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DAS BUCH

 

Es soll Zechen geben, in denen sich stählerne Möchtegerndrachen verbissen ihre eigene Legende zu fauchen versuchen. Auch Märchen wie vom schlauen Papierfresserdrachen, der seine Artgenossen befreit, warten nur darauf, erzählt zu werden. Oder wie wäre es mit schaurig-schönem Grusel rund um plappernde unsichtbare Doppelgänger und sich verselbstständigende Killer-Navigationsgeräte? Mystische Fantasy mit heiratsunwilligen Meerjungfrauen oder göttlichen Wunderheilungen als ultimative Vergebung gefällig? Eins steht fest: Wo Regina Schleheck draufsteht, ist immer einzigartig-phantastischer Lesegenuss drin.

 

Die Gattung der Kurzgeschichte erfährt zumeist wenig Wertschätzung, dabei gilt deren Formenreichtum und Experimentierfreude als Wegbereiter literarischer Strömungen. Das deutsche Phantastik-Genre ist zudem überschaubar und ob der Nähe zur Trivialität geringgeschätzt. Umso mehr stellt diese phantastische Kurzgeschichtensammlung den Ausdruck höchster Würdigung einer außergewöhnlichen Prosaform und einer ebenso außergewöhnlich begabten Autorin dar.

 

 

DIE AUTORIN

 

Regina Schleheck hat sich in der Phantastik wie in der Kriminalliteratur bereits einen beachtlichen Namen gemacht. Unter anderem wurden ihr mit dem »Deutschen Phantastik Preis« für das Sci-Fi-Hörspiel Mark Brandis Bordbuch Delta VII und dem »Friedrich-Glauser-Preis« der deutschsprachigen Krimiautoren die begehrtesten Auszeichnungen beider Genres zugesprochen. Ihre phantastischen Kurzgeschichten belegten u.a. immer wieder beim Kurzgeschichten-Wettbewerb des Corona Magazine die ersten Plätze. Im Jahr 2009 erschien mit Klappe zu – Balg tot ihr erster Kurzgeschichten-Band, auf den zahlreiche Herausgeberschaften, Erzählungen und hunderte Kurzgeschichten folgten.

Regina Schleheck

 

 

BASILIKUMDRACHE UND SCHÖPFUNGSKRÖNCHEN

 

 

Kurzgeschichtensammlung

 

 

 

 

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Originalausgabe

 

© 2016 Verlag in Farbe und Bunt

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte, auch die der Übersetzung, des Nachdrucks und der Veröffentlichung des Buches, oder Teilen daraus, sind vorbehalten.

Kein Teil des Werkes darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlags und des Autors in irgendeiner Form (Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Alle Rechte liegen beim Verlag.

 

Cover-Gestaltung: Stefanie Kurt

E-Book-Satz: Winfried Brand

verantwortlicher Redakteur: Bettina Petrik

Lektorat: Bettina Petrik

Korrektorat: Telma Vahey

 

Herstellung und Verlag:

in Farbe und Bunt Verlags-UG (haftungsbeschränkt)

Kruppstraße 82 - 100

45145 Essen

 

www.ifub-verlag.de

 

ISBN Taschenbuch: 978-3-95936-053-1

ISBN E-Book: 978-3-95936-054-8

ISBN Audiobuch: 978-3-95936-055-5

INHALTSVERSZEICHNIS

 

 

Der Basilikumdrache

Absencen

Dölfchens wunderbarer Waschsalon

Wer et hätt jewoss

Mann oh Manna

Kill me not in Kilmarnock

Vertreibung aus dem Paradies

Ein Schiff wird kommen

Alfons

Kellergeschichte

Hans hat Glück

Straelen für Einge-weihte

Kreuzworträtsel

Saat des Todes

Tonspur

Fairmann

Kant ist Kacke

Gefährlicher Zeuge

Stuhlprobe

Kleine weiße Frau

Web-Space

Rübenqual

Schönheitspflege

Klappe zu – Balg tot

Riesling

Besuch am Heiligen Abend

Totkäppchen und der Rolf

Monster

Beckmesserei

Nicht Fisch, nicht Frau

Der Mann ihrer Träume

Kopf in den Sternen

Schöpfungsgeschichte

Warte, warte nur ein Werthelchen

Schöpfungskrönchen

 

Danksagung

Erstveröffentlichungen der Einzelgeschichten

DER BASILIKUMDRACHE

 

 

Zwischen dem Stadtpark Hochlarmark und der Halde Hoheward gibt es eine Brücke in Form eines riesigen Drachens. Fast zweihundert Tonnen Stahl schlängeln sich da durch das ehemalige Abbaugebiet. Das Bemerkenswerteste ist aber, dass der Drache zurückblickt. Wer über die Brücke geht, kann sich des beklemmenden Gefühls nicht erwehren, der Drache schaue sich gerade nach dem Leckerbissen um, der ihm da quasi als gefundenes Fressen vor den Rachen läuft.

Keine Sorge, der reißt sein Maul nicht mehr auf! Und zwar gerade weil er sich umguckt! Täte er das nicht, stünde er nicht da.

Und noch eine Besonderheit hat diese Brücke, die aber den wenigsten Besuchern bisher aufgefallen ist: Rund um die Brückenfüße wächst büschelweise Basilikum. Das pflanze ich dort jedes Jahr ganz frisch, weil der Schneckenfraß ihm doch immer wieder sehr zusetzt. Es ist mir ein persönliches Bedürfnis. Ein Stinkefinger gewissermaßen, den ich dem Drachen zeige. Dem Basilikumdrachen, der in Wirklichkeit gar kein Drache ist. Und auch wenn er sich nichts anmerken lässt – anmerken lassen kann –, ich weiß, dass es an ihm frisst. Das ist mir die Mühe in jedem Falle wert. Schließlich war er auch keinesfalls zimperlich.

 

Anfang 2008 war es, als man mich in die Zeche Mont Cenis in die achte Sohle im Ostfeld schickte. Ich sollte einige für die Stabilität der Stützkonstruktion unverzichtbare Stahlträger in Hinsicht auf Korrosions- und sonstige Schäden kontrollieren und wo möglich Ausbesserungsarbeiten vornehmen. Sämtliche Aktivitäten in den östlichen Abteilungen waren nach dem Grubenbrand im Dezember 1965, also schon lange vor der endgültigen Stilllegung der gesamten Zeche im Jahr 1978, eingestellt worden. Zwar hatte man gerade 1963 erst die Mont Cenis mit der Zeche Friedrich der Große zu einer Verbundanlage zusammengefügt und die unterirdischen Verbindungswege erweitert. Aber von da an ging es mit der Steinkohle steil bergab. Der Abbau wurde abgebaut und die Bergmannschaft nach und nach angepasst, wie man den vorgezogenen Ruhestand beschönigend umschrieb. Ein Großteil der Schächte wurde verfüllt. Aber da die Verfüllungssäulen durch Grubenwasser immer wieder aufgeweicht wurden, mussten die abgeworfenen Schächte regelmäßig über Kontrollschächte inspiziert werden. Eine hundertprozentige Verwahrung gibt es nicht. Von dem labyrinthischen Gängesystem waren viele Fragmente erhalten geblieben, zum Teil aus Schlamperei, zum Teil zur Wetterführung bzw. weil man eben Kontrollen ermöglichen wollte. Ich gehörte 1978 noch nicht zum alten Eisen, daher hatte man mich umgeschult. Zum Schlosser und Fachschweißer. Und da ich mich unter Tage bestens auskannte, wurde ich von der Firma, die die Sicherheit der Verwahrung zu garantieren hatte, übernommen. Auch hier sparte man zuallererst am Personal, daher waren wir – natürlich mit Hochleistungs-Funkgeräten ausgerüstet – meist allein unter Tage unterwegs. Wenn der Job nicht ansonsten ganz anständig bezahlt worden wäre, hätte ich ihn sicherlich längst hingeschmissen. Er ist nichts für zartbesaitete Menschen. Die physischen Belastungen unter Tage sind schon schlimm genug. Dazu kommt das psychologische Moment. Die Einsamkeit, fern der Erdoberfläche, nur über das gelegentliche Knacken und Rauschen des Funkgeräts noch mit anderen Menschen verbunden. Und dann der Anblick der halb mit Schutt oder Beton verfüllten Schächte, der verrottenden Hinterlassenschaften und Arbeitsspuren von Bergleuten, die hundert Jahre hier geschuftet hatten! Angesichts des Verfalls überkommt einen unwillkürlich eine Ahnung davon, welcher Bedrohung die Kumpel sich – gerade in den Anfängen – ausgesetzt gefühlt haben mussten.

Die Erinnerung an die Katastrophe: Mont Cenis war im Jahre 1921 Schauplatz eines dramatischen Zwischenfalls gewesen. Ein Schießhauer, hieß es damals, hätte verbotenerweise mit Dynamit in der Kohle gesprengt und so eine Schlagwetterexplosion ausgelöst, die fünfundachtzig Bergleute das Leben kostete. Einen Zusammenhang zu dem Grubenbrand vierundvierzig Jahre später sah niemand, und auch ich wäre nicht dahinter gekommen, wenn ich nicht die Akten gründlich studiert hätte. Daraus ging hervor, dass die Leichen der Kumpel, soweit sie noch hatten geborgen werden können, in einem fürchterlichen Zustand gewesen sein mussten. Abgerissene Gliedmaßen, zerfetzte Körperteile, zum Teil bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Der Gerichtsmediziner Dr. Paul Graeten, der zuvor in Deutsch-Südwestafrika gedient und nicht nur die Gräuel der Herero-Aufstände kennengelernt, sondern auch die unter menschenunwürdigsten Bedingungen schuftenden Arbeiter in den Diamanten- und Kupferminen untersucht hatte und leidenschaftlicher Safari-Jäger gewesen sein musste, notierte nach der Leichenschau: »Die Hingeschiedenen wiesen grässliche Verletzungen auf, die, wenn ich es nicht besser wüsste, von den Zähnen eines großen Raubtiers stammen könnten, zumal etliche Leiber nicht nur völlig verstümmelt sind, sondern die fehlenden Körperteile nicht aufgefunden wurden.«

 

Als ich an jenem Aprilmorgen 2008 die Kontrollgänge abschritt, hatte ich diesen Befund zum Glück noch nicht im Kopf. Ein Gefühl der Beklommenheit war allerdings mein ständiger Begleiter da unten, und das Gefühl verstärkte sich, als ich auf die Abdeckplatte stieß. Sie hatte einen Abstiegsschacht bedeckt und war verschoben worden. Ich wunderte mich ein bisschen, weil ich mich nicht erinnerte, dass es im letzten halben Jahr einen Erdstoß gegeben hatte, der solche Kräfte hätte wirksam werden lassen. Die Platte war nicht nur ziemlich groß und schwer, sondern mit Schrauben gesichert gewesen. Die Schrauben waren bis auf eine gebrochen und die Platte so weit verschoben, dass der Schacht darunter fast vollständig freigelegt worden war. Das nächste, was mir in den Sinn kam, war eine Gasexplosion, deren Wucht die Platte bewegt haben mochte. Ich konnte das Loch darunter schlecht einsehen, weil meine Lampe nicht allzu weit reichte, aber Schäden waren nicht auszumachen. Es handelte sich um einen offenen Schacht, den man nicht verfüllt, aber dennoch verschlossen hatte, weil er zu Kontrollzwecken nichts hergab. Es kostete mich ziemlich viel Kraft, die Abdeckung wieder zurückzuschieben. Ich kniete am Boden und keuchte, und der leere Schacht unter mir verstärkte den Hall meiner Stimme. Als die Platte wieder exakt auf ihrer ursprünglichen Position angekommen war, machte ich mich auf den Weg zurück zum Förderkorb, um unter dem Werkzeug das transportable Schweißgerät hervorzukramen, packte es samt der Gasflaschen und einigen Bolzen, die ungefähr der Größe der Schrauben entsprachen, auf einen Rollwagen und kehrte zum Schacht zurück. Ich steckte die Bolzen in die ausgebrochenen Schraubenlöcher, schloss das Gerät an, setzte die Brille auf, öffnete die Flaschenventile, griff mir den Brenner, zündete die Flamme, klappte die Schutzgläser herunter und stellte das Gasgemisch ein. Dann begann ich die Bolzen einen nach dem anderen in den Schraubenlöchern festzuschweißen. So! Die Platte würde so ohne Weiteres nicht mehr verrutschen! Da müsste schon ein mächtiges Erdbeben kommen.

Noch während ich das dachte, spürte ich die Sohle unter mir auf einmal so heftig vibrieren, dass ich das Gleichgewicht verlor und unsanft auf dem Gesäß landete. Im nächsten Moment sprang mich etwas Großes von links aus der Dunkelheit an, drückte mich auf den Boden und lastete schwer auf meiner Brust. Den linken Arm konnte ich nicht mehr bewegen, der rechte wurde hinter meinem Kopf heruntergedrückt, spitze Klauen bohrten sich in meine Schultern. Trotz des jähen Schmerzes ließ meine Hand den Brenner instinktiv nicht los. Das, was da auf mir lag, fühlte sich an wie ein riesiger Schuppenleib. Unter meiner Schweißerbrille war ich fast blind, registrierte aber etwas wie einen monströsen Kopf, der sich über mich beugte. Ein pestilenzartiger Geruch nahm mir schier die Luft, und meine Atemnot wurde nicht dadurch gemindert, dass dieses Monster auf meine Brust drückte.

»Aarghh«, stöhnte ich.

Das Funkgerät in meiner Tasche knarzte und schwieg wieder still. Ich hätte es ohnehin nicht erreichen können, um Hilfe zu rufen.

Das Monster hielt inne, als stutzte es.

Dann stieß es lang anhaltend Luft aus, fast wie ein überraschtes Pfeifen. Aus dem Geräusch schälten sich einzelne Worte, die nicht klangen, wie von einem Menschen gesprochen, eher zischend und gleichzeitig, als spräche jemand mit schwerer Zunge.

»Wiesho lehpst du?«, stöhnte es.

Es fiel mir schwer, darauf eine passende Antwort zu finden. Die Tatsache, dass sich etwas auf mich schmiss, war ja noch kein Grund, den Löffel abzugeben. »Wieso nicht?«, keuchte ich endlich.

»Weihl ichch dichch anshehe!«, heulte das Monstrum.

»Es tut mir sehr leid«, stammelte ich. Dieses Biest, das da auf mir hockte, konnte kein Mensch sein, so viel war auch ohne Augenschein evident. Aber immerhin konnte es sich artikulieren. Und es war nicht nur stärker als ich, sondern hatte mich im Moment in seiner Gewalt. Gleich mehrere gute Gründe, verbindlich zu sein. »Ich kann Sie gar nicht richtig erkennen! Wer sind Sie?«, versuchte ich, das plumpe Du, das mein Gegenüber angeboten hatte, zu vermeiden.

»Ichch phin dhein Thot!«, kam es zurück.

Ich kombinierte fieberhaft. Es schien ganz so, als sei dieses Monster durch den Schacht gekommen und habe die Befestigung der Platte gesprengt. Es musste übernatürliche Kräfte besitzen. Es kam tief unten aus der Erde. Es war riesig, hatte einen schuppigen Leib und Klauen, und es war ein Wesen, das sich nicht so ohne Weiteres in Brehms Tierleben einordnen ließ, zumal es sprechen konnte. Der letzte Punkt schloss gleichzeitig aus, dass es sich um einen prähistorischen Vertreter irgendeiner Dinosauriergattung handelte. Es konnte nur … »Sie sind ein Drache!«, platzte es aus mir heraus.

Das Monstrum warf den Kopf zurück und stieß ein ohrenbetäubendes heulendes Geräusch aus. Ganz offensichtlich fühlte es sich von mir nicht richtig erkannt. Oder eben doch? Verzweifelt durchwühlte ich mein Gedächtnis nach rudimentären Märchenkenntnissen. Rumpelstilzchen hatte auch geheult, als die Müllerstochter seinen Namen genannt hatte. Ja, ganz offensichtlich fühlte der Drache sich erkannt, und das behagte ihm nicht!

»Nheinnheinnhein!«, zischelte der Drache.

»Was sind Sie denn dann?«, fragte ich listig, weil ich nicht wusste, was er anstellen würde, wenn uns der Gesprächsstoff ausginge.

»Ein Phashlhiskh!«, schnauzte der Drache.

Im ersten Moment hätte ich trotz meiner misslichen Lage fast laut aufgelacht. Ein Basilisk! Da kannte ich mich zufällig aus! Schließlich hatte ich Harry Potter gelesen! »Ein Basilisk, das ist doch das Fabeltier, das mit seinem Blick töten kann!«, vergewisserte ich mich dennoch höflich.

»Ehhphhen!«, heulte er.

»Nun«, sagte ich mit freundlicher Geduld, obwohl sie mir in dem Maße schwand, wie mir klar wurde, dass mein Gegenüber wie weiland Nepomuk, der Halbdrache aus Jim Knopf und die Wilde 13, offensichtlich auf gefährlicher machen wollte, als er wirklich war, »wenn Sie ein Basilisk wären, dann wäre ich jetzt tot. Wie Sie eingangs schon ganz richtig bemerkten, lebe ich aber. Ergo handelt es sich bei Ihnen um einen simplen Drachen, der gerne ein Basilisk wäre.«

»Ichch phin ein Phashilhiskh!«, zischte es zurück.

Ich hatte keinen Bock mehr. Ich lag auf dem harten Steinboden, ein Zentnergewicht auf mir, das bestialisch stank, dank der Schweißbrille sah ich so gut wie nichts – die Schweißbrille! Wieder kombinierte ich messerscharf. Sie war beschichtet! Möglicherweise schützte sie meine Augen ja vor dem tödlichen Blick dieses Monsters, falls es tatsächlich ein Basilisk sein sollte! So gern ich sie abgesetzt hätte, im Moment war ich heilfroh, dass ich es bis dato nicht geschafft hatte, weil meine Arme fixiert waren! Sollte ich meine Hände wieder frei kriegen, würde ich es nicht riskieren, sie abzuziehen! Und noch etwas wurde mir klar: Dieser Drache hatte einen schwachen Punkt, den ich für eine psychologische Kriegsführung nutzen konnte: Er wollte partout, dass ich ihn für einen Basilisken hielt. Wenn ich ihn ärgern wollte, müsste ich nur das Gegenteil behaupten.

»Wissen Sie was? Sie sind allenfalls ein Basilikumdrache, der noch ein bisschen grün hinter den Ohren ist«, höhnte ich in der Hoffnung, dass er ein Einsehen hätte und sich trollte.

Aber da hatte ich mich schwer verkalkuliert. Er drehte erst richtig auf. »Ichch khannh dichch auchch bei lhephenthikhem Lheiphe fresshen!«, schrie er und bäumte sich auf, als nähme er Schwung, um sich quasi mit Anlauf über mich herzumachen.

Im gleichen Moment kam meine rechte Hand frei, und ich riss sie schützend vor mein Gesicht, ohne daran zu denken, dass ich immer noch den Flammenwerfer in der Hand hielt. Mein Drache kriegte die volle Ladung in den weit aufgerissenen Rachen und verbrannte sich derart die Schnauze, dass er seinen eigenen Schrei verschluckte. Er schnellte zurück und gab mich frei. Blitzschnell kam ich auf die Beine, die Schweißflamme wie eine Pistole vor mich und in die Richtung haltend, wo ich ihn vermutete. An seinem Heulen erkannte ich, dass ich ganz richtig lag. Vielmehr stand ich jetzt, und zwar auf der sicheren Seite, nämlich hinter dem Flammenwerfer. Er wich vor mir zurück.

Mit der Linken packte ich das Wägelchen mit den beiden Gasflaschen und betete im Stillen, dass sie gut gefüllt seien, um mir noch eine Weile gute Dienste zu leisten. Ich trieb das Monster vor mir her bis zu dem Raum, wo der Förderkorb stand. Als ich ihn daran vorbei gescheucht hatte, suchte ich in dem Metallkäfig Zuflucht, zog den Gasflaschenwagen hinter mir in den schützenden Korb, schlug die Tür zu, legte den Riegel vor und den Hebel um, so dass das Gefährt sich ächzend aufwärts zu bewegen begann. Gerettet!

Da! Ein Schatten flog vorbei, ein Ruck, und der Korb schwankte bedenklich. Die Bestie war mit einem Satz auf das Gitter geschnellt. Aber schon erreichte der Korb mitsamt seiner doppelten Last die Deckenhöhe und tauchte in den Schacht ein, der so eng war, dass es für den Drachen kein Entrinnen gab. Er konnte nicht mehr abspringen, sondern hockte auf dem Drahtkäfig, der sich unaufhaltsam dem Tageslicht entgegenbewegte. Nein, er hockte nicht, er führte gewissermaßen einen Tanz auf der heißen Herdplatte auf, weil ich mir ein Vergnügen daraus machte, seinen Allerwertesten von unten mit meinem Schweißbrenner zu bearbeiten! Währenddessen klapperte ich mein Hirnstübchen nach einem Plan ab, wie ich, oben angekommen, auch wieder den Korb würde verlassen können. Ich müsste es irgendwie schaffen, ihn zurück in den Schacht zu treiben, so dass er hoffentlich dort unten zerschellte.

Aber was, wenn er ausbrach und davonliefe? Herne war nicht weit. Und er war jetzt ziemlich scheiße drauf. Wenn er tatsächlich ein Basilisk war, würde er die ganze Stadt mit seinem Blick flachlegen. Mindestens aber war davon auszugehen, dass er den einen oder anderen Mitbürger verspeisen würde.

Was gab es bloß, womit man einen Basilisken zur Strecke bringen konnte? Der Sage nach hausten die Biester in Brunnenschächten und Kellern. Wer sie erblickte, war verloren, es sei denn – oh ja! Das war es!

Wir hatten die Halle erreicht, von der aus mit dem Förderkorb eingefahren wurde. Ein Raum mit hohen Glasfenstern, rechts ging es zu den Waschräumen und einem Bereich, in dem noch die alten Bergmannsspinde standen. Ich hörte, wie der Drache vom Dach des Förderkorbs sprang und durch die Halle tobte. Dann klirrte und schepperte es laut. Er musste durch das Fenster ins Freie gelangt sein.

Da endlich riss ich mir die Schweißerbrille von den Augen und rannte zur Umkleide, zog den Spiegel von der Wand und lief weiter zur Tür. Als ich sie aufriss, sah ich einen riesigen, langen, grünen, schuppigen Körper in Richtung der Halde Hoheward streben. Ich hielt mir den Spiegel vor den Kopf und schrie aus Leibeskräften: »Guck her, du feiger Basilikum-Drache!«

Kurz darauf ertönte ein schrilles Kreischen. Er musste sich umgeguckt haben – und dann war Stille. Eine so vollkommene Stille, dass ich es schließlich wagte, den Spiegel wieder wegzuziehen.

Es hatte funktioniert! Der Sage nach hätte ein Basilisk beim Blick in sein eigenes Spiegelbild zu Stein erstarren müssen. Aber dieser hier war mit der Zeit gegangen und zu Stahl erstarrt!

 

Die Herner lieben ihn. Er ist ihre Drachenbrücke. Ich lasse sie gerne in dem Glauben. Sein Tod hat ja bewiesen, dass er tatsächlich ein Basilisk war. Ich bin der festen Überzeugung, dass er zwar zu Stahl erstarrt ist, aber trotzdem noch mitkriegt, was mit ihm passiert. Daher gönne ich ihm von Herzen, dass ihn jeder einen Drachen nennt. Von mir kriegt er außerdem jedes Jahr eine Extra-Ladung Basilikum zu Füßen gepflanzt.

Man sollte die Biester allerdings nicht unterschätzen. Daher empfehle ich dringend: Sollten Sie mal wieder zu tief ins Glas und anschließend in die Toilettenschüssel geguckt haben – hängen Sie sich eine Schweißerbrille neben das Klo. Nur für den Fall der Fälle.

ABSENCEN

 

 

Als Benjamin nach seinem Fahrradunfall aus dem Koma erwachte, sah er zwei Ärzte an seinem Bett, die sich aufs Haar glichen. Der eine beugte sich über ihn und leuchtete ihm mit einer kleinen Taschenlampe in die Augen. Der andere hatte sich zunächst auch über ihn gebeugt, dann blickte er auf seine Armbanduhr, gähnte, setzte sich auf die Kante von Benjamins Krankenhausbett und begann sich ausgiebig den Rücken zu kratzen.

»Na, wie geht es uns denn?«, fragte der erste Arzt aufmunternd und zog ein kleines Gummihämmerchen aus seinem Kittel.

Benjamins Zunge war noch zu schwer, als dass er hätte antworten können.

»Na, komm, zeig schon her«, sagte der Arzt freundlich. »Ganz locker!«

Dabei bewegte er prüfend Benjamins Arme und Beine hin und her, bis er unvermittelt mit dem Hämmerchen anklopfte und Benjamins Gliedmaßen wie die Zeiger eines Batterieprüfgerätes ausschlugen.

»Helga wartet«, warf sein Kollege ungehalten ein. »Du musst sie wenigstens anrufen.«

Der Angesprochene ignorierte den Einwurf. »Wie fühlst du dich?«, fragte er Benjamin. »Alles in Ordnung? Weißt du, wie du hierhergekommen bist?«

Benjamin gab einen kleinen Krächzer von sich und schüttelte den Kopf. Sofort begann der Raum zu kreisen. Der zweite Arzt sprang auf, und beide beugten sich besorgt über den Jungen. Benjamin konnte sehen, dass wirklich einer genau wie der andere aussah. Nur dass der eine einen erschöpften Eindruck machte, während der erste immer noch freundlich lächelte.

»Na, das werden dir deine Eltern wohl erzählen wollen«, fuhr der erste fort. »Die werden sich freuen, wenn sie hören, dass du wieder wach bist.«

Benjamin nickte. Er konnte mit dem Begriff »Eltern« noch nichts anfangen. Es erinnerte ihn an etwas, aber er wusste nicht genau, an was.

»Komm«, drängte der andere Arzt jetzt und zog seinen Kollegen am Ellbogen.

»Ich sage deinen Eltern eben Bescheid«, sagte der erste zu Benjamin und ließ sich aus dem Zimmer ziehen.

Benjamin starrte auf die Decke über sich und übte seine Stimme. »Hallo«, sagte er.

Als seine Mutter eintrat, wusste er sofort wieder, was »Eltern« hieß. Und alles andere auch, bis hin zu Tante Hetis geblümtem Morgenrock und Opas Rülpsen, wenn er sich nach dem Essen befriedigt in seinen Ohrensessel plumpsen ließ.

Benjamins Mutter weinte, als sie hereinkam. Sie kniete neben seinem Bett nieder, ergriff seine Hand und bedeckte sie mit Küssen. Sein Vater stand hinter ihr und sah seinen Jüngsten unverwandt an, während die Mutter ihr Schluchzen zum Stakkato steigerte.

Benjamin war das peinlich. Er sah lieber auf seinen Vater, der seinen Blick mit den Augen festhielt. Ein zweiter Vater trat neben den ersten. Er klopfte der Mutter auf die Schulter. »Reiß dich doch bitte mal zusammen, Elke«, sagte er leise. »Sei doch nicht gleich so hysterisch!«

»Was ist hysterisch?«, fragte Benjamin.

Aber die Frage ging im Aufschrei seiner Mutter unter. »Du bist wieder bei dir!«, rief sie.

Sie beugte sich über ihn, umarmte und küsste ihn. Der Vater sagte nichts und guckte nur ernst auf seinen Sohn. Aber sein Doppelgänger hatte die Hand nicht von Mutters Schulter genommen. Er zog an der Schulter, um sie von Benjamin wegzuzerren, aber er kriegte sie kein bisschen bewegt.

Der Arzt trat wieder ein, und der zweite Vater verschwand.

»Wie sieht es aus?«, fragte er. »Hat er Sie erkannt?«

Der Vater ließ den Blick nicht von Benjamin. »Ich weiß nicht, ob er ganz da ist«, sagte er leise zu dem Arzt, als ob die Mutter ihn nicht hören sollte.

Die Mutter machte jetzt Platz, und der Vater konnte Benjamin vorsichtig drücken.

»Hallo«, sagte Benjamin.

Der Arzt lächelte beruhigend. »Behalten Sie ihn gut im Auge«, sagte er. »Und berichten Sie mir, wenn Ihnen irgendetwas auffällt.«

 

Am nächsten Tag kam Tante Heti. Als sie das Krankenzimmer betrat, drängelten sich zwei andere Tante Hetis mit ihr hinein, und während sie aufgeregt schnatternd an seinem Bett standen, tauchten zwei weitere Tanten auf. Sie untersuchten das Zimmer, flirteten mit dem Arzt, unterhielten sich mit ihm über Benjamins Gesundheitszustand, machten Benjamins Bett und streichelten ihm die Haare aus der Stirn.

 

»Absencen« nannte der Arzt Benjamins Zustand. Er kam jetzt meistens allein. Aber er brachte andere Kollegen mit, die Benjamin begutachten sollten.

»Das ist leider ein häufiges Risiko bei einem solchen Hirntrauma«, erklärte er den besorgten Eltern. »Da sind Vernarbungen, und an genau den Stellen sind die synaptischen Verbindungen gestört. Es kommt zu Kurzschlüssen im Gehirn. Eine Form von epileptischen Anfällen. Ihr Sohn erleidet einen Krampfanfall, der sich allerdings ausschließlich im Gehirn abspielt. Er tritt einfach für Sekundenbruchteile weg.«

Benjamin verstand, dass damit die Momente gemeint waren, wenn er diese anderen Menschen sah, die die anderen nicht sehen konnten. Er wusste, dass er nicht weg war. Im Gegenteil, er war mehr da als alle anderen. Aber es war verrückt. Deshalb sagte er lieber nichts.

 

Man machte EEGs, gab ihm Medikamente und zapfte ihm Blut ab. Die Medikamente machten ihn träge, und das Blutabnehmen war ihm ein Horror. Es änderte nichts. Er gewöhnte sich an die Doppelgänger, versuchte sich nichts anmerken zu lassen, und der Arzt sprach von einer Besserung.

 

Es gab Momente, wenn Benjamin in der U-Bahn fuhr, in denen er laut loslachte. Da standen all die stoisch dreinblickenden Menschen, und zwischen ihnen wuselten ihre Alter Egos, schnatterten aufgeregt, taten Ungehöriges oder sagten sich Unerhörtes. Er sah Männer, die sich im Schritt kratzten oder jungen Mädchen Avancen machten, und Frauen, die vor den spiegelnden Fensterscheiben ihre Frisuren ordneten und den Lippenstift nachzogen. Andere schmähten sich gegenseitig oder redeten laut vor sich hin, indem sie wilde Grimassen zogen. Aber wenn Benjamin losprustete, war er es, der nicht mehr alle Tassen im Schrank hatte.

 

Schlimm war es zu Hause. Nur Opa saß in seinem Sessel und blieb da auch sitzen. Die Geschwister waren mal allein, mal zu zweit, je nach ihrer Stimmungslage. Vater hatte meistens schon einen neben sich gehen, wenn er hereinkam. Aber er verhielt sich ruhig. Das Alter Ego seiner Mutter jammerte den ganzen Tag.

Aber Tante Heti war nicht zu ertragen. Sie machte allen Ernstes seinem Vater Liebesanträge, während Mutter daneben stand. Steffi, Benjamins Schwester, fragte sie nach ihren Freundinnen aus, und an Dominik, dem Ältesten, hatte sie ständig etwas auszusetzen, ob es sich auf seine Rapper-Hose bezog, die er tief im Schritt hängen hatte, auf seine Piercings in Augenbrauen und Ohren oder seine abendlichen Musikhörgewohnheiten. Benjamin hätte zu gerne gewusst, was sie zu ihm zu sagen gehabt hatte, bevor er diesen Unfall hatte.

Jetzt war er ihr unheimlich. Wenn Benjamin anfing, die vielen Tante Hetis zu fixieren, zogen sie sich schnell hinter die eine Tante zurück und verstummten. Nur eine von ihnen guckte dann noch vorsichtig über die Schulter der Tante, beäugte Benjamin kritisch und wisperte: »Der gehört in ein Heim! Der ist ja nicht mehr normal im Kopf!«

 

Es war kurz vor Weihnachten und die Zeit der Heimlichkeiten. Benjamin mühte sich ab, sich die Ohren zuzuhalten, weil er nichts mehr liebte als die Überraschung am Heiligabend, wenn alle ihre Geschenke auspackten. Aber es blieb nichts mehr vor ihm verborgen.

Eine Woche vor Heiligabend besorgte Vater den Weihnachtsbaum. Er wurde ins Wohnzimmer getragen und bekam den Platz am Fenster, wo sonst Opas Ohrensessel stand. Der Sessel wurde auf Opas Zimmer gewuchtet, und Opa kam nur noch zu den Mahlzeiten ins Wohnzimmer. Benjamin wünschte sich, man hätte Tante Heti gegen den Baum tauschen können.

Da Vater bis zum letzten Tag arbeiten musste, Dominik sich mit seinen Freunden im Proberaum des Jugendtreffs verbarrikadierte, wo sie mit ihrer Band Hasslieder gegen die Frömmelei übten, Steffi über Weihnachtsmärkte tingelte und Mutter tagelang in der Küche wuselte, blieb es Benjamin vorbehalten, mit Tante Heti den Weihnachtsbaum zu schmücken.

Das war kein leichtes Unterfangen, weil man dazu auf eine Leiter steigen und sich Gegenstände anreichen lassen musste, die dann nach Tante Hetis Diktat höher oder tiefer in den Baum gehängt werden sollten.

Benjamin stand ganz oben auf der Leiter, so dass er eben an die Spitze des Baumes kam, wo der große goldene Stern schon befestigt war. Er hatte einen kleinen Rauschgoldengel in der Hand, einen mit einer Trompete, und hielt ihn nach Tante Hetis Anweisungen rechts unterhalb des Sterns an einen Zweig.

»Nein«, sagte die andere Tante Heti, die auf der anderen Seite der Leiter stand, »das ist zu dicht, er muss mehr nach rechts.«

Die dritte Tante Heti, die gerade noch damit beschäftigt gewesen war, die Lamettafäden im unteren Bereich des Baumes auseinander zu zupfen, richtete sich jetzt interessiert auf und rieb sich mit der Rechten das schmerzende Kreuz.

»Nein, das sieht nicht aus«, beschied sie die beiden anderen, »häng ihn etwas tiefer zu dem Posaunenengel.«

Eine vierte Tante Heti, die gerade am Fenster nach Vater Ausschau gehalten hatte, mischte sich in die Engeldiskussion ein und fand den Engel genau unterhalb des Sterns viel passender. Und eine fünfte ärgerte sich gerade lautstark darüber, dass Mutter die Plätzchen in der Küche wieder anbrennen ließ.

»So?«, fragte Benjamin und hielt den Trompetenengel irgendwo in die Mitte.

Tante Heti platzte der Kragen.

»Komm runter, es reicht!«, schnaubte sie. »Du bist ja zu gar nichts mehr zu gebrauchen! Geh besser mal in dein Zimmer und räum da auf!«

Benjamin kletterte gehorsam die Leiter herunter, aber Tante Heti hielt ihn unten fest.

»Das könnte dir so passen!«, sagte sie wütend, »du kannst gefälligst helfen!«

Die anderen Tanten standen um Benjamin herum und gaben ihm Anweisungen, was er tun und lassen sollte. Benjamin sah sie ratlos an und wartete ab. Tante Heti packte ihn grob bei der Hand, ließ ihn die Leiter festhalten und wuchtete sich nun selbst die Sprossen hoch, während alle anderen Hetis aufgeregt schnatternd um die Leiter herumstanden, Benjamin beschimpften, Tante Heti zurückzuhalten versuchten und nach seinem Vater um Hilfe riefen.

Als Tante Heti oben angekommen war, fiel ihr erst auf, wie schlampig Benjamin den Stern an der Baumspitze befestigt hatte.

»Das ist ja lebensgefährlich!«, rief sie empört. »Wolltest du uns erschlagen mit dem Messingteil? Ein Windhauch, und der Stern wäre heruntergekracht! Na, das hätte ja eine schöne Bescherung gegeben!«

Sie bemühte sich umständlich, den mit einem Draht festgebundenen Stern wieder zu lösen. Dabei neigte sie sich vor und zurück, um den Baum umfassen zu können. Die Leiter fing bedenklich an zu schwanken.

»Nicht doch!«, riefen die anderen Tanten, »siehst du nicht, was du deiner Tante antust?« – »Wenn doch bloß Heinrich da wäre«, seufzte die eine, »muss der immer bis zum letzten Tag arbeiten, statt hier zu Hause zu helfen?«

»Das ist ja schließlich Männerarbeit«, pflichtete die nächste ihr bei.

»Und Elke verkriecht sich in der Küche! Typisch!«

»Besser ein paar verkokelte Kekse als ein misslungener Baum!«, kicherte wieder eine andere.

Benjamin hatte das Gefühl, dass ihm von all den Tanten schwindelig wurde. Er hielt sich an der Leiter fest. Aber die Leiter bekam jetzt Schlagseite. Es gab einen vielstimmigen Aufschrei, und dann stürzte die eine Tante Heti, die ganz oben auf der Leiter gestanden hatte, kopfüber zu Boden, während die schwere Holzleiter sich krachend auf Benjamins Kopf senkte.

 

Als Benjamin wieder zu sich kam, war es merkwürdig ruhig um ihn herum. Seine Mutter hielt seinen Kopf auf ihrem Schoß und blickte ihn an. Sie hatte Tränen in den Augen und vermochte kein Wort herauszubringen. Tante Heti hatte sich neben ihnen aufgerichtet und hielt sich den Kopf. Außer ihnen dreien war niemand im Zimmer.

 

Benjamin blickte zur Decke und probierte seine Stimme aus. »Hallo«, sagte er. Der Stern hing etwas schief in der Baumspitze, aber sonst schien alles in Ordnung zu sein.

»Ach Benjamin«, flüsterte Mutter nur und küsste ihn. »Bist du in Ordnung?«

»Klar«, sagte Benjamin und wand sich aus ihrem Griff frei. »Ich bin okay.«

Er drehte sich zu Tante Heti um, die immer noch ganz allein da saß. Ihre Augen waren weit aufgerissen. Sie hielt sich die Hände an den Kopf und schien irgendwo ganz weit weg zu sein.

»Oh Gott«, flüsterte die Tante entsetzt, »ich glaub, ich sehe alles doppelt!«

Doch dann zuckte sie zusammen und richtete ihren Blick empört auf einen Punkt dicht neben Benjamin. »Benjamin!«, krächzte sie. »Was soll das heißen: ›Das geschieht dir ganz recht!‹ – Wie kannst du so etwas sagen!«

DÖLFCHENS WUNDERBARER WASCHSALON

 

 

Edmund hatte ausgelitten, und Mutter wollte nicht aufhören zu weinen. Da schlug der Vater ihr mitten ins Gesicht. Sie hatte die Augen geschlossen und nicht damit gerechnet. Ihr Kopf flog so heftig nach hinten, dass sie das Gleichgewicht verlor und mit einem Schrei vom Stuhl kippte. Er trat zu, bis sie nur noch leise wimmerte.

Es tat weh, sie so zu sehen. Nicht wegen des Kummers und der Schmerzen. Es tat weh zu sehen, wie sie sich fallen ließ. Wie ein Tier. Als Vater in der Woche davor den Hund verprügelte, hatte der sich ihm genauso zu Füßen geworfen, die Läufe vorgestreckt, und dann hatte er tatsächlich uriniert, was Vater zur Nilpferdledernen greifen ließ. Er hörte nicht auf, bis die Lache, in der der Hund lag, sich dunkelrosa färbte.

Mir konnte er nichts mehr tun. Ich hatte zu viel Karl May gelesen. Vorher war ich jeden Abend verprügelt worden. Weil ich immer zu spät nach Hause kam.

»Warum tust du das, Dölfchen?«, fragte Angela.

Ich zuckte die Schultern: »Ich kriege sowieso eine Tracht, egal, was ich mache. Wenn ich pünktlich komme, habe ich eine Stunde weniger. Wenn ich wegbleibe, kann ich eine Stunde länger spielen. Die Prügel dauern nur fünf Minuten.«

Karl May hat mich gelehrt, dass man seinen Schmerz nicht zeigen soll. Das hab ich gemacht. Ich hab laut mitgezählt. Zweiunddreißig Peitschenhiebe. Meine Mutter stand vor der Tür mit dem Ohr am Holz. Sie kann es bestätigen. Ich hab bis zweiunddreißig gezählt und kein bisschen geschrien.

Als er im Wirtshaus war, kam sie ins Zimmer und hat mich gesalbt und getröstet. Sie versteht nicht, dass Härte das einzige ist, was hilft. Die Menschen sind heute alle verweichlicht. Drei Kinder hatten meine Eltern schon verloren. Bei Edmund waren es die Masern. Auch die Indianer sind an Masern gestorben. Im Überleben zeigt sich, wer aus dem richtigen Holz ist. Es war das letzte Mal, dass Vater mich mit der Peitsche verprügelt hat.

Angela ist meine Halbschwester. Sie und Alois sind schon fast erwachsen. Als Vater zum ersten Mal mit der Peitsche ausholte, war ich drei. Ich hätte es mir sicherlich nicht merken können, wenn sich mir Angelas Bild nicht so eingebrannt hätte. Sie ist sechs Jahre älter, trug lange blonde Zöpfe. Von hinten an der Hose hat sie meinen Vater gepackt und von mir wegzuzerren versucht. Alois, der Ältere, hat sich nur weggeduckt. Aber sie hat gekämpft. An den Zöpfen hat er sie gerissen und in die Ecke geschleudert. Von mir hat er immerhin abgelassen. Vorerst.

Als ich so alt war wie Angela damals, konnte ich für mich schon Sorge tragen. Aber jetzt war Edmund gestorben, und Mutter lag meinem Vater winselnd zu Füßen. Ich sann auf Abhilfe.

Es sollte noch drei Jahre dauern, ehe mein Vater ganz unerwartet im Gasthaus an einer Lungenblutung starb. Kein schöner Tod. Aber unauffällig. In allen Städten hatte sich eine Rattenplage ausgebreitet. Die Biester sind intelligent. Wenn sie sehen, dass einem der ihren der Fraß nicht bekommt, machen sie einen Bogen darum. Also braucht man ein Mittel, das man nicht rausschmeckt und das verzögert wirkt. In Wein lässt es sich hervorragend auflösen.

Der Versuch hat mich sehr ermutigt, mich mit Säuberungsprozessen zu beschäftigen. So viel Schmutz, so viel Elend auf der Welt, so viele schädliche und verderbliche Faktoren! Und auf der anderen Seite so unglaubliche Möglichkeiten nie gekannter Durchschlagskraft und Effizienz.

Wir zogen von Leonding nach Linz und atmeten Stadtluft. Großdeutsche Ideen lagen in der Luft. Großartige Entwicklungen. Überall schritt die Elektrifizierung voran. Trambahnen und Automobile fuhren auf den Straßen. Aber nicht nur im öffentlichen Raum, auch in den Haushalten tat sich etwas. Amerikanische Erfinder hatten eine Entstaubungspumpe entwickelt, mit deren Hilfe der Schmutz nicht mehr mühsam weggefegt und durcheinandergewirbelt werden musste, sondern er wurde durch einen Luftstrom angezogen und gleich in einen Behälter befördert, mit dem man ihn entsorgen konnte.

Ebenfalls aus Amerika kam eine Erfindung, die Hamilton Smirts Trommelwaschmaschinen und die Nevburg’schen Patentwaschmaschinen weiterentwickelte und in den Salons der Stadt Furore machte: elektrische Maschinen zum Waschen und Mangeln. Wenn ich daran dachte, wie sich Mutter mit der Wäsche plagte, mit den riesigen Kesseln, dem Soda, das ihr die Hände rissig und wund machte, mit Einweichen, Rühren, dem großen Holzstab, dem Waschbrett, mit Spülen, Wringen – ich hätte ihr so gerne das Leben leichter gemacht! Mitnichten war mit dem Abgang meines Vaters das Paradies ausgebrochen. Es gab keine Prügel mehr, aber das Geld war knapp.

Auf der Suche nach einem kleinen Zubrot hatte ich die besseren Häuser abgeklappert, und siehe da, man konnte mich für kleine Botengänge verwenden. Als Laufbursche kam ich nicht nur herum, sondern konnte auch Einblicke in die inneren Zustände der Linzer Bürgerhäuser nehmen.

In der Kirchgasse Nummer neun lernte ich Stefanie kennen. Isak Stefanie, um es genau zu nehmen. Eine Jüdische. Aber das sah man ihr nicht an. Sie war von strahlendem Blond, einer natürlichen Geradheit, einer stolzen Haltung, die mein Herz im Sturm einnahm. Ich suchte, so oft es ging, ihre Nähe, auch wenn ich mir nicht sicher war, ob sie einen Dienstboten wie mich überhaupt wahrnahm.

Der glückliche Zufall wollte es, dass just im Salon ihrer Mutter ein Handelsvertreter einer deutschen Firma aus Gütersloh, Miele hieß sie, den Prototyp einer elektrischen Waschmaschine vorstellen sollte. Alle Damen der Gesellschaft rissen sich darum, bei dem Ereignis zugegen zu sein. Es war Linzer Tagesgespräch. Für die Präsentation sollten einige Vorkehrungen getroffen werden. Der Salon wurde hergerichtet, das ganze Haus einer Räum- und Reinigungsaktion unterzogen. Für den Empfang mussten Einkäufe getätigt werden, daher waren Handlangerdienste gefragt, und ich ließ die Schule umso lieber links liegen, als ich die Gelegenheit witterte, meiner Stefanie nahe sein zu können.

Am Vorabend war ich der letzte, der den Waschsalon vorbereitete. Ich wich nicht eher, bis der letzte Handgriff getan, der letzte Dienstbote entlassen worden war. Nie war ich Stefanie so lange und so intensiv nahe gewesen, und den Moment wollte ich bis zur Neige auskosten! Die beiden Damen des Hauses waren in die Küche gegangen, und ich schlich mich hinterher, um mir kein Wort von den Lippen meiner Liebsten entgehen zu lassen. Als ich mich im Zwielicht des abendlichen Flurs an die Wand neben dem Türrahmen presste, vernahm ich einen abgrundtiefen Seufzer.

»Ach, Mutter«, sagte meine Holde, »kannst du bitte dafür Sorge tragen, dass dieser Kerl unser Haus nicht mehr betritt?«

»Er ist anstellig«, entgegnete ihre Mutter. »Gute Arbeitskräfte sind heute selten.«

»Er starrt mich auf unverschämte Art und Weise an«, sagte Stefanie. »Wenn er morgen dabei ist, wird er mich zum Gespött der ganzen Stadt machen.«

»Contenance, liebes Kind!«, gab die Mutter zurück. »Er ist ein Subalterner, ein Untermensch. Wer sich von derartigen Subjekten beeinträchtigt fühlt, vergisst seine gesellschaftliche Position.«

Die Tochter stampfte mit dem Fuß auf. »Ich mag seine dumme Fratze nicht mehr sehen! Dieses alberne Oberlippen-Bärtchen, dieser stutzerhafte Seitenscheitel, dieses dümmliche Grinsen!«