Informationen zum Buch

Die Verschwörung von Weimar

Weimar im Jahr 1797: Der junge Christian Vulpius steckt in Schwierigkeiten. Er hat Schulden, und seine Pläne, selbst als Schriftsteller zu reüssieren, sind ins Stocken geraten. Ohne Wissen seiner Schwester Christiane, die mit Goethe liiert ist, nimmt er ein paar Bücher aus dessen Haus mit – als Material für einen Roman über einen Räuberhauptmann, den er plant. Doch ausgerechnet diese Bücher werden ihm gestohlen, und dann wird auch noch ein Mann ermordet, der ihm einen Tag zuvor im Gasthaus von einer Verschwörung und einer mysteriösen Urkunde erzählt hat, die seit Jahren in Goethes Haus versteckt sei und jeden, der nach ihr suche, einer tödlichen Gefahr aussetze.

Ein packender historischer Roman mit höchst klassischem Personal

Vom Autor des Bestsellers »Die sieben Templer«

Guido Dieckmann

Das Geheimnis des Poeten

Ein historischer Weimar-Krimi

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

Nachwort

Über Guido Dieckmann

Impressum

Wem dieses Buch gefallen hat, der liest auch gerne …

Hat der alte Hexenmeister
sich doch einmal wegbegeben …

Johann Wolfgang von Goethe,
»Der Zauberlehrling«

Prolog

Italien, in der Nähe von Padua,

17. Juli des Jahres 1787, kurz vor Sonnenuntergang

Warum verbringe ich die letzten Stunden meines Lebens damit, diese Zeilen niederzuschreiben? Es ist doch höchst fraglich, dass jemand sie finden und erfahren wird, was mir und den anderen zugestoßen ist? Wenn das Schicksal zu unseren Ungunsten entscheidet, so werden meine Reisegefährten und ich noch vor Einbruch der Nacht tot sein. Es erscheint mir ohnehin wie ein Wunder, dass die Männer, die heute früh unsere Kutsche überfallen und uns beraubt haben, nur den Kutscher getötet, uns aber geschont haben. Der gute Rinaldo griff zur Flinte, um seine Reisenden zu verteidigen, und musste seinen Mut mit dem Leben bezahlen. Ich war Zeuge, wie einer der Straßenräuber ihm die Kehle durchschnitt und den blutigen Leichnam in einen Graben warf. Im letzten Moment konnte ich Rinaldos Sohn davon abhalten, sich auf den Mörder seines Vaters zu stürzen. Hätte der Junge die Nerven verloren, läge er jetzt ebenso kalt und starr am Wegesrand.

Als die Sonne fast senkrecht über uns stand, trieben uns zwei der Maskierten in ein Steinhaus am Rande eines Steilhangs und zwangen uns fluchend und mit Tritten auf den festgestampften Erdboden. Dort kauern wir nun schon seit Stunden. Die einzige Tür in die Freiheit wird bewacht, daher ist an Flucht nicht zu denken. Schon gar nicht mit dem Verletzten, den aber auch keiner von uns zurücklassen möchte. Ob der alte Herr den Sonnenaufgang noch erleben wird? Vielleicht ist es besser für ihn, gar nicht zu bemerken, was um ihn herum geschieht. Er verschläft sein Elend, während uns anderen der Durst und die sengende Hitze fast den Verstand rauben. Seit wir Abano mit seinen heißen Quellen in Richtung Padua verlassen haben, kann nicht mehr als eine Nacht vergangen sein, mir aber kommt es wie eine Ewigkeit vor. In Padua hoffte ich, den Geheimrat von Goethe aus Weimar zu sehen, der sich momentan ebenfalls in Italien aufhält, doch der wird nun vergeblich auf mich warten. Ob man nach uns suchen lässt? Kaum. Wie sollte jemand ahnen, was mit uns geschehen ist? Wir waren gewarnt worden, die Abkürzung nach Padua zu nehmen, weil die abseits gelegenen Straßen oft von Räuberbanden heimgesucht würden, aber wir schlugen die Warnung unserer Wirtsleute in den Wind. Jeder von uns war in Eile, insbesondere das Paar mir gegenüber. Außer dem Alten und dem Mädchen sind nur noch wenige meiner Reisegefährten übrig geblieben. Einer der Männer wurde schon vor Stunden davongeschleppt. Seine Schreie haben sich in meine Ohren gebrannt. Ihm folgte der Sohn des Kutschers, der uns bis nach Venedig begleiten wollte. Die Räuber können ihn nicht gebrauchen. Niemand wird für ihn bezahlen. Und für mich?

Werden sie mich als Nächsten holen? Ich verfluche den Tag, an dem ich beschlossen habe, diese Reise anzutreten. Meine Sehnsucht nach diesem Land wird mich nun teuer zu stehen kommen. Ich suchte reife Zitronen und Orangen und fand nichts als bittere Mandeln. Draußen sind jetzt laute Männerstimmen zu hören. Unsere Entführer klingen wütend, sie scheinen in Streit geraten zu sein. Jemand kommt, er öffnet die Tür. Der Maskierte mit dem Messer … Rinaldos Mörder. Blut an seinen Händen 

Möge Gott mir beistehen, dass sie mein Tagebuch nicht bei mir finden. Sie würden mich ohne Erbarmen 

Fragment einer Tagebuchaufzeichnung des deutschen Reisenden J.A. Wagner. Aus dem Jahr 1787

1. Kapitel

Weimar, August 1797

»Sie wollen mir also weismachen, der Herr Geheimrat hätte all diese merkwürdigen Dinge bei Ihnen in Auftrag gegeben?«

Christiane Vulpius schlug die Hände über dem Kopf zusammen, als der Schneidermeister ihr die Kleidungsstücke zeigte, die er angeblich im Auftrag des Hausherrn genäht hatte.

Diese Farben und dann der Schnitt … Nein, unmöglich, dass Goethe, der stets so viel Wert auf sein Äußeres legte, Westen und Gehröcke wie diese tragen würde. Außerdem führte Christiane persönlich die Rechnungsbücher und kannte alle Ausgaben, die Goethes Garderobe betrafen. Demnach konnte es sich hierbei bestenfalls um einen bedauerlichen Irrtum handeln. Oder um einen Witz. Ja, irgendein Spaßvogel erlaubte sich einen dummen Scherz mit ihnen.

Schneidermeister Tobias Samuel Koppelmann sah allerdings nicht so aus, als ob er zu Scherzen aufgelegt wäre. Im Gegenteil, er war beleidigt. In näselndem Tonfall wies er Christiane darauf hin, dass ihm ganz gewiss kein Fehler unterlaufen sei. Seit er kurz nach dem Dreikönigstag zum Hofschneider ernannt worden war, arbeiteten er und seine Gesellen fast Tag und Nacht, um die Sonderwünsche seiner Kunden zu erfüllen. Stirnrunzelnd zückte er sein Auftragsbuch und begann darin zu blättern.

»Hier steht es schwarz auf weiß, Gnädigste. Ihr Bruder kam kurz nach dem Pfingsttag zu mir und ließ Maß nehmen. Da er erklärte, die Rechnung gehe hierher, ging ich selbstverständlich davon aus, dass ich für den Herrn Geheimrat arbeiten würde. Allerdings fand ich es schon ein wenig seltsam, dass ich dieses Mal nicht nach seinen Maßen nähen sollte. Ihr Herr Bruder ist, mit Verlaub, nicht so hochgewachsen und stattlich wie Herr von Goethe. Er lässt, mit Bedauern sage ich es, die Schultern allzu sehr hängen.«

Christiane begutachtete die tannengrüne Weste aus grobem Tuch und die dreiviertellangen roten Leinenhosen. In Höhe beider Oberschenkel hatte der Schneider Taschen aufgenäht, für Münzen, Schnupftabaksdose, Pfeifenanzünder und was Männer im Allgemeinen sonst noch so mit sich herumschleppten. In Frankreich wurden solche Hosen von den republikanischen Schreihälsen getragen, die ihren armen König vor einigen Jahren einen Kopf kürzer gemacht hatten. Was diese Burschen in ihren Taschen trugen, wollte Christiane gar nicht wissen.

Mit gerümpfter Nase warf sie die Kleider zurück in die Schachtel. Welcher Teufel hatte ihren Bruder geritten, in Goethes Namen derartige Abscheulichkeiten zu bestellen? Sie war heilfroh, dass der Dichter den Sommer nicht in Weimar verbrachte. Hätte er das Paket des Schneiders auspacken müssen, hätte ihn womöglich der Schlag getroffen.

»Aber warum sollte mein Bruder sich eine solche Weste nähen lassen?«, fragte sie zögerlich. Der Hofschneider zuckte mit den Achseln. »Wenn es nicht für den Herrn Geheimrat bestimmt gewesen wäre, hätte ich keine Nadel und keinen Faden Garn dafür vergeudet. Aber woher soll ein bescheidener Handwerker wissen, was in den Köpfen der vornehmen Herren vorgeht?«

Christiane dachte nach. Soweit sie sich erinnerte, war ihr Bruder noch nie als vornehmer Herr bezeichnet worden. Er bemerkte nicht einmal, wenn sein Rock abgetragen war und seine Hosen Löcher hatten. Manchmal suchte Christiane ihm ein paar Kleidungsstücke zusammen, die Goethe nicht mehr tragen mochte, aber sie bezweifelte, dass ihrem Bruder so etwas überhaupt auffiel. So war Christian. Mit den Gedanken immer ganz weit weg in den Wolken. Aber einen besseren Geschmack hätte sie ihm zugetraut. Und dass er es wagte, Goethes Geld zu verschwenden, war unverzeihlich. Es wurde Zeit, dass sie ihm gehörig die Leviten las.

Christiane hob den Blick, als das Dienstmädchen ihr einen weiteren Besucher meldete. Den Mann, der kurz darauf eintrat, kannte sie nur vom Sehen. Er betrieb eine Hutmacherwerkstatt in der Seifengasse, doch bislang hatten weder Goethe noch ihr Bruder bei ihm arbeiten lassen.

»Verzeihen Sie, wenn ich ausgerechnet heute störe, Demoiselle«, sagte der Mann. »Wie ich von dem Mädchen hörte, sind Sie erst kürzlich von einer Reise zurückgekehrt. Ich werde mich daher kurzfassen.«

Christiane hoffte darauf. Es war Samstagnachmittag und die Schwüle so schweißtreibend, dass ihre Wangen glänzten. Sie winkte den dicklichen Mann, dessen knallrote Wangen sie an einen reifen Apfel erinnerten, heran und erkundigte sich nach seinen Wünschen. Sogleich zog der Mann seinen Dreispitz und machte einen Schritt vor, wobei er den Schneider anrempelte.

»Kannst du nicht aufpassen, du Stoffel?«, brummte Koppelmann verärgert. »Und überhaupt, was hast du hier verloren? Ich habe eine Unterredung mit der Gnädigsten.«

Den Hutmacher beeindruckte das nicht. »Mein Lehrjunge hat dich hier eintreten sehen und mich daran erinnert, dass der Herr Geheimrat Goethe einen Hut in Auftrag gegeben, bislang aber weder abgeholt noch bezahlt hat. Ich hoffe nur, ich habe das Hutband nicht zu knapp bemessen.«

»Wen kümmert dein Hutband?« Schneidermeister Koppelmann schüttelte den Kopf. »Zuerst wird meine Rechnung beglichen, verstanden? Ich warte schon länger darauf als du!«

Christiane starrte den Hutmacher an. Wovon bei allen guten Geistern redete dieser Kerl?

»Sie wollen also auch einen Auftrag von uns erhalten haben und behaupten, wir seien Ihnen Geld schuldig?«

»Oh, unter normalen Umständen würde ich mich niemals aufdrängen, aber soweit ich weiß, ist der Herr Geheimrat, seit er in Weimar lebt, noch niemals einem Handwerker etwas schuldig geblieben.« Interessiert blickte sich der Dicke in dem geschmackvoll eingerichteten Salon um. Für gewöhnlich empfing der Hausherr hier keine Lieferanten, aber Christiane fühlte sich zu träge, um die Männer in einen der vorderen Empfangsräume führen zu lassen. Sie wollte die leidige Angelegenheit hinter sich bringen, damit sie sich endlich um August kümmern konnte.

»Ich bin um den guten Ruf unseres verehrten Herrn Geheimrats besorgt, nur deshalb bin ich hier«, sagte der Hutmacher. »Nicht des Geldes wegen, Demoiselle.«

»Aber der Geheimrat ist nicht da«, wandte Christiane ein, der allmählich der Geduldsfaden riss. »Ich kann nicht glauben, dass er bei Ihnen war, um sich einen Hut machen zu lassen.«

Das Lächeln des Hutmachers verflüchtigte sich. Er zog einen Bogen Papier aus seiner Jacke und überreichte ihn Christiane. »Er hat Ihren Bruder geschickt. Wenn ich um mein Geld bitten dürfte?«

»Nicht so eilig!«, sagte Koppelmann. »Vielleicht hast du mich nicht bemerkt, aber ich war vor dir da. Und wenn hier eine Rechnung beglichen wird, dann ist es meine.« Nun zog auch er ein Papier aus seiner Jacke und streckte den Arm aus, als wollte er sich mit dem Dicken duellieren.

»Aber meine Herren, ich bitte Sie …« Christiane sank auf einen Stuhl und fächelte sich mit der Hutmacherrechnung ein wenig Luft zu. Obwohl das Dienstmädchen alle Fenster geöffnet hatte, hing die Augusthitze in dem Raum. Vom Garten drangen Gelächter, Jammern und das Quietschen des Pumpenschwengels herein. Vermutlich vergnügte sich der kleine August damit, seine Tante Ernestine nass zu spritzen. Christiane wusste, wie sehr er sie vermisst hatte und wie froh er war, wieder zu Hause in Weimar zu sein. Erst vor zwei Tagen waren beide von einer Sommerreise nach Frankfurt zurückgekehrt, wo sie Goethes Mutter besucht hatten. Die alte Dame hatte sich gefreut, ihren Enkel endlich kennenzulernen, und ihm jeden Wunsch von den Lippen abgelesen. Christiane hatte den Ausflug ebenso genossen, doch die Strapazen der langen Kutschfahrt steckten ihr noch in den Knochen. Dabei hatte sie sich für die kommenden Tage so viel vorgenommen. Die Reisekoffer mussten ausgepackt, die schmutzige Wäsche gewaschen und hundert Besorgungen gemacht werden. August hatte sich für den Sonntag Frankfurter Pastetchen mit grüner Soße nach dem Rezept seiner Großmutter gewünscht, aber dieses war irgendwo in den Tiefen ihres Koffers verloren gegangen.

Christiane ließ sich einen der Hüte zeigen. War das grüner oder brauner Filz? Egal, er passte auf den Kopf eines Wildhüters oder Försters, nicht auf den ihres Bruders. Den Dreispitz zierten sogar zwei Hahnenfedern. Hatte Christian den Verstand verloren, für einen solchen Firlefanz Geld zu verschwenden? Geld, das ihm nicht einmal gehörte.

Seufzend läutete sie nach dem Dienstmädchen und bat es, ihr die Geldkassette zu bringen. Wie gern hätte sie die Männer mit dem Hinweis weggeschickt, sie sollten sich an ihren Bruder wenden und die Familie des Geheimrats mit ihren albernen Rechnungen verschonen. Doch obwohl sie wütend auf Christian war, brachte sie es nicht übers Herz, ihn ins offene Messer laufen zu lassen. Davon abgesehen, waren sowohl Koppelmann als auch der Hutmacher für ihre Geschwätzigkeit bekannt. Wenn Christiane sich weigerte, sie zu bezahlen, würde das in Weimar rasch die Runde machen, und auf spitze Bemerkungen ihrer Nachbarn konnte sie liebend gern verzichten.

Als die Handwerker gegangen waren, warf Christiane Hüte und Westen in eine Schachtel und ging damit zur Bibliothek, die an Goethes Arbeitszimmer grenzte. Wie erwartet, fand sie dort ihren Bruder.

Christiane gönnte sich einen Moment, um den schlanken jungen Mann zu beobachten, der so eifrig in den Büchern blätterte. Obwohl unter ihren Füßen die Dielenbretter knarzten, nahm er keine Notiz von ihr, so versunken war er in seine Arbeit. Der Anblick erinnerte sie an Goethe und daran, wie sehr sie ihren Mann vermisste. Auch der vergaß schnell alles um sich herum, sobald ihn ein Gegenstand seines Interesses fesselte. Dann war es jedem im Haus verboten, ihn zu stören. Doch Ruhe und Ungestörtheit waren Privilegien des Hausherrn, nicht eines versponnenen Schwagers, der am Frauenplan nur geduldet war.

Christiane hatte noch nie darüber nachgedacht, ob sie ihren Bruder für gut aussehend hielt, doch sicher mochte es Frauen geben, die ihn auf eine gewisse Weise anziehend fanden. Zumindest gab er mit seinem schmalen, von Sommersprossen bedeckten Gesicht und dem kleinen Grübchen am Kinn ein Erscheinungsbild ab, das nicht nur mütterliche Instinkte weckte. Seinen dichten blonden Schopf trug er gescheitelt und zurückgekämmt, was einzelne Strähnen nicht davon abhielt, ihm keck in die Stirn zu fallen. Seine Augen blickten melancholisch drein, manchmal sogar traurig, was darauf hinwies, dass Christian Vulpius in seinem Leben bereits so manche Niederlage hatte hinnehmen müssen.

Christiane räusperte sich. Zunächst verhalten, dann heftiger. Schließlich hustete sie. Endlich warf Christian einen Blick über die Schulter und setzte sein breitestes Grinsen auf.

»Du Ärmste scheinst wieder eine Erkältung zu bekommen. Soll ich jemanden zum Apotheker schicken?«

Christiane kannte dieses charmante Lächeln zur Genüge und ärgerte sich gleich noch mehr. Schon als Kind hatte er damit durchgesetzt, was immer er haben wollte. Diesmal nicht, nahm sie sich vor. Nein, dieses Mal werde ich hart bleiben.

»Ich bin nicht krank, also brauche ich auch keine Arznei«, sagte sie ärgerlich. »Wie oft habe ich dir eigentlich gesagt, dass du ohne meine Erlaubnis hier nichts zu suchen hast?« Ihr Blick fiel auf den Schlüssel zur Bibliothek, den Christian soeben dezent unter eines der Bücher schob. Flink sprang sie vor und schnappte ihn sich.

»Du kannst nicht einfach hier eindringen, sooft dir das passt, um in den wertvollen Büchern des Geheimrats zu stöbern!«

Christian blickte sie treuherzig an. »Hat der alte Hexenmeister sich doch einmal wegbegeben, und nun sollen seine Geister auch nach meinem Willen leben …«

»Was soll das heißen? Bist du betrunken?«

»Du hast es nicht gelesen?« Christian Vulpius legte die Stirn in Falten und hob tadelnd den Finger. »Ich kann nicht glauben, dass du das jüngste Meisterwerk deines Herrn und Gebieters noch nicht auswendig zitieren kannst!« Er reichte Christiane ein eng beschriebenes Papier.

»Die Ballade handelt von einem Lehrjungen, der die Abwesenheit seines Herrn nutzt, um …«

»Ja, ja, schon gut!« Christiane unterbrach ihn mit einer scharfen Geste, denn nun erinnerte sie sich wieder an die Verse, die Goethe erst vor wenigen Wochen zu Papier gebracht hatte. Zweifellos hatte er sie ihr vorgelesen, doch zu Beginn des Sommers hatte sie eine hartnäckige Erkältung ans Bett gefesselt, und daher war ihr der Sinn nicht nach alten Zauberern und jungen Burschen gestanden, die aus purem Übermut ein Haus unter Wasser setzen. Schon bei dem Gedanken daran überfiel sie ein Grausen. Doch das Gedicht war gut, das musste sie zugeben.

Unten im Garten quietschte noch immer der Pumpenschwengel. Entweder ertränkte der kleine August gerade ihre Schwertlilien im Ziergarten oder seine Tante Ernestine.

»Du hast doch hoffentlich nicht vor, dir diesen Lehrjungen aus der Ballade des Geheimrats zum Vorbild zu nehmen und etwas anzustellen?«, fragte Christiane argwöhnisch. Dabei sah sie sich die Bücher an, die ihr Bruder aus den Regalen genommen hatte. Goethes Bibliothek galt mit Tausenden von Bänden als eine der größten und bestsortierten Sammlungen weit über die Grenzen des Herzogtums Sachsen-Weimar hinaus. In seinen Räumen fanden sich nicht nur Bücher zu juristischen und historischen Sachverhalten, sondern auch bedeutende Werke über Botanik, Mineralogie und Geologie, denn Johann Wolfgang von Goethe galt als ein großer Freund der Naturwissenschaften.

Christiane entzifferte einige der Titel und stellte fest, dass sich fast alle Bücher auf dem Tisch mit der Geschichte Roms, Venedigs und Paduas sowie mit Sitten und Gebräuchen der Italiener beschäftigten. Einige davon waren in italienischer Sprache abgefasst, weswegen Christian auch ein dickes Wörterbuch aus dem Regal genommen hatte.

»Was hast du mit Italien zu schaffen?« Christiane schmeckte etwas Bitteres auf der Zunge und fühlte sich plötzlich nach Frankfurt zurückversetzt. Dort, im Haus von Goethes Mutter, hatte sie mit ihrem Geliebten hitzige Diskussionen, bis er ihr und der alten Frau Rat schließlich hoch und heilig versprochen hatte, bis zum späten Herbst wieder in Weimar zu sein. Sie wollte nicht, dass er die Gefahren einer Reise nach Italien auf sich nahm, obgleich ihr nicht entgangen war, dass er sich insgeheim danach sehnte, noch einmal die Alpen zu überqueren.

Hatte er etwa Christian etwas über seine Pläne verraten, was er vor ihr verheimlichte?

»Als ob der Geheimrat mich ins Vertrauen ziehen würde!« Christian schüttelte betrübt den Kopf. »Nein, nein, ich brauche die Bücher für meine eigenen Studien. Und wenn ich verspreche, dass ich sie wie meinen Augapfel hüte und zurückbringe, bevor der Geheimrat von seiner Reise nach … wohin auch immer … zurückkehrt?« Treuherzige Hundeaugen blickten sie an.

»Ausgeschlossen!«, protestierte Christiane energisch. Sie dachte einen Moment lang nach. »Weißt du, was ich glaube? Dass mein Goethe wirklich an dich gedacht hat, als er die Figur des Zauberlehrlings erdichtete. Du glaubst, in seine Schuhe zu passen, dabei sind sie viel zu groß für dich. Konzentriere dich lieber auf deine Arbeit am Hoftheater, sonst bist du die schneller wieder los, als ich brauche, um ein Ei aufzuschlagen.«

»Ich brauche die Bücher aber«, sagte Christian. »Ich möchte einen Roman schreiben.«

»Auch das noch«, schimpfte seine Schwester. »Und bis dich die Muse küsst, soll ich dich wohl durchfüttern? Leih dir deine Bücher gefälligst in der Bibliothek im Grünen Schloss.«

»Das ist im Augenblick leider unmöglich!« Christian befeuchtete seine Lippen mit der Zunge, wobei er sich Mühe gab, Christianes Blick auszuweichen. Dann nuschelte er etwas vor sich hin, das sich für sie nach dem Wort »Hausverbot« anhörte.

Entsetzt schnappte Christiane nach Luft. Hausverbot? War ihr Bruder etwa von allen guten Geistern verlassen? Wie konnte er sie so blamieren?

»Du schuldest dem Bibliothekar Geld, nicht wahr?«

Christians Seufzen überzeugte sie davon, dass sie den Nagel auf den Kopf getroffen hatte. Ihr war zwar bewusst, dass man ihn beim Theater mit einem Hungerlohn abspeiste, aber wenn er weiterhin Schulden wie ein Offizier machte, würde bald ganz Weimar bei ihr anklopfen und Rechnungsbücher zücken.

»Es ist im Grunde nur eine Lappalie«, beteuerte er. »Wirklich, Schwesterchen. Ich konnte nichts dafür. Ich habe nur für einen Freund gebürgt, dem ich noch einen Gefallen schuldig war. Die Angelegenheit wird sich aufklären, bevor der Geheimrat zurück ist. Das verspreche ich.«

»Ich hoffe es für dich«, sagte Christiane spitz. »Und nun verlange ich eine Erklärung, warum du dir von Koppelmann scheußliche Kleider schneidern lässt, wenn du sie bei einem Hausierer oder Lumpensammler viel billiger haben könntest. Das Geld dafür habe ich übrigens unserer Haushaltskasse entnommen, aber ich verlange, dass du es mir wiedergibst, und zwar auf Heller und Pfennig.«

Energisch drückte sie Christian die Schachtel in die Hand. Er verschwand damit wortlos im Nebenraum und zog die Tür bis auf einen schmalen Spalt hinter sich zu.

»Du willst das Zeug wirklich anziehen?«, rief Christiane ihm kopfschüttelnd nach. »Ich meine, dein Geschmack war ja schon immer etwas ungewöhnlich, aber wenigstens konntest du dich in deinem weißen Gehrock mit der gelben Weste überall sehen lassen.«

»Warte, ich bin gleich soweit«, kam es aus Goethes Arbeitszimmer.

Nur wenige Augenblicke später stand Christian umgezogen wieder vor ihr in der Bibliothek, und Christiane starrte ihn mit offenem Mund an.

»Nun, was sagst du, wie sehe ich aus?«

»Was willst du denn hören? Eine höfliche Floskel oder die Wahrheit?«

Christian ignorierte den Sarkasmus im Tonfall seiner Schwester und blickte sich nach einem Spiegel um, den er in Goethes Bibliothek jedoch nicht fand.

»Hat diese Aufmachung etwas mit dem Buch zu tun, das du schreiben willst?«

Der junge Mann zog sich strahlend die Krempe seines Hutes über die Ohren. »Endlich ist der Groschen gefallen. Vor dir siehst du das exakte Abbild des italienischen Räuberhauptmanns Angelo Duca, der vor einigen Jahren gehängt wurde.«

»Wenn ich mir diese Aufmachung betrachte, kann ich auch verstehen, warum!«

Christian runzelte die Stirn und kniff ein Auge zu. Einen Augenblick lang sah er so bedrohlich aus, dass seine Schwester unwillkürlich einen Schritt zurück machte.

»Deinen Humor in allen Ehren, Schwester. Aber wenn ich über eine Person schreiben will, muss ich mich ganz und gar in sie hineinversetzen. Ich muss verstehen, wie sie denkt und was sie fühlt. Wäre der Geheimrat hier, würde er mir sicher recht geben.«

Christiane, die sich nie die Mühe gemacht hatte, herauszufinden, wie aus einem Einfall ihres Lebensgefährten ein Theaterstück oder ein Gedicht wurde, wagte das zu bezweifeln.

»Müssen wir als Nächstes damit rechnen, dass mein Bruder in Weimar Häuser überfällt oder Kutschen auflauert, um zu wissen, wie sich das anfühlt?«, fragte sie spöttisch.

Er zog es vor, darauf nicht zu antworten. Damit hatte Christiane aber auch nicht gerechnet. Ihr Blick fiel auf eine Bücherkiste, die vor einigen Wochen geliefert worden war. Goethe hatte sie angewiesen, sie in sein Gartenhaus schaffen zu lassen. Plötzlich kam Christiane eine Idee. »Ich gebe dir Gelegenheit, deine Schulden abzuarbeiten«, sagte sie. »Siehst du diese Kiste? Sie enthält Bücher, Mineralien, botanische Proben und andere Erinnerungen, die wir aber nicht alle in der Bibliothek unterbringen können.«

Christian hob neugierig die Augenbrauen. »Was sind das für Bücher?«

»Das wirst du herausfinden, während du sie nach Inhalt und Herkunft ordnest und in ein Register einträgst. Machst du deine Sache ordentlich, sehe ich darüber hinweg, dass du mein Haushaltsgeld verschwendest hast, um Räuberhauptmann zu spielen. Vielleicht begleiche ich sogar deine Schulden bei dem Bibliothekar.«

Christian seufzte. Seiner Miene war zu entnehmen, dass ihm der Auftrag seiner Schwester ungelegen kam, doch auf der anderen Seite konnte er den Lohn dafür gut gebrauchen. Christiane konnte nicht ahnen, dass seine Schulden im Grünen Schloss nicht die einzigen waren. Jederzeit konnten weitere Gläubiger an die Tür klopfen und nach ihm fragen.

»Könnte ich nicht eine Weile im Haus am Stern wohnen?«, schlug er vor. Das frühere Domizil des Geheimrats lag inmitten eines blühenden Gartens vor dem Tor an der Ilm. Dort würde ihn gewiss niemand suchen. Er konnte in aller Ruhe Goethes Erinnerungsstücke sortieren und sich außerdem noch um seine Erzählung über den italienischen Räuberhauptmann kümmern.

Christiane kannte ihren Bruder gut genug, um den Braten zu riechen, erklärte sich aber nach kurzem Zögern einverstanden, ihm den Schlüssel auszuhändigen. Im Park an der Ilm richtete er weniger Schaden an als in der Stadt, und sie konnte sich endlich wieder um die anstehenden Arbeiten im Haus kümmern. Als Christiane ihm den Rücken zukehrte, bemerkte sie nicht, dass der Stapel italienischer Bücher schon in Christians Beutel verschwunden war.

2. Kapitel

Am Abend ertränkte Christian sein schlechtes Gewissen in einem großen Krug Bier. Er hatte sich Christiane gegenüber wie ein Flegel benommen. Was war nur über ihn gekommen? Seitdem das neue Buch durch seine Gedanken geisterte, erkannte er sich selbst kaum wieder. Er war unkonzentriert bei der Arbeit am Hoftheater und litt ständig unter Kopfschmerzen. Einige Male war er sogar nachts aus einem Alptraum aufgeschreckt, dessen düstere Bilder ihn bis zum Morgen gequält hatten. Ob es dem Geheimrat ähnlich erging, wenn er an einem neuen Werk arbeitete? Christian hätte ihn gern dazu befragt, war aber gleichzeitig froh, dass Goethe den Sommer nicht in Weimar verbrachte. Nach Christianes Standpauke wäre es ihm peinlich gewesen, seinem Gönner unter die Augen zu treten, und er hoffte, dass bis zu dessen Rückkehr Gras über seinen Fauxpas gewachsen war. Wenn das Buch erst einmal gedruckt war, würde Goethe bestimmt anders über ihn denken. Er würde es lesen und ihn beglückwünschen. Was Christiane betraf, so nahm er sich fest vor, ihr künftig keinen Kummer mehr zu machen. Sie hatte auch ohne ihn schon genügend Sorgen. Da Goethe sich ein Leben nach strikten Regeln angewöhnt hatte, war Christiane von früh bis spät damit beschäftigt, seine Wünsche zu erfüllen. Sogar in seiner Abwesenheit hatte sie jede Menge zu tun. Ein so großes Haus wie das Goethes am Frauenplan verwaltete sich schließlich nicht von selbst. Christians Schwester stand mit den Dienstmägden auf und war oft die Letzte, die schlafen ging. Dennoch wurde sie vom Adel und der vornehmen Weimarer Gesellschaft mehr belächelt als akzeptiert. Dank Goethes Einfluss verkehrte sie zwar inzwischen in einigen der angesehenen Häusern, doch nicht nur Christian wusste, dass seine Schwester nur eingeladen wurde, um den Geheimrat nicht zu verärgern. Er bewunderte Christiane dafür, dass sie trotz mancher Kränkung fröhlich blieb und das Getuschel hinter ihrem Rücken eisern ignorierte. Wichtiger als jede Anerkennung der Hofgesellschaft war für sie ihre Familie. Die Familie, zu der auch er gehörte.

Ein Schmarotzer. Ein Bücherdieb.

Nein, kein Dieb, beruhigte er sich bei einem weiteren Schluck Bier. Er hatte Goethes Bücher nicht gestohlen, sondern ausgeliehen. Das war ein Unterschied. Mehr als eine Nacht würde er nicht brauchen, um die Bücher auf Berichte über italienische Banditen durchzusehen. Goethe würde ihn verstehen, denn er wusste, dass Bücher für Christian fast so etwas wie lebendige, atmende Wesen waren. Geschöpfe mit Seele. Er war beileibe nicht so kleinlich wie Christiane. Seine Schwester sollte nicht vergessen, dass sie ihre Bekanntschaft mit Goethe allein ihm verdankte. Hätte er nicht damals diesen Bittbrief geschrieben und ihn von Christiane überreichen lassen, hätte der Geheimrat nie Notiz von ihr genommen. Heute lebte sie unter seinem Dach, und die beiden hatten einen Sohn miteinander. Das sollte doch einen Blick in ein paar alte Bücher wert sein. Er würde sie zurückbringen, wenn Christiane mit dem kleinen August in der Kirche war. Die Dienerschaft kannte ihn und würde ihn nicht stören. Er konnte nur hoffen, dass Christiane den Schlüssel zu Bibliothek und Arbeitszimmer nicht inzwischen bei sich trug oder versteckt hatte, weil sie misstrauisch geworden war. Fand er ihn nicht, würde es ihm zweifellos an den Kragen gehen.

Christian bestellte sich noch ein Bier. In der kleinen Schenke, die in einer ruhigen Gasse fernab vom Frauenplan lag, wurde es von Stunde zu Stunde voller. Aber Christian fühlte sich in dem stickigen Schankraum mit seinen schwarzen Deckenbalken und dem Geruch von Knoblauch, Schweiß und Pfeifentabak wohl. Hier konnte er einkehren, ohne befürchten zu müssen, auf Bekannte zu treffen, denn anders als das Gasthaus »Zum weißen Schwan« wurde die Schenke für gewöhnlich von kleinen Leuten besucht: Tagelöhnern, Handwerksgesellen oder Reisenden, die ein billiges Bett für die Nacht suchten. Dafür herrschte wie an jedem Samstag zu dieser Stunde viel Betrieb. Ohne Unterlass flog die Tür auf und zu und spie neue Gäste in den Schankraum. Die Mägde eilten umher und wurden von den Gästen an den Tischen jubelnd empfangen. Der Lärm störte Christian nicht, im Gegenteil, er war froh, unter Menschen zu sein. Ins Gartenhaus würde er noch früh genug zurückkehren. Tief in Gedanken schlug er das Notizbuch auf, das er immer bei sich führte, und überflog, was er am Nachmittag zu Papier gebracht hatte. Viel war es nicht, wie er bedauernd feststellte. Die erste Durchsicht der Bücher hatte ihn auf seiner Suche nach Einzelheiten über berüchtigte Banditen nur unwesentlich weitergebracht. Mit gerunzelter Stirn begutachtete er die Skizzen, die er von sich selbst im Räuberkostüm angefertigt hatte, und kam sich dabei plötzlich albern vor. Vermutlich hatte Christiane doch recht gehabt, und er machte sich zum Narren. Misslang ihm das Buch, würde ganz Weimar über ihn lachen. Und Goethe vor Wut schäumen.

»Sieht ja zum Fürchten aus, Ihre Zeichnung«, meinte die Wirtin, die ihm sein Bier brachte. »Ähnelt dem Kerl mit den stechenden Augen, der Sie schon den ganzen Abend über anstarrt.« Überrascht klappte Christian sein Notizbuch zu. »Wollen Sie sagen, ich werde beobachtet?«

»Nicht so auffällig«, zischte die Wirtin. »Er sitzt in der Ecke neben dem Kamin, die Hände um ein Glas Wein gelegt. Aber er nimmt keinen Schluck daraus. Ist mir gleich aufgefallen. Essen will er auch nichts. Hockt einfach nur da und brütet vor sich hin. Als würde er auf etwas warten. Unheimlich, nicht wahr?«

»Gesagt hat er nichts?«

»O doch. Als ich ihn bediente, hat er mich über Herrn von Goethe ausgehorcht. Wie lange er bereits auf Reisen sei und wann er wieder in Weimar zurückerwartet werde.« Sie wischte sich mit einem Schürzenzipfel über das schwitzende Gesicht. »Wenn Sie mich fragen, führt der Bursche nichts Gutes im Schilde, so finster wie der dreinschaut und meine Gäste mustert. Ach ja, nach einer billigen Kammer hat er sich erkundigt. Weil er in Weimar Geschäfte zu erledigen habe und eine Weile bleiben werde. Aber nun frage ich Sie: Sieht dieser gerupfte Rabe wie ein Kaufmann aus?«

»Keine Ahnung«, murmelte Christian.

»Hier ist jedenfalls kein Bett für ihn frei.« Achselzuckend machte die Frau kehrt und ließ Christian verwirrt zurück. Vorsichtig spähte er zu dem Fremden hinüber. Dass Durchreisende sich nach dem berühmten Dichter erkundigten, war an sich weder selten noch ungewöhnlich. Seit Goethe den »Werther« veröffentlicht hatte, wurde er nicht nur in Weimar wie ein Halbgott umschwärmt. Fast täglich hielten Kutschen am Frauenplan. Wer Gelegenheit hatte, versuchte, wenigstens einen Blick auf das Haus des berühmten Poeten zu werfen.

Christian wollte sich gerade wieder seinen Aufzeichnungen zuwenden, als der Fremde mit einem Mal aufstand und sich schlurfend auf seinen Tisch zubewegte. Er war mittelgroß, hager und so blass, als hätte er eine dicke Schicht Puder aufgetragen. Sein Gehrock war so schwarz wie sein langes, zurückgebundenes Haar. Gewiss war das gute englische Tuch einmal teuer gewesen, die vielen geflickten Stellen an den Ärmeln deuteten jedoch darauf hin, dass der Mann in recht bescheidenen Umständen lebte. Er wirkte abgespannt und müde, doch seine kleinen grauen Augen, die Christian flink wie Hände abtasteten, verrieten einen wachen Geist und eine exzellente Beobachtungsgabe.

»Erlauben Sie, dass ich mich einen Moment zu Ihnen setze?«, erkundigte sich der Fremde höflich. »Wie mir die Wirtin verriet, sind Sie Vulpius und mit dem Geheimrat Johann Wolfgang von Goethe gut bekannt.«

Christian hob misstrauisch die Augenbrauen. »Das ist zwar richtig, aber bestimmt hat man Ihnen auch gesagt, dass der Geheimrat die Sommermonate nicht in Weimar verbringt. Wenn Sie also eine Widmung oder eine Empfehlung von ihm haben wollen …«

»Darum geht es nicht«, sagte der Hagere mit gefährlich leiser Stimme. Der Blick, mit dem er Christian musterte, ließ erahnen, dass der Fremde Goethe nicht wegen dessen schöner Verse bewunderte. Möglich, dass er in seinem Leben noch keine einzige Zeile von ihm gelesen hatte.

»Mein Name ist Johann Aurelius Wagner. Wir sind einander noch nicht begegnet, und ich glaube auch nicht, dass Sie schon einmal von mir gehört haben.« Er lächelte, ohne den Ausdruck seiner Augen zu verändern. »Ich war lange im Ausland.«

Christian schüttelte den Kopf. Nein, der Name sagte ihm nichts, ganz bestimmt hatte Goethe ihn in seinem Beisein nie erwähnt. Das musste jedoch nichts bedeuten, denn der Geheimrat hatte mehr Bekannte als ein Hund Flöhe. Der Fremde nahm ihm gegenüber Platz und warf seinen abgewetzten Dreispitz auf den Tisch. »Das habe ich auch nicht erwartet. Es ist viele Jahre her, seit ich dem Herrn Geheimrat zuletzt geschrieben habe. Gut möglich, dass er sich gar nicht mehr an mich erinnert.«

»Was wollen Sie dann von meinem Schwager?«, fragte Christian. »Etwa eine Anstellung?«

Wagner lächelte nachsichtig. »Das geht nur ihn und mich etwas an. Also, wo ist er und wie kann ich ihn erreichen?«

Christian begann sich zu ärgern. Eine derartige Hartnäckigkeit war ihm noch nicht begegnet. Wie konnte dieser Fremde annehmen, dass ausgerechnet er ihm Goethes Reiseziel verraten würde, wo nicht einmal Christiane wusste, wo ihr Mann den Rest des Sommers zu verbringen gedachte. Goethe hatte niemanden in seine Pläne eingeweiht. Im Notfall konnte Christiane an die Adresse seiner Mutter in Frankfurt schreiben, doch ob und wann er die Briefe erhielt, stand in den Sternen.

»Es tut mir leid«, sagte er kopfschüttelnd. »Ich bin nicht Goethes Sekretär. Sie werden wohl oder übel warten müssen, bis er nach Weimar zurückkehrt. Im Herbst.«

»Bis zum Herbst?« Johann Aurelius Wagner schaffte es tatsächlich, noch eine Spur bleicher zu werden. Als sein Blick auf Christians Notizblätter fiel, glättete sich seine zerfurchte Stirn ein wenig. »Der junge Herr interessiert sich also für Angelo Duca und Thommaso Rizzi?«

»Bitte, wovon sprechen Sie?«

Wagner deutete auf die Skizzen. »Ihre Zeichnung ähnelt zwei italienischen Banditen, denen es immer wieder gelungen ist, ihren Verfolgern zu entkommen. Ich könnte Ihnen so manches über sie und ihre Schandtaten erzählen. Auch über andere, die harmlose Reisende überfallen und durch die Hölle geschickt haben.« Ohne zu fragen, nahm er sich Christians Aufzeichnungen und blätterte darin, bis er das Buch mit einem verächtlichen Herunterziehen der Mundwinkel schloss.

»Wertlos«, lautete sein abschließendes Urteil. »Wo haben Sie nur diesen Unsinn her, junger Mann? Bestimmt von Wichtigtuern, die keine Ahnung davon haben, was es bedeutet, einem Banditen Auge in Auge gegenüberzustehen. Das Blut zu riechen, das an seinen Händen klebt, und in Todesangst sein letztes Gebet zu sprechen. Ich habe das alles miterlebt.«

»Sie sind italienischen Räubern begegnet?« Christian starrte den Fremden verblüfft an.

»Jawohl, ich könnte Ihnen von einer Begegnung mit italienischen Straßenräubern berichten, aber glauben Sie mir, junger Freund: Auf diese Erfahrung hätte ich gern verzichtet, denn sie hat mein Leben zerstört. Das ist nun zehn Jahre her. Damals habe ich wie durch ein Wunder überlebt. Aber was ich während des Überfalls und danach in der Gefangenschaft mitansehen musste, ließ mich nie wieder los. Noch Jahre nach meiner Befreiung quälte mich das Gefühl, die Getöteten wollten verhindern, dass ich das Land verlasse und ein neues Leben beginne. Also blieb ich in Italien. Zuerst versuchte ich, mich mit Branntwein zu kurieren, dann trat ich bei Padua einem Mönchsorden bei.« Er wischte sich mit der Hand den Schweiß von der Stirn. »Hat alles nichts geholfen, im Gegenteil. Es wurde schlimmer. Die Alpträume. Die Stimmen der Dämonen, die mich rufen. Sie haben mich nach Weimar geschickt, damit ich für Gerechtigkeit sorge.«

»Gerechtigkeit für wen?«, fragte Christian, dem immer unbehaglicher zumute wurde. »Und wie?«

Wagner lächelte schwach. »Indem ich mich von einer alten Schuld befreie und das Unrecht, das ich zugelassen habe, sühne. Verstehen Sie, junger Mann? Wer den Pfad unseres Heilands verlässt, muss für seine Sünden und Übertretungen selbst büßen. Bis hin zum Vergießen des eigenen Blutes!«

Christian verstand gar nichts. Im Gegenteil, er fand die Andeutungen des Mannes mehr als rätselhaft. Zweifellos hatte er zu einem Zeitpunkt seines Lebens etwas Furchtbares erlebt, aber das erklärte noch nicht, was ihn nach Weimar führte und warum er so erpicht darauf war, Goethe zu sprechen. Wann war dieser eigentlich in Italien gewesen? Christian rechnete nach. Zehn Jahre lag die Reise bestimmt zurück. Zehn Jahre, in denen Goethe weitere Meisterwerke verfasst, seinen Ruhm vermehrt und Christians Schwester geschwängert hatte. Waren er und Wagner einander vielleicht damals in Italien begegnet? Erwähnt hatte der Geheimrat davon nie etwas.

Ein plötzliches Gefühl von Enge in der Brust ließ Christian nach Luft schnappen. Was, wenn dieser Mann sich in die Idee verrannt hatte, Goethe könnte etwas mit seinem Schicksal zu tun haben? Goethe war zwei Jahre in Italien geblieben und hatte seine Eindrücke in Tagebüchern festgehalten. Diese Aufzeichnungen hatte bislang kein Mensch, nicht einmal Christiane, zu Gesicht bekommen, da Goethe vorhatte, seine Erinnerungen erst gründlich zu überarbeiten, bevor er sie veröffentlichte. Und das hatte er bislang aus unbekannten Gründen vor sich hergeschoben. Dennoch erschien Christian allein schon die Vorstellung völlig absurd, ein Mann wie Goethe könnte etwas mit heimtückischen Straßenräubern zu tun gehabt haben.

»Hören Sie, Vulpius«, holte Wagner ihn aus seinen Gedanken. »Vergessen Sie besser, was ich eben gesagt habe. Das war dumm von mir. Möglicherweise brauche ich den Geheimrat gar nicht zu belästigen. Es würde mir schon helfen, wenn Sie mich für eine Stunde in seine Hausbibliothek ließen. Niemand braucht davon zu wissen. Zum Dank dafür erzähle ich Ihnen, was immer Sie über meine Erlebnisse in Italien wissen wollen.« Sein Gesicht versteinerte förmlich, als er die Stimme zu einem Flüstern senkte. »Bis hin zum bitteren Ende.«

Christian starrte Wagner mit offenem Mund an. Eine solche Unverfrorenheit hatte er nicht erwartet. War der Mann betrunken? Nein, sein Blick war klar, und seine Stimme zitterte kein bisschen. Demnach meinte er es todernst. Und gerade diese Ernsthaftigkeit war es, die Christian zögern ließ. Die Versuchung war groß. Er brannte darauf, mehr über die italienischen Räuber zu erfahren, und dort saß ein Augenzeuge, der ihm unbezahlbare Einzelheiten liefern konnte. Aber durfte er um eines Vorteils willen Christianes Vertrauen erneut missbrauchen?

Er atmete ein paar Mal tief durch und sagte schließlich mit leisem Bedauern in der Stimme: »Sie sollten jetzt gehen und Ihren Rausch ausschlafen, Wagner.«

Doch so schnell gab Wagner nicht auf. »Sie begreifen offenbar nicht, worum es mir geht. Ich muss die Bücher sehen«, raunte er. »Jedes gottverfluchte Stück, das von Italien handelt.«

»Italien?« Christian wurde blass.

»Eines gehört mir, verstanden?«, zischte Wagner. »Ich habe es dem Geheimrat geschickt, als ich ins Kloster eintrat und nichts als vergessen wollte. Aber nun muss ich es wiederhaben. Es hängen Menschenleben davon ab, dass ich es bald finde.«

»Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht helfen!« Christian warf ein paar Münzen auf den Tisch und griff nach seinem Hut, doch bevor er aufstehen konnte, beugte sich Wagner blitzschnell vor, packte Christian am Arm und zwang ihn mit erstaunlich festem Griff, sich wieder hinzusetzen. »Oh, ich glaube schon, dass Sie mir helfen können!« Er betrachtete Christian eingehend. »Ich habe Erkundigungen über Sie eingeholt, junger Mann. Ihre Familie war in Weimar einmal recht angesehen, aber das ist lange her. Wie man hört, schuften Sie für einen Hungerleiderlohn und schulden einigen Leuten Geld, die nicht gut auf Sie zu sprechen sind.«

»Was geht das Sie an?« Am liebsten hätte Christian dem Fremden mit der Faust Manieren beigebracht, doch in dem einzigen Gasthaus, das ihm noch Kredit gewährte, eine Prügelei anzuzetteln, war sicher keine gute Idee. »Ich habe meine Schulden bisher immer bezahlt, und das werde ich auch in Zukunft tun.«

Wagner zuckte mit den Achseln. »Möglicherweise war es ein Fehler, Sie um Hilfe zu bitten. Schließlich habe ich nicht vor, ein Verbrechen zu begehen. Im Gegenteil, wenn ich die Urkunde gefunden habe, kann ich vielleicht verhindern, dass Ihrer Familie etwas Schreckliches zustößt.«

»Sie müssen verrückt sein.« Schaudernd dachte Christian an Christiane und seinen kleinen Neffen, die während Goethes Abwesenheit schutzlos zu Hause waren. »Und was für eine Urkunde? Sprachen wir nicht eben noch von Büchern?«

Wagner verzog das Gesicht; offenbar ärgerte es ihn, dass er sich verplappert hatte. »Also schön, in einem der Bücher über Italien steckt ein Schriftstück, das ich haben muss. Wenn es in die falschen Hände gerät, könnte es unschuldigen Menschen den Tod bringen!«

Was sollte das nun wieder? »Weiß der Geheimrat darüber Bescheid?«

Wagner hob die Augenbrauen. »Ich werde seiner Frau noch vor dem Kirchgang morgen einen Besuch abstatten und sie bitten, mir als altem Freund ihres Mannes zu erlauben, einen Blick auf seine Sammlung italienischer Bücher zu werfen. Die gibt es doch noch, oder?«

Christian bekam es nun mit der Angst zu tun. Wenn dieser Wagner zum Frauenplan ging und wider Erwarten von Christiane in die Bibliothek gelassen wurde, war er erledigt. Die beiden würden sofort bemerken, dass Goethes italienische Sammlung verschwunden war, und Christiane war klug genug, um eins und eins zusammenzuzählen. Er atmete tief durch. Nein, soweit durfte er es nicht kommen lassen. Er mochte leichtsinnig sein, aber er wusste auch, was er der Familie schuldete. Daher durfte er keinesfalls zulassen, dass Christiane und der kleine August in ihrem eigenen Haus bedroht wurden.

»Die italienischen Bücher sind nicht am Frauenplan«, gab er zähneknirschend zu.

»Ach tatsächlich? Wo dann?« Wagner entnahm seiner Innentasche Pfeife und Tabaksbeutel.

»Das werde ich Ihnen nicht auf die Nase binden, und ich verlange, dass Sie sich von meiner Schwester fernhalten.«

Wagner zündete sich seelenruhig seine Pfeife an. »Und als Gegenleistung …«

»Wenn Ihre sonderbare Urkunde in einem der Bücher steckt, werde ich sie finden und Ihnen aushändigen.«

»Ohne sie zu lesen?«, spottete Wagner. Er sah nicht so aus, als ob er Christian über den Weg traute. Nicht zu Unrecht, denn inzwischen war dessen Neugier geweckt worden.

Christian musste plötzlich husten; Wagners Pfeifenqualm stieg ihm in Augen und Nase und reizte ihn in der Kehle. Einen Moment lang gab der Mann keinen Ton von sich, doch schließlich streckte er die Hand aus und wartete, bis Christian einschlug. »Einverstanden, Vulpius. Aber ich warne Sie: Wenn Sie jemandem von mir oder dem Schriftstück erzählen, können Sie den Totengräber gleich Ihr eigenes Grab schaufeln lassen. Bewahren Sie also Diskretion und übergeben Sie mir das, was ich haben will. Dann werde ich Wort halten und Ihnen einen Stoff für Ihren Roman liefern, der Sie ebenso unsterblich machen wird, wie Ihr geschätzter Geheimrat Goethe es ist.«

Christian stand wortlos auf, und dieses Mal wurde er nicht zurückgehalten. Als er seinen Hut in die Stirn zog, fragte er sich, ob er soeben einen Pakt mit dem Teufel geschlossen hatte.

3. Kapitel

Als Christian das letzte Buch zuklappte, war die Kerze auf dem Schreibtisch schon fast heruntergebrannt. Gähnend starrte er in das schwache Flämmchen, das vor seiner Nase hin und her tanzte wie eine Elfe beim morgendlichen Reigen. Gähnend streckte er seine lahmen Gliedmaßen und versuchte, den Schmerz, der sich in seinen Rücken bohrte, durch kreisende Bewegungen der Schultern loszuwerden. Er war todmüde, seine Augen brannten, als hätte er sie mit Seife ausgewaschen. Kein Wunder, er hatte sich die Nacht um die Ohren geschlagen, um alle Bücher nach einer Urkunde durchzusehen, und was hatte er gefunden? Nichts. Falls jemals ein Schriftstück in einem der Italienbücher gesteckt hatte, er sah es jedenfalls nicht.

Wo aber lag der Fehler? Aurelius Wagner war sich so sicher gewesen, dass die Urkunde, die ihm so wichtig war, in einem dieser Bücher zu finden war, aber sämtliche Schriften, die Goethe zum Thema Italien besaß, lagen nun vor Christian auf dem Tisch.

Draußen begangen die Vögel zu singen; der Morgen erwachte. Das hieß, dass ihm die Zeit davonlief. Länger als ein paar Stunden durfte er die Bücher nicht mehr behalten, ansonsten erwartete ihn jede Menge Ärger. Sein Bauchgefühl warnte ihn indessen auch vor Wagner. Der Mann hatte so entschlossen gewirkt, er würde keine Ruhe geben.

Christian quälte sich von seinem Stuhl und blickte sich nach einer neuen Kerze um. Auf dem Schrank, in dem Goethe seine Mineraliensammlung aufbewahrte, stand ein Leuchter. Mit ihm wollte er ins Arbeitszimmer zurückkehren, als ein Geräusch ihn zusammenzucken ließ. Es klang wie zerspringendes Glas und kam aus dem oberen Stockwerk. Ein Fenster? Aber draußen war es doch ganz windstill …

Christian eilte zum Schreibtisch zurück und entzündete die Kerzen an der letzten schwach glimmenden Flamme.

Da war das Geräusch schon wieder. Es klang, als würde eine Scheibe eingeschlagen.

»Wer ist da?« Christian erkannte seine eigene Stimme kaum wieder. Als er auf Zehenspitzen zur Treppe schlich und lauschte, hörte er ganz deutlich das Knarren der Dielenbretter. Dort oben ging jemand umher, der zu dieser Stunde nicht im Haus sein sollte.

Christian lauschte. Mit dem Morgengrauen strich ein kühler Windzug über die Bäume und Büsche des Parks und drang auch durch eines der Fenster im Empfangszimmer. Vogelstimmen kündigten den Tag an.

Christians Gedanken überschlugen sich. Sollte er hinaufgehen und den Eindringling stellen? Aber vielleicht wartete der nur darauf, dass er sich vom Fleck bewegte, um ihn in eine Falle zu locken. Das Haus war groß, es gab jede Menge finstere Ecken. Unsicher warf er einen Blick zum Arbeitszimmer und bemerkte, dass es darin heller wurde. Ein Lichtschein bewegte sich, als liefe jemand mit einer Lampe in der Hand vor dem Fenster auf und ab.