeitig von territorialer Expansion begleitet wird. Gemeint ist damit, dass die unmittelbare Wohnumgebung zu einem wesentlichen Lebensraum wird. Alte Menschen leben stärker in der räumlichen Nahwelt, mit zunehmendem Alter steigt also die Distanzempfindlichkeit und Nahräumlichkeit (Rüßler, 2007).

Die Erforschung von sozialräumlichen Zusammenhängen muss die Deutungen und Handlungen der verschiedenen Generationen zu verstehen versuchen, aber auch die gesellschaftlichen Strukturen „als Botschaften, die in den Räumen sind“ (Böhnisch/Münchmeier, 1990: 13) ergründen. Dieses Spannungsfeld zwischen Aneignung und gesellschaftlicher Verfasstheit von Sozialräumen mit ihren gesellschaftlichen Funktionszuschreibungen, Regelungen und Geboten kann mit Hilfe des sozialökologischen Ansatzes erfasst werden. Dieser geht davon aus, dass Umwelt das Verhalten definiert, damit Handeln beeinflusst und umgekehrt. Damit wird eine kontextorientierte Betrachtung der Lebenssituation der verschiedenen Altersgruppen möglich.

Das Ziel der sozialräumlichen Verfahren ist es demnach, Verständnis dafür zu entwickeln, wie die Lebenswelten sozialer Gruppen in engem Bezug zu ihrer Gemeinde stehen und welche Sinnzusammenhänge, Freiräume oder auch Barrieren die verschiedenen sozialen Gruppen in ihren Gesellungsräumen erkennen (Krisch, 2009). Der Fokus des Erkenntnisinteresses richtet sich auf die Deutungen, Interpretationen, Handlungen und Tätigkeiten von älteren Menschen im Prozess ihrer Aneignung von Räumen in der Gemeinde und über diese hinaus.

Der sozialökologische Ansatz und das Konzept der Aneignung bilden auch Brücken für den aktuellen Diskurs zum lebenslangen Lernen im Alter. Lebenslanges Lernen geht nämlich von alltäglichen Handlungsvollzügen in der Lebenswelt aus. Aneignung ist das Muster für die Bildung des Subjekts im sozialen Raum. Der gesellschaftliche Raum ist Aneignungs- und Bildungsraum. Der unmittelbare Sozialraum ist gewissermaßen der/die 3. Pädagoge/Pädagogin.1 Nicht nur die Lehrenden und Lernenden beeinflussen das Lerngeschehen, sondern auch die unmittelbare Umwelt. Über die alters-, geschlechts- und lebenslagenspezifisch tätige Auseinandersetzung mit der räumlich vermittelten Umwelt werden Bildungsprozesse (vgl. Deinet/Reutlinger, 2005) ermöglicht, die in engem Zusammenhang mit anderen Formen des kognitiven oder emotionalen Lernens stehen (Krisch, 2009).

In der Alternsforschung ist der Raumbezug über das Konzept des place attachment oder der place valuation, die vor allem im Zusammenhang mit erzwungenen Ortsveränderungen im Alter entwickelt wurden, erfasst. Da wird dann von Entwurzelung gesprochen und gilt etwa der Umzug in ein Pflegeheim als besonderes riskantes Lebensereignis. Allerdings sollte diese Alltagsvorstellung nicht zu stark verallgemeinert werden, denn aus der Perspektive von Potentialen des Alters können Veränderungen auch eine positive Wirkung haben. Diese lässt sich in dem Gedanken ausdrücken, dass ein alter Mensch eben kein Baum ist und den Platz wechseln sollte, wenn er am falschen Ort steht.

Aber auch aus einer kritischen Perspektive wird der Stellenwert des Raumes diskutiert. Dann geht es um die Raumfixiertheit, die zur Fessel werden kann. Gemeint sind damit etwa ältere Männer, die nach dem Tod ihrer Partnerin allein in einem Haus oder in ihrer Wohnung zurückbleiben und sich weigern, Betreutes Wohnen in Anspruch zu nehmen. Oder es geht um die soziale Kontrolle über das soziale Umfeld, die zum Zwang wird, wenn sie Verschiedenheit nicht zulässt. Soziale Nahräume, so die These, führen bei geringer Mobilität so einer starken Homogenisierung und letztlich zu einer Einebnung von Einstellungsunterschieden und Aspirationen. Ein solcher Zwang ist also gegeben, wenn die eigenen Aspirationen zurückgestellt werden, um Akzeptanz zu erfahren. Frauen in ländlichen Gemeinden besuchen zum Teil deswegen keine Bildungsveranstaltungen, weil dies Veränderung signalisiert. Sie realisieren Bildungswünsche nicht, weil der Ehepartner das nicht „erlaubt“ und diese Verweigerung durch das soziale Umfeld gestützt wird. Es ist ein patriarchaler Anspruch, der zugleich verbrämt wird mit sozialen Erwartungen. Dazu gehört dann die Aussage: Du möchtest anders sein! Was werden denn die anderen denken? Mit diesem Beispiel ist gleichzeitig der Zusammenhang zwischen sozialräumlichen Einflüssen und sozialer Teilhabe hergestellt bzw. umrissen.

In einem weiteren Schritt soll nun das Konzept der sozialen Teilhabe eingeführt werden, wobei an dieser Stelle ein Zusammenhang zu Aktivität und Involviertheit hergestellt wird.

Bereits Anfang der 1970er Jahre wurde ein systematischer Versuch zur Reformulierung der Aktivitätstheorie unternommen (Lemon/Bengtson/Peterson, 1972), indem der ursprüngliche Zusammenhang zwischen Aktivität und Lebenszufriedenheit um den Grad der mit einer Aktivität verknüpften sozialen Involviertheit erweitert wurde. Die Autoren dieser Studie gingen der Frage nach, wieso und unter welchen Bedingungen Aktivität zu Lebenszufriedenheit führt. So kamen sie zu der These, dass Aktivität die eigene Identität stütze, wobei diese Stützung umso größer sei, je stärker sie sozial getragen wird. Indem ich handle, bestätige ich mich selbst, und ich fühle mich umso mehr bestätigt, je mehr ich dabei mit anderen zu tun habe und ihre Wertschätzung genieße.

In diesem Zusammenhang ist der Begriff des „Involvement“ von Norbert Elias (1983, 1993) zu nennen. Involvement bezeichnet das Engagement mit dem etwas getan wird. Für unsere Befassung mit sozialer Teilhabe, wird mit Involvement einerseits das Engagement, sich weiterzubilden, gemeint, als auch die Beteiligung bzw. Einbindung durch dieses Bildungsengagement in die Gesellschaft – oder in einer kleineren Einheit: z.B. in die Gemeinde. Elias setzt Engagement interessanterweise gleich mit Irrationalität und Subjektivität. Demgegenüber stellt er Distanziertheit, die wiederum mit Rationalität und Objektivität einhergeht (vgl. ebd, 1983: 9). Durch (Bildungs-)Engagement kommt es also zu Einbindung – sozialer Teilhabe – in die Gesellschaft, die ja im Alter zu forcieren ist. Eng mit dem Involvement verbunden ist Empowerment. Empowerment meint, sich selbst stark zu machen, unabhängig zu sein. Somit kann davon ausgegangen werden, dass Bildungsbeteiligung zu zweierlei führt: einerseits zu Einbindung in die Gesellschaft, zu sozialer Teilhabe, andererseits auch zu Entkoppelung und Autonomie.

Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen kommen Lemon et al. (1972) zu einer Dreier-Typologie sozialer Aktivitäten, die sowohl nach dem Grad interpersoneller Intensität und Intimität gegeneinander abgegrenzt werden können als auch nach der Häufigkeit ihrer Ausübung. Unterschieden werden informelle Aktivitäten, das sind solche in unmittelbaren sozialen Beziehungen mit Freundinnen, Bekannten, Nachbarn; formelle Aktivitäten, z.B. ehrenamtliche oder Tätigkeit in Klubs und Aktivitäten, die allein ausgeübt werden, z.B. Fernsehen. Den größten Einfluss auf Lebenszufriedenheit haben Aktivitäten, die in dichten Interaktionsnetzen erfolgen, den geringsten allein ausgeübten Tätigkeiten. Die empirische Untersuchung dieser Variablen in Relation zur Lebenszufriedenheit hat allerdings enttäuschende Ergebnisse gebracht. Es konnte lediglich für informelle Aktivitäten eine positive Wirkung auf die Lebenszufriedenheit gefunden werden.

Dieses Ergebnis führte zu einer weiteren Umformulierung der Aktivitätsthese. Eine Integration in die Gesellschaft (= positive Rollenidentität) und ein positives Selbstwertgefühl sind eher dann gegeben, wenn die Älteren über dichte „informelle Beziehungen“ ständig mit gesellschaftlichen Normen und Wertvorstellungen konfrontiert werden und dies auch im höheren Alter so bleibt. Der Verlust sozialer Beziehungen bedeutet ein Normvakuum und führt zu Unsicherheiten im Selbstwertgefühl, wenn nicht die verbleibenden Beziehungen intensiviert werden.

Befriedigende Kontakte zu anderen Menschen heben das Selbstwertgefühl besonders dann, wenn die Kontakte oder Beziehungen geeignet sind, die Selbständigkeit und Wirksamkeit der älteren Menschen zu fördern. Gute soziale Einbindung und soziale Wirksamkeit älterer Menschen kann insbesondere dort erreicht werden, wo die bestehenden sozialen Beziehungen durch emotionale Nähe, Intimität, Vertrauen und Gegenseitigkeit gekennzeichnet sind (Kruse/Wahl, 1999: 334). So paradox es scheinen mag: Gefühlsoffenheit, die Bejahung der „raison du coeur“ (Pascal, 1976: 48), die mit einer gewissen Selbstpreisgabe verbunden ist, schwächt demnach nicht. Eine solche Offenheit hat verstärkende Wirkung auf das Selbstwertgefühl und die Wahlfähigkeit.

Das soziale Netzwerk, in dem das Individuum lebt, bestimmt zu einem großen Teil mit darüber, welche Handlungsspielräume einer Person zur Verfügung stehen und auf welche Art sie in die soziale Struktur eingebettet ist bzw. von dieser bejaht und dadurch verstärkt wird. Das soziale Netzwerk, welches Familie, Verwandtschaft, Nachbarschaft, Freundinnen und Bekannte umfasst, ist in verschiedenem Maße mit gesellschaftlichen Makrostrukturen verbunden, aber immer auch von diesen in gewisser Weise vorselektiert.

In unserer Studie wollen wir die soziale Teilhabe nicht nur auf die unmittelbaren sozialen Beziehungen beschränken, sondern sehen diese im Zusammenhang mit aktiver Beteiligung am Gemeinwesen. So unterscheiden wir als Formen sozialer Teilhabe:

Soziale Beziehungen bilden jedenfalls ein wichtiges Rückgrat für gesellschaftliche Integration, für Aufgaben, für kulturelle und Freizeitaktivitäten. Sowie die Auflösung persönlicher Bindungen, Einsamkeit und Konfliktsituationen Auslöser von Stress sind, stellen enge soziale Bindungen und nahe Beziehungen einen wichtigen Quell emotioneller Stabilität dar (Lubben/Gironda, 2003). In Japan sind Menschen, die wenig soziale Kontakte pflegen, von einem 1,5-mal größeren Risiko bedroht, innerhalb der folgenden drei Jahre zu sterben als die sozial besser Integrierten (Sugiswawa et al., 1994). Befriedigende Kontakte zu anderen Menschen heben den Selbstwert, geben das Gefühl von Autonomie bzw. Unabhängigkeit und ermöglichen Informationsaustausch. Es geht dabei nicht nur um eine funktionale Begründung von Sozialkontakten, sondern um die grundlegende Bedeutung des Sozialen für das Individuum. Ohne die fördernde Kraft der Intersubjektivität befindet sich die Subjektivität bzw. das Subjekt in einer prekären Situation.

Die Selbstbestimmung der (hoch)betagten Menschen ist ein humanitäres Hauptanliegen der Sozialpolitik. Eine wesentliche Voraussetzung dafür ist echte Wahlfreiheit. Wer neben den familiären andere Beziehungen unterhält und sich in weiterer Folge auch im dritten Sozialraum bewegt, verfügt über mehr Sozialkapital und Bezugsebenen, die sowohl „kühle“ Distanz als auch „heiße“ Nähe erlauben. Der dritte Sozialraum bewegt sich zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen. In diesem Raum finden wir Aktivitäten in der Kirchengemeinde, in lokalen Sportvereinen oder der Feuerwehr.

In den folgenden Kapiteln werden, neben der einschlägigen internationalen Fachliteratur, auch Daten und Forschungsbefunde aus zwei empirischen Studien behandelt, um Rahmenbedingungen und die verschiedenen Formen sozialer Teilhabe im ländlichen Raum darzustellen. Überdies wird der Frage von Teilhabehemmnissen nachgegangen und den Transferwirkungen von Teilhabe- bzw. Lernprozessen. Besteht ein Zusammenhang zwischen sozialer Teilhabe und Lebensqualität? Welche Unterschiede bestehen hier nach sozio-demographischen Faktoren? Wie wirkt die sozialräumliche Umwelt auf das Altern und ältere Menschen?

Zur Beantwortung dieser Fragen wurde zunächst eine Befragung in Form von standardisierten telefonischen Interviews in Kooperation mit dem Institut für empirische Sozialforschung (IFES) durchgeführt. Im Zeitraum von 1. 2. bis 8. 3. 2011 wurdeninsgesamt 750 Personentelefonisch kontaktiert, von denen 500 Personen zu einem Interview bereit waren. Als Zielgruppe war die über 50-jährige österreichische Bevölkerung in Gemeinden mit bis zu 5.000 Einwohnerinnen definiert. Die Auswahl der Zielgruppe basierte auf einem telefonischen Zufalls-Screening, das angewandte Verfahren hierbei ist das sogenannte Random Digit Dialling (RDD): Ausgehend von einer Stichprobe aus dem Telefonbuch mittels Zufallsgenerator wird die letzte Ziffer einer Telefonnummer zufällig vom Computer generiert. Der Vorteil dieser Methode liegt darin, dass dadurch auch nicht registrierte Telefonnummern (auch Geheimnummern) in die Stichprobe aufgenommen werden können. Obendrein wird bei Telefonumfragen der mittlerweile sehr hohe Durchdringungsgrad der Handy-Nutzung berücksichtigt. Ausgehend von der jeweiligen Handyvorwahl werden die anzurufenden Telefonnummern über einen Zufallsgenerator ausgewählt. Die erhobenen quantitativen Daten wurden mit Hilfe des Statistikpaketes SPSS ausgewertet. Zur Vertiefung der quantitativen Ergebnisse wurden zehn qualitative narrative Interviews mit älteren Landbewohnern durchgeführt. Die Zielgruppe bildeten auch hier Personen über 50 Jahre, die in österreichischen Gemeinden mit weniger als 5.000 Einwohnerinnen leben. Es wurden zwei Interviews in Gemeinden mit bis zu 1.000, sechs Interviews in Gemeinden mit bis zu 2.000 und zwei Interviews in Gemeinden mit über 2.000 Einwohnern in den Bezirken Reutte in Tirol und Oberwart im Burgenland durchgeführt. Fünf Interviewpartnerinnen waren zwischen 60 und 70, fünf zwischen 70 und 80 Jahre alt. Die höchste abgeschlossene Ausbildung war bei fünf Personen die Pflichtschule und bei fünf Personen die Berufsschule. Das Geschlechterverhältnis der Interviewpartner war ausgewogen.

Eine zweite Datengrundlage bildete die Untersuchung von „Good Practices“ geragogischen Handelns. In dieser Untersuchung kamen verschiedene Methoden empirischer Sozialforschung zur Anwendung, nämlich Beobachtung, Interview, Dokumentenanalyse. Auch diese Erhebung fand in ganz Österreich statt. In der Untersuchung guter geragogischer Praxis wurden zwischen Oktober 2011 und Juni 2012 zunächst relevante Projekte recherchiert und dokumentiert. Der Zugang zu potentiellen Good Practice-Projekten erfolgte über eine Ausschreibung auf diversen Internet-Plattformen der Erwachsenenbildung und Altenarbeit in Österreich bzw. über diverse Dachorganisationen und Verbände in diesen Bereichen. Die potentiellen Träger solcher Projekte wurden aufgefordert, sich schriftlich durch die Vorstellung ihres Projekts und die Beantwortung des Kriterienkatalogs zu bewerben. Die Forschungsarbeit selbst hatte dann vier Analyseebenen, nämlich die Bewertung der Texte, über die die untersuchten Projekte beworben werden, die nichtteilnehmende Beobachtung von Kurseinheiten, die schriftliche Befragung der Kursteilnehmenden und die Befragung der Leiterinnen der untersuchten Projekte.

Wenn in diesem Buch zwei sehr unterschiedliche empirische Zugänge zur Frage der sozialen Teilhabe im ländlichen Raum nebeneinander bestehen, so steckt in diesen auch das Bekenntnis zum Zusammenhang von Forschung und Praxis. Abgebildet werden über quantitative Datenanalyse und geragogische Praxis nicht nur unterschiedliche epistemiologische Zugänge, sondern auch unterschiedliche Ebenen der Analyse. Über repräsentative Befragungsdaten können Einstellungen von sozialen Gruppen sichtbar gemacht werden, über die Analyse von Good Practice-Modellen wird die Meso-Ebene gesellschaftlichen Handelns in den Blick genommen. Sie zeigen die Attraktion und Wirkung organisierten Handelns und verweisen auf neue Strömungen und Blickrichtungen.

1 Altern als soziale und räumliche Dimension

1.1 Alter(n) im Wandel

Alter ist eine soziale Konstruktion und kann nicht als biologisch eindeutiges Merkmal aufgegriffen werden. Denn jedes Individuum altert anders. Der Prozess des Alterns ist von diversen sozialen bzw. soziodemographischen Merkmalen abhängig. Solche Merkmale sind beispielsweise der höchst erworbene Bildungsstand, die Höhe des Einkommens bzw. der (frühere) Berufsstatus, der Gesundheitszustand und Geschlecht. Wobei der Bildungsstatus wiederum auf den Berufsstatus und dieser wiederum auf die Höhe des Einkommens wirkt. Diese Umstände beeinflussen den Gesundheitsstatus und im Alter die persönliche Mobilität, also wie man sich in seiner Umgebung, der Umwelt, bewegen kann und wie weit dieser Radius reicht. Der Radius wird aber auch über die Einbindung in soziale Netzwerke entscheidend determiniert. Freunde und ehemalige Arbeitskolleginnen können auf Neues aufmerksam machen und hierfür Interesse wecken. An der Gesellschaft teilzuhaben, kann auch bedeuten, an Bildung teilzuhaben. Diese Teilhabe ist allerdings von der jeweiligen Entfernung der Bildungsstätten zum Wohnort und dementsprechend auch von der Mobilität sowie vom jeweiligen Gesundheitszustand abhängig.

Zusätzlich zu diesen Einflussfaktoren handelt jedes Individuum anders, wobei die Handlungsmotivation meist wiederum von diesen Faktoren beeinflusst wird. Neben soziodemographischen Merkmalen wird das Handeln also von subjektiven Einschätzungen beeinflusst, die dann zusammen auf die Lebenssituation eines Individuums wirken. Für die Lebenssituation im Alter und die Verarbeitung des Alterns sind persönliche Einschätzungen der körperlichen Veränderungen und individuelle Bewältigungsstrategien dieser ebenfalls verantwortlich.

Durch diese Einflussgrößen und die heterogenen Biographien, die sie bestimmen, kommt es zu einer Differenzierung des Alter(n)s. Die Lebensphase Alter und der Prozess dorthin können nicht mehr als eine einheitliche Kategorie verallgemeinert werden. Durch Individualisierungstendenzen kommt es zu Differenzierungen in der Lebensphase Alter. So werden in jüngster Zeit Ältere und das Alter als Gesamtes nicht mehr als Verfall, Krankheit und Rückzug vom gesellschaftlichen Leben begriffen, sondern – auch durch die Ausdehnung der Lebensphase „Alter“ durch immer längere Lebenszeiten – Ältere als aktive, am Leben teilhabende Menschen erfasst. Es haben sich also auch die Altersbilder – die Vorstellungen über das Alter und Altern – gewandelt. Gemäß der Theorie des aktiven Alterns bleiben aktive Menschen länger gesund und selbstständig und können daher entsprechend lange am sozialen Leben teilhaben. Dennoch wurde dieses Konzept kritisiert, da Menschen nicht immer produktiv sein müssen bzw. können – es soll auch gebrechliche Ältere geben. Zudem wird argumentiert, dass die Theorie aus Angst vor der Untragbarkeit immer mehr Älterer und immer älter werdender Menschen, welche die Gesellschaft belasten, entstanden ist. Durch soziale Teilhabe und Produktivität soll eine möglichst lange Emanzipation und Eigenständigkeit gegeben sein, die jedoch auch wieder auf die Lebensqualität bzw. Lebenszufriedenheit eines Individuums wirkt. Kernelement hier ist die soziale Teilhabe am gesellschaftlichen Leben durch Weiterbildung und Lernen im Alter.

Soziale Wandlungsprozesse haben innerhalb der letzten Jahrzehnte zu einem Strukturwandel der Gesellschaft und infolgedessen auch zu einem Strukturwandel des Alters geführt. Verbesserte Lebensbedingungen und medizinischer Fortschritt erhöhten die Lebenserwartung; gepaart mit der in Relation dazu frühen Entberuflichung kommt es zu einer Ausweitung der Lebensphase „Alter“. Mit diesen demographischen und sozialen Veränderungen geht somit eine Differenzierung des Alters einher. Durch diese sowie durch Individualisierungstendenzen, die infolge des Strukturwandels erscheinen, gibt es auch immer mehr Ältere, die ihr Leben aktiv gestalten und teilhaben wollen.

Durch die Verlängerung der Lebensphase „Alter“ und den daraus entstehenden Entwicklungen innerhalb dieser, entsteht die Problematik für die Wissenschaft diese lange Altersphase entsprechend zu differenzieren – und zwar in angemessene Phasen einzuteilen. Peter Laslett (1995) orientiert sich dabei am Lebenslauf des Individuums und bietet die Bezeichnung des zweiten, dritten und vierten Alters an (vgl. ebd.: 33ff). Das erste Alter wird von Laslett als „Zeit der Abhängigkeit, Sozialisation, Unreife und Erziehung“ definiert. Das zweite Alter steht für die Zeit der Unabhängigkeit, Reife und Verantwortung, des Verdienens und Sparens. Das dritte Alter bezeichnet die Zeit der persönlichen Erfüllung und das vierte Alter ist die Zeit der unabänderlichen Abhängigkeit, der Altersschwäche und des Todes (Laslett, 1995: 35). Laslett möchte diese Einteilung jedoch nicht an bestimmten Grenzen festmachen, die an Jahre gebunden sind und betont, dass das dritte Alter gleichzeitig mit dem zweiten oder sogar mit dem ersten Alter gelebt werden kann. Der Autor bezeichnet jedoch gerade das dritte Alter als bedeutsamste Phase im Lebenslauf eines Menschen (vgl. Laslett, 1995: 35). Oft wird das dritte mit dem vierten Alter verwechselt, also das Alter der Erfüllung mit dem Alter des Verfalls. Somit erscheint es noch wichtiger, das dritte Alter als etwas Eigenständiges zu identifizieren (vgl. Laslett, 1995: 36). Laslett bezeichnet den Übergang zwischen zweitem und drittem Lebensalter als Beginn des Ruhestandes und Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis (vgl. ebd.: 130). Die vierte Lebensphase kann als fragiles Alter und Phase der Pflegebedürftigkeit bezeichnet werden (vgl. Höpflinger, 2011: 4f). Bei letzterer Begriffsbestimmung treten die klassischen Defizitvorstellungen des Alters hervor. Hier macht sich ein asymmetrischer Wertewandel bemerkbar: Einerseits sprechen wir von einem starken, generationsbedingten Strukturwandel mit damit einhergehender verstärkter Individualisierung und neuen gesellschaftlichen Verpflichtungen. Andererseits konzentrieren sich traditionelle negative Altersbilder immer stärker auf das hohe Lebensalter, in dem sich aufgrund altersbezogener Einschränkungen deutliche Begrenzungen individueller Gestaltungspielräume ergeben. Daraus folgt, dass es das Alter als klar und abgrenzbare soziale Größe nicht gibt, sondern es zeigen sich unterschiedliche und teilweise gegensätzlich wertmäßige und strukturelle Entwicklungen je nach Altersphase (vgl. Höpflinger, 2011: 4f).

Laslett wollte sich nicht mit einer Klassifizierung anhand des kalendarischen Alters begnügen, jedoch ist für empirische Untersuchungen eine solche notwendig. So werden „junge Alte“ bzw. „neue Alte“ als jene klassifiziert, die zwischen 50 und 70 Jahre alt sind und für Produktivität und Erfolg stehen. „Hochaltrige“ bzw. „alte Alte“ stehen zwischen 80 und 100 Jahren. Junge Alte sind im dritten, Hochaltrige im vierten Lebensalter (vgl. Sternberg, 2009: 21). In der sozialwissenschaftlichen Diskussion werden über 80-Jährige bzw. über 85-Jähirge meist als „Hochbetagte“ definiert. Diese Festlegungen beruhen auf demographischen Überlegungen und Zahlen zur Pflegeprävalenz (vgl. Kolland, 2011: 432). Ähnlich gestaltet ist auch die Einteilung in das frühe Alter ab dem 65. Lebensjahr und in das späte Alter ab dem 80. Lebensjahr.

Zu den demographischen Veränderungen, der Verlängerung der Lebenszeit und der Ausdifferenzierung der Lebensphase Alter kommt ein Strukturwandel im Altersaufbau, der sogenannten Altersstrukturwandel (vgl. Tews, 1993; Kade, 2009).

Der Strukturwandel des Alters wird nach Tews (1993) durch vier zentrale Merkmale definiert, welche den individuellen Alternsprozess beeinflussen:

Die Entberuflichung wird dadurch definiert, dass immer mehr Ältere immer früher das Ruhestandsalter erreichen. Diese Entwicklung wird als Begleiterscheinung des demografischen Wandels und der dadurch veränderten Erwerbsquoten bzw. des Erwerbsverhaltens erklärt. Somit wird die Lebensphase nach der Erwerbsarbeit auch immer länger und steht als eigene Lebensphase für sich (vgl. Imhoff, 1981; zit.n. Kade, 2009: 24).

„Ein weiteres Charakteristikum der Moderne ist die ‚Feminisierung des Alters‘“ (vgl. Tews, 1993). Vorerst können Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs Erklärungsansätze bieten, warum es weniger Männer in der Bevölkerung gibt, allerdings ist ebenso zu beachten, dass der Anteil der Frauen an der Bevölkerung im höheren Alter aufgrund ihrer höheren Lebenserwartung stetig ansteigt. Es kann behauptet werden, dass das Alter weiblich ist (vgl. Kade, 2009: 26). Dies bilden auch die Bevölkerungszahlen in Österreich für das Jahr 2011 ab: In der Altersgruppe der 60 bis 69-Jährigen beginnt schon ein leichter Frauenüberschuss, 52 % der Bevölkerung ist weiblich, 48 % männlich. In der Altersgruppe der 70 bis 79-Jährigen zeigt sich ein Frauen-Anteil von 56 %, bei den 80-Jährigen und Älteren liegt der Frauenanteil bei 68 % dieser Altersgruppe (Statistik Austria, 20112).

Männer

Frauen

60–69 Jahre

48 %

52 %

70–79 Jahre

44 %

56 %

80+ Jahre

32 %

68 %

Tabelle 1: Bevölkerung Österreich nach Geschlecht und Alter3

In Deutschland waren 2004 rund 59 % der 65-jährigen Frauen (vgl. Destatis, 20064). Die Feminisierung des Alters ist ein gesamteuropäisches Phänomen.

Mit der strukturellen Entwicklung der Feminisierung ist auch die Singularisierung – das Alleinleben in einem Haushalt – verbunden. Diese Lebensform macht auch nicht mehr vor dem Alter halt. Die Zeit der Großfamilie ist vorbei. „Weder in Städten noch auf dem Lande lebt die Mehrheit der Älteren im Haushalt der Kinder.“ (Kade, 2009: 26). Die Feminisierung im Alter schlägt sich mit der Singularisierung so nieder, dass Frauen im Alter häufiger in Einpersonenhaushalten leben, während Männer häufiger in Zweipersonenhaushalten leben. „In den Altersgruppen über 60 sind die Mehrheit verwitwete Frauen aufgrund der höheren Lebenserwartung und des höheren Heiratsalters“ (Kade, 2009: 27). „Erst unter Hochaltrigen sind auch über die Hälfte der Männer allein“ (Kade, 2007: 27). Durch das Alleinleben schleicht sich auch oft Vereinsamung und Isolation bei älteren Frauen ein. Diese Tatsache ist ein Erklärungsansatz, warum Frauen häufiger Bildungsangebote aufsuchen, nämlich damit sie unter Leute kommen und am gesellschaftlichen Leben teilhaben können (vgl. Kade, 2009: 26f).

Das Merkmal der Hochaltrigkeit wird u.a. durch das „dreifache Altern“ von Tews (1993) determiniert. Damit ist gemeint, dass, wenn man die demographische Entwicklung und die Prognosen dazu betrachtet, der Anteil älterer Menschen absolut und relativ gesehen zum sinkenden Anteil jüngerer Menschen wachsen wird und dass mit einem starken Anstieg der über 75-Jährigen zu rechnen ist. „Dreifaches Altern heißt somit, dass mehr alte Menschen im Verhältnis zu weniger werdenden Jüngeren noch immer etwas älter werden. Dies hängt von der Entwicklung der Lebenserwartung ab.“ (Tews, 1993: 17). Diese Entwicklung des „dreifachen Alterns“ hat dazu geführt, dass die heute 80-Jährigen zu den Hochaltrigen gerechnet werden und nicht wie „früher“ (Tews, 1993: 32) schon ab 75 Jahren von „Hochaltrigkeit“ gesprochen wurde. Mit dem hohen Alter sind häufig die negativen Seiten wie familiäre Isolierung, Vereinsamung, Krankheit, Hilfe- und Pflegeabhängigkeit und Behandlungsbedürftigkeit, wie z.B. die Aufnahme in ein Pflegeheim, verbunden, wobei diese negativen Seiten bereits vor zwei Jahrzehnten rückläufig/in der Minderheit waren (vgl. Tews, 1993: 17ff). Die Zunahme der Hochaltrigkeit wird ebenso in den Bevölkerungsprognosen für Österreich ersichtlich: Im Jahre 2011 stieg der Anteil der 65-Jährigen und Älteren auf 17,7 % gegenüber 14,9 % im Jahre 1990 (vgl. Statistik Austria5). Im Jahr 2011 waren 4,9 % der Bevölkerung 80 Jahre oder älter. Bis zum Jahr 2030 wird für Österreich geschätzt, dass sogar 24,0 % der Bevölkerung 65 Jahre oder älter sein wird bzw. 7,1 % 80 Jahre und älter (vgl. Statistik Austria, 2012: 799).

Parallel zu diesem Strukturwandel des Alters, der durch die oben genannten Entwicklungen der frühen Entberuflichung, Feminisierung und Hochaltrigkeit gekennzeichnet ist, findet eine Differenzierung im Alter statt. Aufgrund der Auflösung der Normalbiographie kommt heute eine Generation mit stark individualisierten Lebensverläufen „in die Jahre“. Diese Gruppe bezeichnet man auch als die „Neuen Alten“. Sie prägen in ihrem Alterungsprozess gleichsam die Lebensphase Alter neu. Das „neue Alter“ ist u.a. durch Kreativität und Aktivität, Unabhängigkeit und Eigenständigkeit, Freizeit- und Konsumorientierung inklusiver vergleichsweise guter Einkommens- und Vermögensverhältnisse gekennzeichnet (vgl. Dieck/Naegele, 1993: 43ff). Dieses „neue Alter“ wird als positive Antwort auf das Defizitmodell des Alters formuliert. In diesem Zusammenhang sei noch der Begriff der „Babyboomer“ erwähnt. Die „Babyboomer“ bezeichnen die geburtenstarken Jahrgänge der Nachkriegsjahre bis Mitte der 1960er Jahre. Die 1960er Babyboomer, auch „Wohlstands-Babyboomer“ genannt, sind ein Auslöser der verstärkten demografischen Alterung.6 Da sie im Wohlstand aufgewachsen sind und den daraus entwickelten bürgerlichen Idealen ihrer Eltern entgehen wollen, bekommen sie selbst weniger Kinder. Die Nachkriegsgeneration wiederum profitiert vom enormen Wohlstandsgewinn und der bildungsbezogenen Modernisierung. Und zwar in dem Sinne, dass diese mit dem Älterwerden – durch bessere Gesundheit und einer guten wirtschaftlichen Absicherung im Alter – aktivere Verhaltensweisen aufweist. Zusätzlich bleiben die Angehörigen dieser Generation durch das Leben in einer mobilen und sich ständig ändernden Gesellschaft innovativ und lernbereit. Sie stellen somit die erste Generation Alternder dar, welche die Erfahrung macht, dass Altern kein passiver Prozess ist, sondern ein „aktives Altern“ auch aktiv gestaltet werden muss (vgl. Höpflinger, 2011: 1ff).

Dieses neue Alter wird als Leitbild für aktives – im Sinne von produktiven – Altern definiert. Das Konzept des produktiven Alterns kann als Gegenargument zu Ängsten bezüglich einer steigenden Alterslast betrachtet werden. Denn wenn ältere Menschen weiterhin produktive gesellschaftliche Leistungen erbringen, werden Befürchtungen einer demografisch bedingten Gefährdung des Generationenvertrags hinfällig (Höpflinger, 2011: 28). Dabei stehen (lt. Höpflinger) zwei unterschiedliche Ansätze im Zentrum produktiven Alterns. Einerseits die Ausdehnung der Lebensarbeitszeit nach oben durch die Erhöhung des Rentenalters und andererseits die Stärkung und Förderung unbezahlter ehrenamtlicher bzw. freiwilliger Aktivitäten älterer Menschen.

Die Erhöhung des Rentenalters soll als beruhigendes Argument gelten und dafür stehen, dass sich zukünftige Probleme der umlagefinanzierten Altersvorsorge entschärfen können. Durch die demografische Alterung steigt der Anteil der Menschen im Ruhestand, was eine Herausforderung für das Pensionssystem darstellt. Das Modell der Altersteilzeit wird als zukünftige vierte Säule der Altersvorsorge und somit „Lösung des Problems“ gehandhabt.

Die Förderung von ehrenamtlichen Aktivitäten im Alter wird u.a. damit argumentiert, dass sich das Potential älterer Menschen nutzbar machen lässt und es positive Auswirkungen auf Generationenzusammenhalt gibt (vgl. Höpflinger, 2011: 28f). Ehrenamtliche Engagements im Alter zeichnen sich durch ihre hohe Bedeutung für ein produktives und selbstbestimmtes Altern bzw. ihren Anteil an lebenslangem Lernen als essentiell für soziale Teilhabe im Alter aus.

Nicht zu vergessen bleibt der Wandel der Altersbilder, der durch den Altersstrukturwandel beeinflusst wurde. „Unter Altersbildern versteht man im Allgemeinen orientierende Ansichten sowie Vorstellungen über das Alter und über die im Alternsprozess zu erwartenden Veränderungen sowie über die für ältere Menschen mutmaßlich charakteristischen Eigenschaften. Altersbilder umfassen Ansichten von Gesundheit und Krankheit im Alter, Vorstellungen über Autonomie und Abhängigkeiten, Kompetenzen und Defizite, über Freiräume, Gelassenheit und Weisheit, aber auch Befürchtungen über materielle Einbußen und Gedanken über Sterben und Tod. Grundsätzlich muss bei der Betrachtung des Altersbildes unterschieden werden zwischen dem Bild, dass sich die Gesellschaft, also viele Menschen jeden Alters, von ‚den alten Menschen‘ und vom Alter allgemein macht (Fremdbild) und der Art und Weise, wie ältere und alte Menschen sich selbst sehen (Selbstbild)“ (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2001, zit.n. Adolph, 2006: 2). Es wird davon ausgegangen, dass Alterswahrnehmungen schon ab 30 Jahren stattfinden (vgl. Tews, 1991: 43). Allerdings haben die Vorstellungen der Jüngeren über die Situation der Älteren und deren Selbstwahrnehmung nicht viel miteinander gemeinsam (vgl. ebd.: 125). Einzig das Fremdbild von Alten ist bei Jüngeren und Alten gleich negativ dominiert (vgl. Tews, 1991: 63).

Altersbilder beeinflussen die Weiterbildungsinteressen Älterer und wirken als Konstruktionen auf das Selbstkonzept und auf Fremdzuschreibungen. Zusätzlich wird erst durch die Fremdzuschreibung „alt“ ein Perspektivenwechsel auf das Alter ausgelöst und das eigene Altern rückt ins Bewusstsein (Kade, 2009: 13). Alt sein und Alt werden ist Laslett (1995) zufolge trotz allem mit sichtlichem Widerwillen verbunden. So kann sogar von einer Feindseligkeit gegenüber Alten oder dem Alt werden gesprochen werden. Diese Feindseligkeit kann in Altershass bzw. Diskriminierung der Alten, im sogenannten „Ageism“, münden (vgl. Laslett, 1995: 47). Ende der 1960er Jahre prägte Robert Butler den Begriff „Ageism“, mit dem die Diskriminierung von Menschen mittleren Alters und älterer Menschen bezeichnet wird (vgl. Tews, 1991: 26). Negative Altersbilder im Alter führen laut der Ageism-These von Robert Butler (1969) zu sozialer Benachteiligung und beeinflussen somit die Aktivitäten – so auch die Bildungsteilnahme – von älteren Menschen (vgl. Kolland/Ahmadi, 2010: 52). Zusätzlich können negative Altersbilder der Gesellschaft (Fremdbilder) Auswirkungen auf das Selbstbild älterer Menschen haben (vgl. Tews, 1991: 90).

Jedoch bedeutet eine Ablehnung der Alten im Grunde Selbsthass und eine „Zurückweisung dessen, wozu man selbst unweigerlich werden muss“ (Laslett, 1995: 47). Negative Altersbilder werden oft durch Medien transportiert und zeigen Ältere als „Hilfsbedürftige“, die der Gesellschaft zur Last fallen oder aber als egoistische „Konsumenten“, die sich auf Kosten der Jüngeren bedienen (vgl. Kade, 2009: 17). Dabei wird die positive Alterswirklichkeit vernachlässigt: Das Engagement der Älteren wächst immer mehr und beträgt unter den jungen Alten, den 55- bis 65-Jährigen, 40 % (Kade, 2009: 17).

bzw.