Charles Baudelaire

 

Der junge Zauberer

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

 

Cover: Gemälde "Romans of the Decadence" von Thomas Cole

Covergestaltung: nexx verlag gmbh, 2014

 

ISBN/EAN: 9783958705159

 

Rechtschreibung und Schreibweise des Originaltextes wurden behutsam angepasst.

 

www.nexx-verlag.de

 

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Bei den in Anwesenheit des Königs von Neapel während der Restauration 1815 vorgenommenen Ausgrabungen fand man in einem der Gemächer des Aktaeonschen Hauses ein großes Freskogemälde von ganz wunderbarer Schönheit, das eine Gruppe von Nymphen darstellte, deren Augen der Hauptfigur zugewandt waren. Hinter ihr stand ein junger Amor, beugte sich lieblich über ihr Ohr und schien ihr ein Geheimnis zuzuflüstern. Die außerordentliche Grazie der Formen, der lebendige und gefällige Ausdruck des kleinen Flüsterers, die liebenswürdige Haltung der Nymphen und selbst der besondere Glanz der Farben, der wenigstens siebzehn Jahrhunderten Trotz geboten hatte, zogen die Augen aller Kenner auf sich. Natürlich war die italienische Fantasie bald dahinter, für dieses unvergleichliche Stück eine Erklärung und einen geschichtlichen Hintergrund zu finden. An jedem Tage entstanden neue Auslegungen, aber die Hauptsache: Die Wahrscheinlichkeit fehlte allen in gleicher Weise.

 

Indessen war es nicht die Bestimmung des geheimnisvollen Freskos, ewiges Geheimnis zu bleiben. In den ersten Monaten des Jahres 1836 wurde einer jener Papyrus, die nunmehr nach einem vom Chevalier Collini aus Neapel erfundenen vorzüglichen System aufgerollt werden, geöffnet und zeigte den erstaunten Betrachtern über dem ersten Teil des Manuskripts das Freskogemälde in Miniatur. Der vollkommen entrollte Papyrus enthielt nachfolgende Geschichte, nach der man zweifelsohne die Zeichnung gemacht hatte, mit der sie illustriert war. Eine Geschichte, die wir mit allen Verstümmelungen wiedergeben, die bei der Mürbheit der halbverbrannten Rolle unvermeidlich blieben. Die größte dieser Lücken befindet sich gerade am Anfang. Sie spottet noch den Forschungen aller italienischen Akademien und lässt ihrem Entdeckerfleiß freies Spiel.

 

 

***

 

»Oh Kallias, ich bin der Welt müde.«

 

»Ihr irrt, Sempronius; Ihr seid aller Dinge müde, nur nicht der Welt.«

 

»Ich weiß, was ich sage, Kallias, ich spreche ernsthaft. Aber wie Euch überzeugen, wie Euch glauben machen? Ihr Kallias, Skeptiker von Beruf, Ihr athenischer Schöngeist; Ihr sorgloser Seeräuber, bekannt auf allen Meeren des Vergnügens in Griechenland und Asien; Ihr, oh Kallias, Falter, der durch alle Gärten der menschlichen Tollheit von Blume zu Blume taumelt, wie könntet Ihr an eine unendliche Müdigkeit glauben, an diesen tiefen Ekel vor allem, was die Erde enthält? Aber Ihr seid ein epikureisches Tier.«

 

»Nein, melancholischer Philosoph, Ihr irrt noch immer. Ich bin ein wirklicher Epikureer; zart in meinem Geschmack, zurückhaltend in meinem Laster, zärtlich in meinen Freundschaften und in meinen Lieben, bin ich grausam und verächtlich nur für meine armen Landhäuser, und wahrhaftig, die einzige Sorge, die mich quält, ist zu wissen, ob ich morgen in meine Villa an die Ufer des Tibers reisen werde, oder ob ich meine müden Tage in der frischen Luft meiner Grotte in Sunium verleben soll, solange die Herrschaft dieses verliebten und verpesteten Gestirns anhält.«

 

Der Sirius ging auf, und der Glanz, den dieser König der Sternbilder ausstrahlte, färbte den ganzen Golf von Neapel in helles Licht. Die Augen des jungen und schönen Römers warfen auf die Natur einen eindringlichsten Blick, und er seufzte mehr, als dass er sprach: »Ach, dass der Wunsch nicht die Last meines Lebens abschütteln und mich zu jenen heldischen Reisenden des Feuerhimmels aufschwingen kann, die von unseren Sorgen so weit entfernt sind, wie sie sich selbst über die unreinen Wolken erheben!« Bei diesen Worten zog er in einer unbewussten Bewegung einen kleinen Dolch aus seiner Toga und hielt ihn hoch in die Helle der untergehenden Sonne, die die Schneide erglänzen ließ.

 

Kallias stand schnell auf, brach in Lachen aus, und rief den jungen Enthusiasten in die Gegenwart zurück. »Man kann das auf zweierlei Weise nur erklären«, rief der grausame Spötter. »Ein Mann blickt auf ein Messer so nur aus Rachsucht; eine Geliebte erobern oder eine Gattin beseitigen. Dann stimmt es! Aber Sempronius, wer könnte Euch so in Verzweiflung stürzen? – Ihr, der Ihr notorisch und öffentlich der bewundertste und begeistertste aller Männer seid, die den Luxus, die Grazien und die schönsten Beine des Palatins ehrlich anbeten. Ihr, der Tribun der kaiserlichen Legion, Ihr, für den die Wohlgerüche geradewegs aus Persien, die Kleider aus dem Zauberlande, wo die Würmer zu Webern werden, und die Geschmeide von den unbekannten Küsten Indiens kommen, Ihr, der Bevorzugte der Modeanbeter! Welche Schönheit könnte Euren unzähligen Verführungskünsten widerstehen?«