Hamburg

hart + zart

 

 

Autorengruppe Blut & Feder

 

 

35 Geschichten
Neun Autoren
Eine Stadt

 

 

 

KADERA-VERLAG


IMPRESSUM

 

Autorengruppe Blut & Feder

Hamburg – hart & zart

35 Geschichten · Neun Autoren · Eine Stadt

 

Cover: Günther Döscher

»Blue Nana« von Niki de Saint Phalle (1930–2002)

vor dem »Theater im Hafen« auf der südlichen Elbseite

des Hamburger Hafens.

 

Kontakt für Gruppenlesungen:

Autorengruppe Blut&Feder

c/o Christoph Ernst

Zarrentiner Weg 1, 23883 Klein Zecher

Tel. 04545/789239 · chh.ernst@arcor.de

 

Kadera Verlag

22844 Norderstedt, Schafgarbenweg 37,

Tel. 040/33983355 · www.kadera.de · verlag@kadera.de

© 2011–2016 · Alle Rechte vorbehalten*

*Für Einzelveröffentlichungen liegen die Rechte bei den Autoren.

 

Druckausgabe mit Illustrationen von Till Laßmann:
ISBN 978-3-9813804-1-5

 

eBook (mobi/Kindle): ISBN 978-3-944459-10-3

 

Das Mädchen von Gleis 14

Jürgen Müller

»Hamburg Hauptbahnhof.« Blechern und undeutlich wie immer. Ich stolpere aus dem Zug und wische mir den Schweiß von der Stirn. Die Klimaanlage. Und das ist nicht das Einzige, was nicht funktioniert hat. Silke! War ich deshalb in Lübeck gewesen? Nur um mir sagen zu lassen, dass ich der letzte Arsch sei und es aus wäre? Robert. Jedenfalls säuselte sie den Namen, nachdem sich ihr Handy mit dem gepiepsten Gaga-Song »Poker Face« gemeldet hatte. Und das mitten in ihrer Abrechnung mit mir. War sowieso komisch mit uns geworden in letzter Zeit. Irgendwie Gewohnheit und nicht loslassen wollen. Am Ende war ich erleichtert, dass es endlich vorbei war.

Ich gehe die Treppe zur Bahnhofshalle hinauf und bei jeder Stufe bleibt ein Stück Lübeck zurück. Als ich oben ankomme, weiß ich, dass ich nicht erst seit heute frei bin. Während ich zum Ausgang gehe, blicke ich auf die Gleise unter mir.

Plötzlich sehe ich sie. Kurzer Rock und knallgelbes T-Shirt. Ich kann sie nicht genau erkennen. Aber sie ist jung. Und sie wirkt völlig verloren auf dem leeren Bahnsteig zwischen Gleis 13 und 14. Da, wo die Züge nach Süden fahren. Nach Hannover und Stuttgart. Basel und Milano.

Es ist Nachmittag und kein Zug in Sicht. Ich kenne das. Hab‘ selbst dort gestanden. Im Herbst. Wollte den Stiefel ganz nach unten. Bis Palermo. Mindestens. Zeit hatte ich. Aber keine Kohle.

Als ich soweit bin mit dem Denken, hat mich die Rolltreppe schon wieder nach unten gebracht. Ich bin verwirrt. Was will ich hier? Also gehe ich erst einmal an ihr vorbei. Sie hat ein Piratentuch um ihren Kopf geschlungen. Mit FC St. Pauli Totenkopf. Sie ist schlank. Beinahe mager. Rock und Shirt sind jedenfalls zu weit. Quer über ihre Brust kann ich »Never give up« lesen. Als ich vorbei bin, spüre ich ihren Blick und drehe mich um.

Sie sieht mich an und lächelt. Ich grinse zurück. Verdammt, ihr Lächeln macht mich nervös. Ich will das nicht. Keine neue Silke. Am besten, ich verschwinde. Die Treppe auf der anderen Seite hoch und raus zum Glockengießerwall. Genau. Das mach ich. Ist aber Quatsch, weil ich bereits auf dem Rückweg bin. Nun kann ich es nicht mehr wie zufällig aussehen lassen. Jetzt muss ich was tun. Etwas Kluges und Witziges von mir geben. Und ich sage: »Hallo.«

Das Lächeln, das mich so unsicher macht, steht ihr gut. Ich könnte ihr jetzt sagen, dass ich sie ziemlich cool finde und ich mich freuen würde, wenn sie mit mir in ein Café ginge. Nur um ein wenig zu quatschen.

Ich zähle im Geiste mein Bares. Es reicht. Die geplante U30 Party im Lübecker »Sounds« ist ja ausgefallen. Und ehe ich mich versehe, stottere ich: »Kaffee?«

Sie muss bekloppt sein, wenn sie ja sagt, denke ich noch, da hat sie bereits genickt. Wohin? Wir landen in der Thalia- Buchhandlung an der Spitalerstraße. Sie haben dort ein Café.

Ich erzähle von Lübeck. Nicht von Silke. Auch davon, dass ich Bücher liebe. Natürlich fallen mir keine ein. Stephen King. Ja, der. Aber ob sie den mag? Also, nein. Sie nippt an ihren Cappuccino, hält den Kopf etwas schräg und sieht mir in die Augen. Ihre sind hellbraun mit ein wenig Grün darin. Und ich finde, sie strahlen etwas Trauriges aus. Selbst wenn sie lacht. Schnell sage ich: »Lukas.«

»Lea«, antwortet sie.

»Ein schöner Name.«

»L und L«, gibt sie zurück.

Ich überlege, ob ich sie frage? Wegen des Kummers in ihrem Blick? Lieber nicht. Stattdessen nehme ich den kleinen Rucksack herunter, den ich mit nach Lübeck genommen habe und der zwischen Stuhllehne und Schulter drückt.

»Es ist schön am Bahnhof.« Plötzlich spricht sie. »Man kann sich überall hin träumen.«

Ich hab´es geahnt. Die ganze Zeit. Sie hat dasselbe Fernweh wie ich, und ich erzähle von meinen Besuchen am Gleis vierzehn.

»Dann kennst du das ja.« Ihr Lächeln wirkt wissend und gleichzeitig wehmütig. »Ich wollte... wenigstens jetzt... Ach, egal.« Und plötzlich. »Lass uns gehen. Bitte.«

Ich sehe sie an.

»Die Luft hier. Sie ist so drückend.«

»Planten un Blomen?«

Sie nickt und wir fahren mit der S-Bahn bis Dammtor.

Es ist inzwischen Abend. Und meinen Rucksack, mit den wenigen Utensilien für Lübeck, habe ich bei Thalia vergessen. Der Park ist voll und wir gehen zum See. Das Wetter ist wie gemacht für Paare. Sind wir eins?

Wir wollen telefonieren und tauschen die Nummern aus. Ihre beginnt mit sieben, vier, eins, null... Irgendetwas klingelt bei mir.

»Ist in Eppendorf«, erklärt sie.

Ein guter Stadtteil. Besser als meiner. Ich wohne auf St. Pauli, in der Kastanienallee. Altbau. Im zweiten Stock, kurz hinter oder vor der Prinzenbar. Je nachdem von welcher Seite man kommt.

Wir schauen auf das Wasser des Sees. Ihre Hand berührt meine. Entfernt sich und bleibt danach in meiner liegen. Ganz leicht. Sie erinnert mich an den Spatz letztes Jahr. Plötzlich war er vor mir und hüpfte piepsend im Kreis. Ein Flügel lahmte. Dass ich ihn nicht aufpäppeln konnte, macht mich noch heute traurig.

An einem Abend letzte Woche haben sie hier die Wassermusik gebracht. Untermalt von Licht- und Wasserfontänen. Ob sie Musik mag? Ich meine solche?

»Magst du Händel ... ?«, beginne ich.

Sie unterbricht mich und sagt ganz ernsthaft. »Ich möchte mit dir schlafen ... Aber bei mir in Eppendorf geht es nicht.«

Ich muss ziemlich blöd dreinschauen.

»Tut mir leid, dass ich so direkt bin«, lacht sie. »Aber ich hab nur wenig Zeit.«

Zuerst will ich fragen, ob sie Model ist? Wegen der Zeit und weil sie doch so dünn ist. Aber ich will es nicht versauen und frage: »Magst du St. Pauli?«

Sie mag.

 

Vorhänge und Fenster sind wegen der Hitze offen. Das Neon der Kneipe, schräg gegenüber taucht die Tapete hinter meinem Bett abwechselnd in Blau und Rot. Für St. Pauli ist es früh. Trotzdem nicht zu früh für ein betrunkenes Paar, das sich auf der Straße anpöbelt. Sie werden richtig laut und Lea berichtet von der Fensterbank, auf der sie sitzt. »Sie hat ihn getreten. Ooh..., das muss wehgetan haben. Aber er gibt den Schlüssel nicht her. Meint, er wäre stocknüchtern.«

Sie dreht sich zu mir. Und mir wird bewusst, dass ich noch nie in meinem Leben eine nacktere Frau gesehen habe. Das Piratentuch ist in meinem Bett geblieben und ihr haarloser Schädel leuchtet im Lichtwechsel blau und rot zu mir herüber. Auch ihr Körper ist völlig kahl. Ihre absolute Nacktheit wird durch meinen Samen noch verstärkt, der an ihr im Lichtwechsel glänzt.

Als Lea wieder neben mir liegt sagt sie: »Weißt Du, zu Hause hieß es immer, glaube an dich und gib nie auf. Das galt in der Schule, auf der Uni ...« Sie zögert kurz. »Und dann waren sie plötzlich tot. Ein Raubüberfall auf Malle, während sie Urlaub machten.«

Auf der Straße heult ein Motor auf. Blech scheppert.

»Danach das Informatikstudium. Wegen der Logik. Ich liebe es, wenn alles einen Sinn hat. Weißt du?«

»Und was für einen Sinn ergibt es, zu einem wildfremden Mann ins Bett zu kriechen?«

»Du bist mir nicht fremd. Das wusste ich sofort.«

Später stehe ich am Fenster. Etwas entfernt grölt jemand »nachts um halb Eins«. Ich bin an die Geräusche hier gewöhnt. Heute nicht. Ich kann nicht schlafen. Die Haustür klappt. Die Frau von nebenan geht zur Arbeit. Sie stöckelt in einem Nichts von Kleid in Richtung Davidstraße. Halb zwei. Die Konkurrenz ist hart. Und sie wird bald vierzig. Ich blicke auf Lea in meinem Bett. Die Decke liegt auf dem Boden. Jetzt im Schlaf wirkt sie besonders zerbrechlich. Fast durchscheinend. Ich mag sie. Sehr sogar. Und ich möchte sie beschützen. Aber es wird am Ende wie bei dem Spatz vom letzten Jahr sein. Sie weiß es, hat sie gesagt.

Und dann noch hinzugefügt. »Vor dem Einschlafen sage ich immer, ich gebe nicht auf. Und am Morgen sage ich, ich lebe, weil ich nicht aufgegeben habe.« Dabei hat sie ihr Gesicht verzogen. »Blöd, nicht? Ich kann´ nicht akzeptieren, obwohl es bestimmt leichter wäre.« Nach einer langen Pause fügte sie hinzu. »Falls du ...? Ich meine, jetzt wo du es weißt ... Schwester Ulla ist meine Vertrauensschwester. Sie weiß, wo ich zu finden bin.« Deshalb kam mir die Nummer so bekannt vor. Ich war da mal Zivi.

Und nachher? Ich meine, wenn sie aufwacht ... Soll ich ihr sagen, dass ich sie liebe? Und dann?

Wir müssen einfach schneller, viel schneller leben.


Der Reiseführer

Irina Tegen

Ich möchte noch ein Foto machen«, sagt er.

Ich versuche das zu ignorieren, sage stattdessen: »Hier wird in den nächsten paar Stunden nichts passieren, fahr endlich los.«

Mein Rock klebt an meinen Beinen, ich habe die Schweißränder eben gezählt, es sind drei dicke weiße auf dem oberen Teil des braunen Stoffes, der Rest klebt nass an meinen Oberschenkeln und meinem Hintern. Das Auto kocht. Ich koche. Es ist immer dasselbe mit dem deutschen Besuch, ich spreche diese Sprache nur noch, um mich mit ihnen zu streiten.

»Hör zu Gunnar, du magst eine Menge in deinem Scheiß-Reiseführer gelesen haben, aber wir sitzen hier nicht gemütlich auf dem Sofa und sehen uns eine Dokumentation über die Naturwunder von Afrika an. Wir sind mitten in Afrika, es sind 39 Grad Celsius und wir sind so bescheuert, in der Mittagshitze in ein Auto zu steigen und genau zwei Liter Wasser mitzunehmen.«

»Wir sind nicht mitten in Afrika, Elli. Und du warst so bescheuert, nur zwei Liter mitzunehmen«, sagt Gunnar, grinst und fummelt an seiner Kamera herum.

Wir sind also nicht mitten in Afrika?, denke ich.

Sind wir doch.

Sobald man in Afrika ist, ist man mitten in Afrika, und sobald man im südlichen Afrika ist, sollte man seinen Reiseführer sofort dem nächstbesten Penner auf der Straße geben, damit er damit ein Feuerchen machen kann.

»Du wolltest nur schnell ein Foto von den Giraffen machen. Und ich habe dir gesagt, dass nur bescheuerte deutsche Touristen Fotos von Giraffen machen.«

»Du bist genau so deutsch wie ich«, sagt er.

Bin ich nicht, denke ich und schaue ihn mir direkt an, seine sonnenverbrannte Visage, diesen lächerlichen Hut und seine atmungsaktiven Klamotten, Hightech, man erkennt sie immer, man erkennt sie daran, dass sie trotz ihrer Globetrotter-Klamotten schwitzen wie die Schweine, und sich einbilden, sie täten es nicht, und auch daran, dass sie gegen jeden Zauber gefeit sind, dass sie ihn nicht mal erkennen, wenn er unter Attraktionen der Region aufgeführt ist. Ein Hotti trommelt vor der untergehenden Sonne und sie sind glücklich.

»Du verstehst dieses Land einfach nicht«, sage ich und er antwortet: »Was gibt es da zu verstehen? Du lebst doch auch gemütlich in deiner weißen Vorstadt, hinter Gittern! Verstehe ich das Land erst, wenn ich einen Gärtner, eine Putzfrau und eine Alarmanlage in meinem häuslichen Hochsicherheitstrakt habe?«

Ich könnte niemals hinter all diesen Gittern leben, hatte er gesagt, es ist wie im Gefängnis, ich habe gedacht, die Apartheid sei vorbei. Dein Deutsch ist echt Scheiße geworden, du kannst gerne normal mit mir reden, ich kann diesem Kauderwelsch nicht folgen, wie kannst du in diesem Land bleiben, Elli?, hatte er gesagt und sich zu einem nächtlichen Spaziergang durch die Johannesburger Innenstadt aufgemacht. Drei Stunden lang. Sehr kokett.

»Was du nur immer hast, Elli, es war cool. Die Gewalt entsteht nur, weil ihr euch in euren Burgen verschanzt. Ist mir etwa was passiert?«

Leider nein, dachte ich.

Wie viel bezahlst du noch gleich deiner Putze, Elli? Kriegst du eigentlich noch etwas mit? Laut Statistik ..., bla, bla, bla. Klugscheißer. Er kotzt mich an. Und der guten alten Zeiten wegen habe ich mich nun auch noch auf diese Reise eingelassen. Vor Johannesburg wird immer gewarnt, hatte er gesagt, als er aus Hamburg anrief, lass uns auch ein wenig in der Gegend herumfahren, ja? Kommst du mit?

»Hör zu, Gunnar, man fährt hier nicht tagelang alleine herum, man tut es einfach nicht«, hatte ich damals am Telefon gesagt und gelacht, und er hatte lachend geantwortet, »ich würd‘s schon tun, aber komm doch trotzdem mit, so ist es netter. Können wir dein Auto nehmen?«

 

Und jetzt sitze ich hier neben diesem Stinkstiefel und schaue durch eine vollgekackte Windschutzscheibe auf ein Wasserbecken mit drei badenden Hippos, während sich ein viertes behäbig und langsam aus dem Wasser schleppt.

»Hoffentlich ist das Foto mit den fickenden Affen was geworden«, sagt er, und ich denke, fick dich doch selbst, dich und deine Hamburger Designerwohnung, häng dir über dein weißes Sofa das Foto mit dem Affenfick, wie originell, und wenn du deinen Gästen südafrikanischen Rotwein einschenkst, den du bei REWE um die Ecke gekauft hast, erzähl ihnen, dass du live dabei warst, aber pass auf, dass sie nicht so sehr lachen müssen, dass sie den Rotwein verschütten, sag ihnen am besten vorher, sie sollen auf das Sofa aufpassen, du erzählst ihnen gleich ein paar nette Anekdoten aus Afrika. Ihr kennt doch noch Elli? Wen? Na, Elli von damals. Ach ja, Elli, ist sie immer noch dort? So oder ähnlich wird es ablaufen.

»Ich kann durch diese Scheibe kein gutes Foto machen«, sagt er nun und fummelt an der Tür herum.

»Mach keine Witze«, sage ich perplex, »man steigt hier nicht aus, man tut es einfach nicht, bleib im Auto. Hippos sind gefährlich.«

»Sie heißen Nilpferde«, erwidert er und kurbelt ein Fenster herunter. »Diese fetten Tiere sind echt der Hammer«, sagt er, und: »Ich bekomme es nicht drauf. Ich muss etwas näher ran.«

»Wir können aber nicht weiter ran fahren, hier ist Schluss, Gunnar, lass uns jetzt endlich los, ich habe Durst.«

Die drei Tiere dösen auf der Wasseroberfläche, man sieht geschlossene Augen und riesige Nüstern, und das vierte Tier bewegt sich weiter durch das Gebüsch, man sieht tatsächlich nicht viel. Ab und an einen glänzenden grauen Rücken auf halbem Weg zur Wasserstelle, rings herum schläfrige Stille in der Mittagshitze.

»Hier ist viel zu viel Gebüsch«, warne ich ihn erneut, es langweilt mich bereits selbst.

Punkt eins, wenn wir hier rein fahren, dürfen wir nicht aussteigen, Gunnar, nur in den Camps. Punkt zwei, die Krokodile schlafen nicht, sie warten nur darauf, dass du einen Fehler machst. Punkt drei, es kommen mehr Menschen durch Hippos um als durch Krokodile oder Löwen. Punkt vier, lieber keine Malariaprophylaxe, du kriegst nur nicht mit, dass du es hast, hast es aber trotzdem, sagte ich, woraufhin er die erste Tablette schluckte vor drei Wochen. Gunnar macht jetzt die Tür auf und steigt aus.

Ich rufe ihm hinterher: »Gunnar, du bist ein Arschloch«, und er sagt nur leise: »Psssst.«

 

Gunnar war einfach nicht demütig, denke ich etwas später und blicke zu Boden, auf die fest getrampelte rote Erde, durch die sich eine Termitenstraße ihren Weg bahnt. Die Geschäftigkeit der letzten Stunden hat nachgelassen, und wie um der Situation die nötige Dramatik zu geben, taucht der untergehende Feuerball einmal noch dieses göttliche Stückchen Erde in sein blutiges Rot, dramatisch, wie auf den vielen Postkarten, die Gunnar gekauft hat. Doch man kann es nicht festhalten, es passt auf keine Postkarte, es ist unfassbar groß und gewaltig. Brutal schön. Man überlebt dieses Land nur demütig, erhobenen Hauptes zwar, ja, das schon, aber man muss den Kopf dennoch senken, nur ein wenig, man muss sich verbeugen vor all der Schönheit und dem Elend. Man muss es auch einmal probieren, mit wogender Hüfte in diesen Herzschlag einzutauchen, den Puls zu spüren, man muss es ertragen können, dass alles so ist, wie es ist.

Ich blicke weiter zu Boden, betreten, als sich ein blaues Paar Stoffstiefel in mein Blickfeld stellt, direkt auf die Termitenstraße. Während ich weitere Tränen herauspresse, beobachte ich, wie die Termiten über seine Stiefel laufen. Sie sehen eher aus wie Turnschuhe. Ich kann die südafrikanischen Polizisten nie so recht ernst nehmen, trotz der Maschinenpistolen, die neben ihren Hüften baumeln, ich weiß nicht, ob es an der Bestechlichkeit oder der Tatsache liegt, dass sie Turnschuhe tragen. Aber es gefällt mir, wie sie singend die Formulare ausfüllen. Auch dieses. Ich mag es, wenn man nicht versucht, mir unnötig Angst zu machen.

Moskitos surren um unsere Köpfe. Der Officer legt nun eine Hand auf meine Schulter und sagt, dass er nichts mehr für mich tun könne. Aber die Kamera, die sie gefunden haben, die könne ich sicher behalten, hier ist sie, und noch einmal platzt es aus mir heraus, die Anspannung, sie ist echt, und auch der Rest hat seine eigene Wahrheit, der Akzent mit dem ich spreche, mit dem ich wieder weine und jaule, er ist etwas zu stark, ein aufgesetzt deutscher Akzent, ich trauere mit seinem Akzent, eine letzte Ehre, und ein letztes Mal sage ich unter Schluchzen: »Oh je, mein guter Freund, warum war er nur so dumm und ist aus dem Auto gestiegen.«

Ich trauere sehr laut, African Style, so zeige ich dem Officer meine Erschütterung über diesen tragischen Unfall. Gunnar hätte gesagt, das sei primitiv, viel zu laut und affig. Apropos affig, vielleicht ist der Affenfick ja doch etwas geworden, aber ich würde mir das Foto dann doch nicht über das Sofa hängen, es würde mich zu sehr an Gunnar erinnern, an sein entsetztes Gesicht, als ich den Motor anließ und ihn seiner Malariaprophylaxe überließ.