Mami 1812 – Mit dir zurück ins Leben

Mami –1812–

Mit dir zurück ins Leben

Roman von Gisela Reutling

  »O nein, nicht schon wieder, Vicky«, seufzte Christian und fuhr sich über das dichte blonde Haar. »Könnten wir nicht einmal einen Abend in aller Ruhe zu Hause verbringen?«

  Er betonte dieses Einmal, als gäbe es derzeit nichts Erstrebenswerteres für ihn.

  »Du redest schon wie ein alter Mann«, schmollte Vicky. »Wir können doch eine Einladung beim Conte Castellane nicht ausschlagen.«

  »Warum nicht?« fragte Christian kurz.

  Seine Frau schüttelte den Kopf ob dieser, wie ihr schien, ungeheuer naiven Frage. »Wie sähe das denn aus, wo er das Fest zu Ehren Carlottas gibt!« entrüstete sie sich.

  »Und wer ist Carlotta?«

  Es klang einigermaßen uninteressiert. Da gab es so viele in ihrem riesigen Bekanntenkreis. Wie sollte er sich alle Namen merken.

  »Du hörst eben nicht richtig zu, wenn ich dir etwas erzähle«, warf Vicky ihm vor. »Carlotta Serano, die große Sängerin, verheiratete Gräfin Castellane. Serano ist nur ihr Künstlername. Sie war auf einer Tournée rund um die Welt. Nun endlich ist sie wieder in Rom, und das muß doch gefeiert werden. Wenn du das nicht einsiehst, Christian, ist dir nicht zu helfen.«

  Er mußte ein wenig lächeln über den Eifer, mit dem sie die Worte hervorbrachte. Die halbe römische Gesellschaft, Geldadel und Aristokratie, würde wahrscheinlich dort versammelt sein. Was machte es schon, wenn sie dabei fehlten.

  Aber für Vicky, geborene Victoria Conti, war das eben undenkbar.

  »Schon gut«, lenkte er ein, und er sah sie an. Sie trug noch ihren buntseidenen Hausanzug, das üppige schwarze Haar hing ihr ungeordnet über die Schultern. »Den ›alten Mann‹ kann ich doch nicht auf mir sitzenlassen«, fügte er scherzhaft hinzu. Aber es lag auch ein Anflug von Resignation im Ton seiner Stimme.

  Vicky lachte schon wieder. Sie warf ihm eine Kußhand zu und wirbelte hinaus, um unter ihren Abendroben, die mehrere Wandschränke füllten, eine passende auszuwählen. Dazu den Schmuck, die Schuhe, das ganze Zubehör – was gab es nicht noch alles zu tun für sie und ihre Zofe Nellie.

  Christian trat ans Fenster. Er blickte in den herbstlich gewordenen, von schmiedeeisernen Laternen erhellten Park hinaus, der ihr Haus umgab. Im Swimmingpool war das Wasser abgelassen, die komfortablen Liegen und Gartenmöbel weggeräumt. Dafür war nun die Zeit der Bälle und Feste gekommen, der Theater und Kabaretts.

  Würde er sich jemals daran gewöhnen können, daß nahezu jeder Abend verplant war?

  Wie wünschte er sich manchmal ein paar stille Stunden unter der Leselampe, mit einem guten Buch, in das er sich vertiefen konnte. Setzte er sich wirklich einmal dazu hin, dauerte es nicht lange, bis Vicky von hinten auf ihn zutrat, die Arme um seinen Nacken schlang und ihre weiche Wange an die seine schmiegte.

  »Liebling, laß uns noch ein bißchen ausgehen, ja«, schmeichelte ihre Stimme an seinem Ohr. »Bei Charly treffen wir bestimmt ein paar nette Leute, mit denen wir Spaß haben werden.«

  Charlys Bar war im Moment ›in‹, man amüsierte sich dort bei raffinierten Drinks und Champagner zu horrenden Preisen. Er, Christian, tat seiner schönen jungen Frau zuliebe so, als amüsiere er sich auch.

  Aber im tiefsten Innern fühlte er sich hier und dort und überall immer noch wie ein Fremdling.

  Dabei lebte er nun schon seit fünf Jahren in Rom, seit drei Jahren war er mit Victoria verheiratet, der Tochter eines der reichsten Männer Italiens. Von dem Junglehrer Christian Boysen, der sich in seiner Heimat vergeblich um eine Anstellung bemüht hatte, war nicht mehr viel übriggeblieben.

  Dank seiner italienischen Verwandtschaft mütterlicherseits hatte er hier an einer internationalen Schule Fuß fassen können. Es hatte ihm gefallen, er schrieb eine Doktorarbeit über Kunstgeschichte.

  Nebenbei war er durch seine Kusine Anne, die mit dem cleveren Geschäftsmann Mainardi eine glänzende Partie gemacht hatte, in Kreise gekommen, die er früher nicht gekannt hatte.

  Und dort war es geschehen, daß ein junges, von Luxus verwöhntes, vielumschwärmtes Mädchen seine Netze nach dem blonden Deutschen ausgeworfen hatte…

  Christian bereute diese Formulierung sofort, die ihm da durch den Sinn gegangen war.

  Er liebte Vicky doch, und sie liebte ihn, mit ihrem ganzen heißblütigen Temperament. Leidenschaftliche Stunden löschten Trennendes aus.

  Verschiedene Wesensarten, gewiß, bedingt auch durch völlig andere Herkunft, ein anderes Weltbild. Aber er gab sich immer wieder Mühe, die Brücke zu ihrer Welt zu suchen. Er sollte sie doch eines Tages finden.

  Damit wandte sich Christian vom Fenster ab und ging hinauf, um sich ebenfalls für die Gesellschaft beim Conte Castellane umzukleiden.

*

  Es war das Übliche: Viel Glanz und Glamour, Eleganz und Schmuckgefunkel bei den Damen. Strahlendhell erleuchtete Räume, Marmorkamine und hohe, stuckverzierte Decken. Dieser Herrensitz war seit Generationen in der Familie, er besaß einen gewissen altmodischen Charme.

  Christian kam es vor, als wechselten nur die Kulissen. Die Personen blieben dieselben. Das ging bis hin zu den Dienern, die auf silbernen Tabletts die Getränke anboten. Leichte Plauderei, Smalltalk nannte man das – wie gut er das alles kannte.

  Aber dann war es doch nicht das Übliche.

  Für Christian Boysen erhielt dieser Abend schlagartig eine andere Bedeutung, als er der Dame des Hauses vorgestellt wurde. Der Contessa Castellane.

  Es war ihm einen Moment, als flöße alles Blut von seinem Herzen…

  Ein leichter Schwindel erfaßte ihn, als er sich zum Kuß über ihre Hand neigte. Er sah auf, und er mußte feststellen, daß er sich nicht geirrt hatte. Die Ähnlichkeit mit Andrea war tatsächlich frappierend!

  Eine wesentlich ältere Andrea natürlich. Dies war kein junges glattes Gesicht mehr, sondern ein Frauenantlitz, in dem viel Wissen und Erfahrung und gelebtes Leben stand.

  Aber diese Wangenlinie von den Schläfen zum Kinn, die Stirnpartie, der Schnitt der Augen – selbst die Farbe war die gleiche. Rauch über herbstlichen Feldern, hatte er manchmal gedacht, wenn er Andrea in die Augen sah.

  Ein paar liebenswürdige Worte der Begrüßung, und die Contessa wandte sich dem nächsten Gast zu.

  Die Verwirrung des jungen Mannes schien ihr entgangen zu sein. Oder war sie daran gewöhnt, daß man sie hingerissen anstarrte, die auf allen Opernbühnen der Welt Gefeierte, Umjubelte.

  Fortan sah Christian alles nur wie durch einen leichten Nebel. Klar und brennend wurde sein Blick nur, wenn er Sie entdeckte in der Menge der Gäste, welche die nach langer Abwesenheit heimgekehrte immer wieder umringten.

  Erinnerte sie ihn nicht auch in ihren Bewegungen an Andrea, im Neigen des Kopfes, im leichten heiteren Lächeln, mit dem sie Komplimente entgegennahm.

  »Was ist los mit dir«, sagte Vicky, irgendwann, auf ihn zutretend. »Du gehst herum wie eine aufgezogene Marionette. Gefällt es dir hier nicht?«

  »Verzeih… ich fühle mich nicht ganz wohl.«

  »Oh!« Erschrocken legte sie ihm die Hand auf den Arm. »Sollen wir lieber schon gehen?«

  Sie war plötzlich ganz besorgte Ehefrau, in ihrer feuerroten Taftrobe, mit der Goldkette im tiefen Décolletée. Eine Strähne hatte sich aus ihrer aufgesteckten Abendfrisur gelöst und hing an ihrer Wange herab.

  Christian zwang sich zu einem Lächeln. »Du möchtest doch sicher noch bleiben, Vicky. Ich will dir nicht den Abend verderben.« Er zögerte. »Ich kann auch allein das Fest verlassen. Es sind genug Freunde von dir hier. Bruno soll mit dem Wagen auf dich warten.«

  Er hatte plötzlich das Bedürfnis, durch die Straßen zu laufen, sich die kühle Abendluft um die Schläfen wehen zu lassen.

  Aber damit kam er bei Vicky schlecht an.

  »Ohne dich bleibe ich auch nicht«, erklärte sie fest. »Bei diesen vielen Gästen können wir unbemerkt verschwinden.«

  In der langen Reihe der Wagen, die an der Auffahrt parkten, stand der Bentley. Der Chauffeur öffnete den Schlag.

  »Nach Hause, Bruno.«

  Unterwegs nahm Vicky die Hand ihres Mannes.

  »Du siehst müde aus«, stellte sie fest. »Ich werde Papa sagen, daß er dich nicht so sehr in Anspruch nehmen soll. Die Arbeit sollen andere tun.«

  »Aber nein«, wehrte Christian ab, »so ist es doch nicht. Ich werde eine Kopfschmerztablette nehmen und schlafen gehen. Morgen bin ich wieder fit.«

  Vicky drückte seine Hand und ließ sie los.

  Christian fühlte sich durchaus nicht zu sehr in Anspruch genommen von seinem Schwiegervater, im Gegenteil, er wünschte sich größere, befriedigendere Aufgaben. Er saß zwar in der Chefetage, doch viel gab es nicht für ihn zu tun, jedenfalls nichts Bedeutendes. Carlo Conti war Besitzer einer Kette von Luxushotels, die sich über ganz Italien hinzog. Er, Christian, hatte sich in die ihm fremde Materie eingearbeitet, aber sein Einsatz blieb bescheiden und stand in keiner Beziehung zu den großzügigen Einkünften, die ihm und Vicky den aufwendigen Lebensstil erlaubten.

  »Die Contessa ist schon eine besondere Frau«, plauderte Vicky neben ihm. »Eigentlich wirkt sie gar nicht wie eine Primadonna, sondern eher schlicht. Ich hatte sie mir pompöser vorgestellt in ihrem Auftreten. Ihr Kleid war auch nicht so toll. Wie findest du sie?«

  »So genau habe ich sie mir nicht angesehen«, wich Christian aus. Dabei stand sie doch noch überdeutlich vor ihm, herausgehoben aus der Menge, an die er sich nur schattenhaft erinnerte.

  »Wenn man bedenkt, daß sie nicht mehr jung ist, wahrscheinlich geht sie schon auf die Fünfzig zu, und trotzdem hat ihre große Stimme noch diese Fülle, erstaunlich«, redete Vicky in leichtem Ton weiter. Und dann: »Ist dir auch dieser schöne Jüngling aufgefallen, der sich an ihrer Seite hielt? Das ist ihr Stiefsohn. Der Sohn des Conte aus seiner ersten Ehe.«

  »Ich habe nicht weiter darauf geachtet«, sagte Christian.

  »Stimmt, du warst ja gar nicht richtig da. Armer Schatz.« Sie tätschelte seine Hand. »Wie ist das denn nur so plötzlich gekommen?«

  Sie hatten getrennte Schlafzimmer, auch wenn er das seine nur selten benutzte. Aber an diesem Abend war Christian froh darüber, sich zurückziehen zu können. Vicky brauchte wie immer lange für ihre Toilette. Sie saß noch vor dem Frisierspiegel und bürstete ihr gelöstes Haar, als er ihr eine gute Nacht wünschte.

  »Hast du auch die Tablette genommen?« fragte sie in gespielt strengem Ton über die Schulter.

  »Ja«, log Christian, der den Kopfschmerz nur vorgeschützt hatte.

  Endlich war er allein und konnte seinen Gedanken nachhängen. Man war so selten allein, wenn man verheiratet war.

  War es nicht seltsam, daß es ihm einen Schlag aufs Herz gegeben hatte, als er der Contessa ins Antlitz sah. Es war, als hätte ein Bildhauer zwei Köpfe nach demselben Modell geschaffen, nur eben in zwei verschiedenen Lebensaltern.

  Andrea mußte jetzt auch etwa Dreißig sein. Andrea Marian. Ob sie immer noch so hieß? Sicher war sie längst verheiratet.

  Er hatte nichts mehr von ihr gehört, wie sollte er auch. Da war dieser letzte Anruf gewesen, vor Jahren. Sie hatte ihn angerufen, nachdem sie erfahren hatte, daß er in ihrer Stadt gewesen war, über Weihnachten bei seinen Eltern, und daß er sich nicht einmal bei ihr gemeldet hatte.

  Damals hatte er ihr klarmachen müssen, daß es nur wieder einen neuerlichen Abschied gegeben hätte, da sie doch nicht bereit war, mit ihm in Italien zu leben. Vor allem ihrer Mutter wegen, an der sie mit großer Innigkeit hing und die sie glaubte nicht lassen zu können.

  Die Trennung war sehr bitter gewesen, für beide Teile. Er hatte sich diese erste wahrhafte Liebe aus dem Herzen gerissen, und schließlich existierte kein Mädchen Andrea mehr für ihn, und er hatte Victoria Conti geheiratet.

  Jetzt, in dieser vergrübelten Nachtstunde, stellte sich Christian vor, wie anders sein Leben mit Andrea verlaufen wäre. In vergleichsweise bescheidenem bürgerlichem Rahmen, wie er es nicht anders gekannt hatte. Er wäre er selbst geblieben!

  Fruchtlose Gedanken – hinweg damit.

  Die Zeit mit Andrea, die war schon so lange vorbei. Eine ferne, verblaßte Erinnerung nur noch, die ihm nie mehr bewußt geworden war.

  Bis heute. Bis zu diesem Abend…

  Sei kein Narr, sagte der ruhelose Mann zu sich, während er, bloßfüßig, auf dem weichen Teppich auf und ab lief. Eine zufällige Ähnlichkeit mit einer italienischen Gräfin, na und? Wie kann dich das nur so umwerfen.

  Das sollte es doch geben: Doppelgänger, Menschen, die einander auf unheimliche Weise glichen. Ein Spiel der Natur. Lächerlich, daraus ein aufwühlendes Erlebnis zu machen.

  Damit verscheuchte er endlich die Bilder vor seinen Augen und legte sich hin. Aber der Verstand konnte das Unterbewußtsein nicht ausschalten. In einem wirren Traum verschmolzen ihm zwei Gesichter zu einem, und Andrea lächelte ihm zu. Oder war es die Contessa, die mit leichtem Schritt, einer schwebenden Erscheinung gleich, an ihm vorüberging. Vergebens versuchte er, die eine oder andere festzuhalten, bemühte sich so verzweifelt darum, wie es nur einem Träumenden geschehen konnte, gejagt, gehetzt und doch unfähig, weil er gefesselt war, gebannt auf einen Platz, von dem er sich nicht fortrühren konnte. Schweißgebadet wachte Christian auf.

*

  Der Alltag vertrieb den Spuk. Denn als einen solchen kam es Christian im Nachhinein vor. Die Dinge waren wieder zurechtgerückt. Es gab keinen Gedanken mehr an seine Jugendliebe noch an die Frau im Palazzo.

  Auch als seine Frau diese einmal erwähnte, blieb er unbewegt.