Inhaltsverzeichnis
Titelseite
IMPRESSUM
Über dieses Buch
WEISSES GRAS
Frohe Weihnachten!
Therapie im weißen Bett
»Du solltest etwas länger bleiben«
»Diese Person kommt mir verdächtig vor!«
Wie finden Mann und Frau zusammen?
Im Hotel ist alles möglich
SCHWARZE FAMILIE
Ein Mann aus Uganda
Familienzuwachs
Stella
»Ich weiß nicht, wann ich wiederkomme«
Das geschieht im 3. Teil
Was noch zu sagen ist

 

 

ROTE ERDE –

WEISSES GRAS

 

LUISA NATIWI

 

Co-Autor: Günther Döscher

 

 

Biografischer Roman

nach dem authentischen Lebensweg

eines Hirtenmädchens aus Uganda

 

Teil II

Lernen - Leben - Lieben

 

 

 

KADERA-VERLAG


IMPRESSUM

Luisa Natiwi

Rote Erde – weißes Gras

Mein Nomadenleben in zwei Welten · Biografischer Roman

Co-Autor: Günther Döscher

 

Die Handlung orientiert sich am authentischen Lebensweg der Autorin;

aus persönlichkeitsrechtlichen Gründen wurden Namen und Szenen

zum Teil verändert bzw. modifiziert.

 

Kontakt zur Autorin:

luisanatiwi@yahoo.de

 

© 2013

Kadera-Verlag, Norderstedt

www.kadera-verlag.de · verlag@kadera.de

Alle Rechte vorbehalten.

 

Cover-Portrait: Christiane Koch

Umschlaggestaltung und Vorsatz unter Verwendung von Bildmaterial aus dem

Fotolia-Stock (Krane / Uwe Graf / Pixeltheater / DApics) und Privatfotos der Autorin.

 

ISBN 978-3-944459-03-5 (Hardcover)

ISBN 978-3-944459-04-2 (e-Book mobi/Kindle – 3-teilig -07-3, -08-0, -09-7)

ISBN 978-3-944459-05-9 (e-Book ePUB)


Für meinen Vater, dem Häuptling

Isaak Lorika-Lotiang-Lotukoi von Toposa und Karamoja

und meine Mutter Foibe Keem Lopul

 

Für meine Kinder

Moses, Beatrace und Alexander

und meinen Bruder Jimmi

 

Mit Dank an den Klan, dem ich verbunden bin,

insbesondere Häuptling Hon. Minister a.D.

Edward Athiyo Lorika

 

In dankbarer Erinnerung an

Missionärin Silvia Burton, Canterbury,

meine Freunde in Deutschland

 

Luisa Natiwi

 

 

Leitsätze afrikanischer Weisheit:

 

Armut ist wie ein Löwe –

kämpfst du nicht, wirst du gefressen.

 

Wer auf einen Baum klettern will,

fängt unten an, nicht oben.

 

Nur im Vorwärtsgehen

gelangt man ans Ende der Reise.


Über dieses Buch

»Eine Karamojong!« So titelten wir den ersten Teil des dreiteiligen Lebensberichts »Rote Erde – weißes Gras«. Luisa Natiwi wächst in Karamoja auf, der kargen Hochebene im Nordosten Ugandas. Sie trägt den Stolz und Lebenswillen ihres Vaters Lorika in sich, der von den englischen Kolonialherren zum Gebiets-Häuptling eingesetzt wurde. Ein Pfeil aus dem Hinterhalt beendet sein Leben. Sechs Frauen verlieren ihren Mann, Schwestern und Brüder werden neu zugeordnet. Als achjähriges Hirtenmädchen erlebt Natiwi ihren zweiten Schicksalsschlag, als sie des nachts von einer Hyäne angefallen wird. Missionare entdecken das todgeweihte Kind und pflegen es gesund. Natiwi lernt die Sprache der Weißen, lernt lesen und schreiben, tritt ihrer Religion bei und besucht ein Lehrer-College. Sie wird die erste Lehrerin ihres Stammes. Idi Amin, gerade an die Macht geputscht, findet Gefallen an ihr – doch sie nicht an ihm. Als sie Husten bekommt, wird sie aus Furcht vor der Rinder-Tuberkulose gemieden. Sie vertraut einem deutschen Journalisten, der ihr Hoffnung auf Heilung in Deutschland vermittelt. Sie opfert ihr Erbe und fliegt nach Frankfurt...

»Weißes Gras«, ist Luisa Natiwis erster Eindruck, als sie am 24. Dezember 1975 aus dem Zugfenster in die weiß verschneite Landschaft zwischen Frankfurt und Mainz blickt. So beginnt dieser zweite Teil – eine Nomadin entdeckt Europa.

***

Luisa Natiwi kam nur einmal in die Autorengruppe in Hamburg-Eppendorf. Es war nicht ihre Sache, was dort diskutiert wurde. Doch dass diese große schwarze Frau aus Uganda ihre eigene ungewöhnliche Geschichte in sich trug, das sah man ihr an. Eines Tages hatte ich ein paar Seiten ihres Lebens in meiner Mailbox. Das Manuskript weckte meine journalistische Neugier. Ich hatte Fragen zu ihrem Nomadenleben und wollte wissen, wie sie Deutschland sah. Und ich bin mir sicher, dass es vielen so geht. Ich hatte viele Fragen und war bereit mitzuhelfen, dass das Buch Antworten gibt.

»Solch einen suche ich seit 2004«, sagte Luisa Natiwi. »Richard von Weizsäcker sagte mir damals, dass mein Leben ein Stück Geschichte sei, dass ich es unbedingt aufschreiben müsse. Ich habe es ihm versprochen. Aber es muss mir jemand dabei helfen.«

Bundespräsident a.D. Richard von Weizsäcker hatte Luisa Natiwi anlässlich der Africom-Auftaktveranstaltung in Berlin zum Tee eingeladen und erhielt dabei einen lebhaften Einblick in ihr Leben. Ein Weg aus der Steinzeit ins deutsche Wirtschaftswunder, auf dem Missionare, Kolonialherren, Lehrer-Studium, Diktator Idi Amin, Therapie in Deutschland, Rückkehr nach Uganda und Flucht zurück nach Deutschland die Meilensteine sind.

Es ist die Zeit des Umbruchs. Afrika will sich von der Fremdherrschaft befreien und gerät dabei in Konflikt mit den eigenen Völkern. Deutschland ist dynamisiert vom Aufbau nach dem Krieg und gleichzeitig in demütiger Wiedergutmachung. Es sind die Auswirkungen historischer Wandlungen, die im Alltags- und Familienleben von Luisa Natiwi zum Schicksal werden, im Glück wie im Unglück. Schmerzhaft dramatisch und exotisch romantisch. Manchmal kindlich naiv, dann unerbittlich brutal. Doch wie ein roter Faden zieht sich der unbändige Wille hindurch, jede Herausforderung zu bestehen.

Ein gutes Jahr lang arbeiteten wir im Team daran, die Ereignisse, Ängste und Freuden, die Bedrohungen und Erfolge in die Erinnerung zu holen. Auch längst Verdrängtes trat hervor und löste mitunter Tränen aus – oft auch vor Freude leuchtende Augen. Luisa Natiwis Leben ist ein Spiegel der Verhältnisse zwischen Menschen unterschiedlicher Hautfarben, Völker und Kulturen.

Ich danke Luisa Natiwi dafür, dass ich an der Darstellung ihres Lebensabschnitts von 1952 bis in die 80er-Jahre mitwirken durfte. Mein Wunsch ist es, dass meine Nachfragen aus »weißer Perspektive« sowie eine erweiterte Recherche zum Verständnis für Afrika beitragen. Und das insbesondere für den Nordosten Ugandas – dem Gebiet, in dem unsere Gene ihre Urheimat haben.

Günther Döscher

Autor im Duo mit Luisa Natiwi

WEISSES GRAS

Ein sanftes Vibrieren wallte durch meinen Körper. So ist es also, wenn man fliegt! Das ist doch zum Lachen! Als ich lachend und hustend Luft bekam, sagte ich: »Kaffee!«

»Was gibt es denn zu lachen?«, fragte mich die gelb-blaue Lufthansa-Fee.

»Es lachen doch alle!«

»Sie hat geträumt«, sagte der Inder neben mir.

»Nein!« protestiert ich. »Ich habe gemerkt, dass es wahr ist. Ich fliege!«

Die Stewardess wandelte ihre Fröhlichkeit in ein verbindliches Lächeln und informierte: »Boeing 747, Lufthansa, 9800 Meter Flughöhe, Ziel Frankfurt/Main.« Mit einer angedeuteten Verbeugung stellte sie den Kaffeebecher auf das Tablett vor mir, auf dem bereits ein durchsichtiges Plastikpäckchen mit der Bordverpflegung lag.

Vorsichtig packte ich die einzelnen Speisen aus, roch daran, probierte vorsichtig. »Ist das nur für mich?«, fragte ich meinen indischen Nachbarn, der sich als Chandan Singh vorstellte und kein Lunchpaket dieser Art vor sich hatte.

»Natürlich! Wir haben schon gespeist, als Sie noch schliefen. Was soll man auch machen auf einem Nachtflug.«

Mein Blick fiel auf die zweifach zusammengefaltete Zeitung, die vor Chandan im Netz der Sitzlehne steckte. »Idi Amin« las ich den Anfang einer Schlagzeile und füllte meinen Kopf wieder mit der Gegenwart.

»Kommen Sie aus Uganda?«, fragte ich den Inder.

Chandan Singh schüttelte den Kopf, dann nickt er. »Nicht jetzt, ich war in Kenia. In Uganda wollte man mich schon seit drei Jahren nicht mehr haben. Idi Amin hat uns verjagt.« Nach einer kleinen Pause fügte er mit blitzenden Augen hinzu: »Was Besseres hätte er mir gar nicht antun können. Früher kratzte ich Schillinge zusammen, jetzt habe ich ein Dollar-Konto. Es geht mir ausgezeichnet!«

Ich zeigte auf die Schlagzeile. »Gibt es wieder schreckliche Nachrichten über ihn?«

»Gute gab‘s nie. Seine letzte Bosheit war, dass er sich zum Nationalfeiertag im Oktober von den letzten englischen Geschäftsleuten auf einer Sänfte durch Kampala tragen ließ. Inzwischen sind die ja auch weg.«

Betreten schwieg ich. Was mag aus Frau Burton geworden sein, die schon ein Jahr zuvor Idi Amins »Säuberung von ausländischen Schmarotzern« zum Opfer fiel?

»Und jetzt? Was ist jetzt passiert?«

Chandan winkte ab: »Unbedeutendes. Jetzt wo er für ein Jahr Präsident der Organisation Afrikanische Einheit ist, wird es ja schon eine Nachricht, wenn er sich die Nase putzt.« Er lachte schallend über dieses Beispiel. »Das wäre allerdings tatsächlich eine Schlagzeile wert.«

Darüber konnte ich nicht lachen. Mir rann ein Schauer über den Rücken, als mir einfiel, dass ich Amin einmal für einen kurzen Moment für charmant und zärtlich hielt.

Der Inder sah mich prüfend von der Seite an: »Sie sind aus Uganda, nicht wahr? Ich weiß, er hat auch Freunde. Verstehen Sie bitte, dass ich nicht dazu gehöre; ich musste vor ihm fliehen – noch immer. Wer weiß, was er als Afrika-Präsident anrichtet! Jetzt fühle ich mich auch in Kenia nicht mehr sicher. Das nächste Jahr bleibe ich in Deutschland.«

»Ich auch«, sagte ich, »ich bin auch vor ihm geflohen.«

»Sie? Als Uganderin?«

»Er wollte mich zur Frau haben.« Ich erschrak vor mir selbst, ich wollte es nie mehr erzählen ...

Chandan Singh sah mich verblüfft an. »Immerhin hat er Geschmack«, schmeichelte er.

Mir stieg das Blut in die Wangen, und wieder musste ich husten.

»Sie haben sich erkältet. Ist Ihnen kalt?«

»Besonders warm ist es hier nicht«, sagte ich.

Chandan zog seine Jacke aus. »Darf ich?«, fragte er mit charmanter Höflichkeit, und ohne meine Antwort abzuwarten, legte er mir das wärmende Sakko über das Sommerkleid, aus dessen gerüschten Ärmeln meine nackten Arme herausragten.

»Danke!« Ich kuschelte mich ins körperwarme Tuch.

»Noch drei Stunden«, sagte Chandan, »dann wird es erst richtig bitterkalt. Sie haben doch daran gedacht, dass jetzt in Deutschland Winter ist?«

»Winter?«, wiederholte ich langsam. So hieß doch in Europa die Regenzeit. »Ich bin nicht wasserscheu! Und ich werde abgeholt.«

»Aber mit dem Husten ...«

»Bronchitis«, stellte ich richtig. »Ich habe Bronchitis. In Deutschland wird man mich gesund machen. In einem halben Jahr fliege ich wieder nach Hause.«

»Wirklich zurück?«, fragte Chandan. Er erwartete keine Antwort und bot mir ein Eukalyptus-Bonbon an.

»Oh, danke!«

Der Inder drehte die Zeiger seiner Armbanduhr drei Stunden zurück. »Das ist eine lange Nacht. Und wenn wir um acht Uhr landen, wird es dort noch dunkel sein.«

»Ich werde mir die Zeit verkürzen«, sagte ich, schloss die Augen und zog die Jacke über meiner Brust zusammen.

 

Im Landeanflug glitzerten die Lichter der erwachenden Stadt. Straßen zogen sich wie rot-weiße Lichterbänder durch die verdunkelte Landschaft. Mit einem Ruck setzte der metallene Vogel auf, glitt an blauen Lichtern entlang über die Rollbahn. Einige Passagiere klatschten in die Hände. »Bitte bleiben sie angeschnallt auf Ihren Plätzen, bis die Maschine zum Stillstand gekommen ist!«, tönte es aus den Lautsprechern, aber viele waren ungeduldig, reckten sich hoch, zerrten Taschen und Mäntel aus den Klappen über den Sitzen der Fensterreihen. Als die Maschine stand, wurde es eng in den Gängen, der Wettlauf zu den angedockten Gangways begann.

»Meine Jacke bitte – tut mir leid!«, sagte Chandan Singh.

Ich zog die Schultern nach vorn. »Schade, ich hatte mich so daran gewöhnt.« Als ich einen Schritt in den Gang machte, wurde ich mitgezogen, konnte gerade noch die Tasche greifen und trieb mit der Menge in den Shuttlebus und wieder hinaus bis an den Schalter. »Den Pass bitte!« Ich gab ihn hin, erhielt ihn abgestempelt zurück.

»Meinen Koffer ...«, sagte ich auf englisch.

Der Mann zeigte eine Richtung. Dort kippten Gepäckstücke auf ein Metallband, und wenn sie nicht gegriffen wurden, verschwanden sie hinter einer Kurve. Ich staunte, sah bald schon meinen Koffer vorüber fahren, lief hinterher, kam nicht durch die Barriere der Menschen, die ebenfalls nach ihren Koffern und Taschen griffen – und sah verzweifelt, wie er in der Kurve verschwand.

»Da kommt er wieder«, sagte jemand auf der anderen Seite. Es war Chandan Singh, der sich über meine Panik amüsierte. Er griff zu. »Ist er das? Gehört der Ihnen?«

Ich nickte dankbar und folgte dem Strom der Menschen zum Ausgang. »Eine schöne Zeit in Deutschland«, wünschte mir der Inder, »und gute Besserung!« Dann war er im Menschengewirr verschwunden.

»Stopp!«, wurde ich aufgehalten. »Haben Sie etwas zu verzollen?« Ich schüttelte den Kopf, wollte weitergehen. »Öffnen Sie bitte den Koffer«, verlangte der Zollbeamte und nahm mir mit bestimmendem Griff die Tasche aus der Hand. »Was ist das?«, wollte er wissen, während er hineinsah.

»Geschenke«, sagte ich.

Er war zufrieden, prüfte den Kofferinhalt mit den wenigen Kleidungsstücken darin, blickte abwechselnd auf mich und auf die zusammengelegte Sommerkleidung. »Wollen Sie nach Frankfurt oder nach Florida?«, fragte er.

»Frankfurt«, sagte ich unsicher. »Ist etwas nicht richtig?«

»Alles okay, Miss!«, sagte der grün Uniformierte grinsend und schloss den Koffer wieder. Ich durfte das Tor durchschreiten. Erst jetzt war ich richtig in Europa, in Deutschland, in Frankfurt.


Frohe Weihnachten!

Jetzt musste ich nur noch Herrn Franke entdecken. Ich ging in der Flughafenhalle auf und ab, stellte mir vor, dass er sich vielleicht einen Bart wachsen ließ oder eine Brille trägt. Wie sah er überhaupt aus? Plötzlich konnte ich mich nicht mehr an das Gesicht des freundlichen Herrn unterm Mangobaum erinnern. Wenn er auf mich zukommt, hoffte ich, dann würde ich wissen: Das ist er! Auch ich zog Blicke auf mich, die aus erstaunten Augen zwischen wattierten Mänteln, wolligen Schals und warmen Mützen auf eine Sommer-Afrikanerin trafen, die sich in Sandalen und Sommerkleid auf den Airport verirrt hatte. Ich fror nicht – mir war heiß. Wo war Herr Franke?

»Frau Luisa Natiwi Lorika, bitte zum Informationsschalter – Miss Natiwi Lorika, please contact the information point!« hallte es aus dem Lautsprecher. Mein Name und Worte, die ich verstand.

Es wartete kein Herr Franke am Informationsschalter.

Die Frau mit dem frechen Käppi auf den blonden Haaren wusste sofort, wen sie vor sich hatte: »There is a letter for you!«, sagte sie und reicht mir einen Umschlag, auf dem mein Name stand.

Sören Franke bedauerte in schnell hingeschriebenen Zeilen, dass er leider nicht länger auf mich warten könne. Es sei etwas Unvorhersehbares passiert und er bitte um Verständnis. Ich möge doch bitte mit dem Zug nach Köln fahren, wo ich am Bahnhof erwarten werde. Er habe dafür ein Bahn-Ticket beigelegt.

Der Bahnhof ist unter dem Flughafen, erfuhr ich von der Blonden mit dem Käppi. »Straight on, then left hand downstairs. Take the escalator.«

Mein Gepäck war leicht, doch wie weit war der Weg? Die Reisenden schoben ihre Koffer auf kleinen Wagen durch die Gänge – und dort standen sie wie eine Garde hilfreicher Diener. Ich wollte das Angebot nutzen, doch nichts bewegte sich. »Den Bügel herunter drücken!«, rief eine Frau. Ich verstand die Sprache nicht, wohl aber die Geste mit den drückenden Fäusten – und folgte schiebend den Symbol-Schildern. Dort war die Rolltreppe.

Vorsichtig schob ich den Wagen auf die Stufen – und merkte einen Wimpernschlag zu spät, dass die rollenden Stufen von unten zu mir nach oben fuhren. In meinem Schreck kippte der Wagen ins Leere und schepperte entgegen der Aufwärtsfahrt abwärts. Erschrocken sah ich hinterdrein – gottlob, es war niemand dem Wagen, dem Koffer und der Tasche im Wege! Die Rolltreppe abwärts war gleich nebenan. Ich beschleunigte die Fahrt mit kühnen Sprüngen, um unten schnellstens einzusammeln, was Koffer und Tasche während ihrer polternden Talfahrt verstreut hatten: Frisches Obst aus Kenia, Wäsche, Tücher und ein Sommerkleid, kleine Päckchen und ein Hut mit Straußenfedern, der unbeschadet herabgesegelt war.

Immerhin stand ich auf dem richtigen Bahnsteig. »Köln« stand auf einem Schild, »Köln via Mainz«. Es saßen nur wenige Reisende im Abteil, ich richtete mich auf einem Fensterplatz für eine längere Fahrt ein und freute mich, wie gut ich es doch bis jetzt geschafft hatte, ganz ohne die Hilfe der Brüder und sogar ohne Herrn Franke.

Für zwanzig Minuten zeigte die Aussicht aus dem Fenster die mit einer Dessous-Reklame beklebte Wand. So wie auf dem Bild, musste ich zugeben, sieht ein Büstenhalter hübsch aus. Jene hingegen, die man in Uganda den Frauen amtlich verordnen wollte, riefen das Gespött der Männer hervor und die älteren Frauen warnten die Mädchen, ihre Brüste würden noch vor der Geburt ihrer Kinder erschlaffen, wenn sie ihnen schon früh eine Stütze geben würden. Aber so wie auf dem übergroßen Bild..., das war eben Europa!

Eine Trillerpfeife, ein kleiner Ruck – der Zug rollte aus dem Bahnhof, aus dem Tunnel, an eckigen Häusern vorbei, in die freie Landschaft hinein. Es war inzwischen hell geworden.

Sehr hell war es! Ich rieb mir verblüfft die Augen – alles war weiß. Die Welt der Weißen! Weiße Felder breiteten sich neben der Bahnstrecke aus. Weiße Büsche und Bäume standen an Wiesenrändern. Weiße Häuser mit weißen Dächern duckten sich in der Ferne unter einem weißen Himmel. Alles ist anders in Europa! Ich hatte es aus Erzählungen gehört, und ich hatte es bei weißen Freunden gespürt.

Jetzt wusste ich es: Die Welt der Weißen ist weiß!

»Weißes Gras«, sprach ich mir selbst staunend vor. Und ich schaute über die deutsche Savanne zwischen Frankfurt und Mainz. »Weißes Gras, tatsächlich weißes Gras.«

Ein Mann riss mich aus meiner bewundernden Andacht. »Die Fahrkarte bitte«, sagte er freundlich, staunte auch ein bisschen, aber nicht über das weiße Gras, sondern über das Bunt meines Sommerkleides. »Tja«, machte er, »man muss es herausfordern, dann wird’s auch wieder Sommer.« Er knipste ein Loch in die Fahrkarte, tippte mit zwei Fingern an die Schirmmütze und wandte sich anderen Reisenden zu. »Die Fahrkarten, bitte.«

Die Fahrt dauerte lange. Etwas überanstrengt vom ewigen Weiß, fielen mir die Augenlider herunter. Ich merkte nicht, dass der Zug eine längere Zeit hielt. Als ich erwachte, flog immer noch die weiße Landschaft am Fenster vorüber. Frierend kauert ich mich etwas zusammen und ließ mich abermals ins Land der Träume fallen, bis ich aufschreckte, denn wieder sagte jemand: »Die Fahrkarte, bitte!«

Es war nicht derselbe Zugschaffner und er betrachtete die Fahrkarte von allen Seiten. »Ist ja schon gelocht«, stellte er fest. »Wo wollen Sie denn hin?« fragte er.

Ich ahnte nur, was er wissen wollte: »Nach Köln.«

»Im Moment sind Sie auf dem Weg nach Frankfurt.« Als er merkte, dass ich kein Deutsch verstand, radebrechte er in englisch-deutschem Satzbau, dass ich zwar in Frankfurt in diesem Pendelzug sitzen bleiben kann, aber dann in Mainz aussteigen und umsteigen muss in einen anderen Zug, der mich nach Köln bringen würde.

Resigniert nickte ich, fuhr nach Frankfurt und wieder nach Mainz. Ich erkannte die Strecke, kannte das weiße Gras und mochte gar nicht darüber nachdenken, wie oft ich wohl schon mit halb geöffneten Augen dieselben weißen Felder gesehen hatte.

Mainz. Groß stand es auf dem Schild, das ich mindestens schon zweimal gesehen hatte. Diesmal stieg ich aus.

Der Zug nach Köln fuhr erst in einer dreiviertel Stunde. »Da können Sie sich noch eine Weile ins Warme setzen«, schlug mir ein Uniformierter mit roter Mütze vor, schob mich sanft in seine Aufsichtsbude und schenkte mir aus seiner Thermoskanne einen Becher heißen Kaffee ein. Das tat gut. Er hielt mir eine Blechdose mit süß duftendem Gebäck hin, während er mit Geberstolz sagte: »Jeden Tag eine gute Tat und Weihnachten zwei!«

Köln Hauptbahnhof. Ich wollte keinen Fehler mehr machen. Raus aus dem Zug und Augen auf! Wo ist Herr Franke? Ich lief hin und her. Ein eisiger Wind wehte über die Bahnsteige. Weiß wehte es auch vom Himmel. Noch mehr Weiß. Staunend und lachend fing ich die Flocken, die auch den Boden weiß färbten. Sie waren kalt und zerflossen in meinen Händen zu Wasser.

»Schnee!«, fiel es mir ein. Ja, es ist Schnee! Das weiße Gras fiel vom Himmel. Ich hatte es doch in der Schule gelernt – und wusste es schon am Nachmittag nicht mehr. In Uganda auf den Mondbergen des Ruwenzori-Gebirges gab es Schnee. Aber ich war nie dort. Die weißen Bergspitzen, die nur an wenigen Tagen frei von Wolken sind, bestehen aus Eis und Schnee. Es sind die Regenberge, die dem Nil das Wasser geben. Der breite Strom, den ich immer wieder vom Zug aus gesehen hatte, erhielt sein Wasser vom weißen Gras, das vom Himmel fällt. Deutschland – ein Land voller Wunder.

Wo aber war Herr Franke?