Cover

Reither, bis vor kurzem Kleinverleger in einer Großstadt, nun in einem idyllischen Tal am Alpenrand, hat in der dortigen Bibliothek ein Buch ohne Titel entdeckt, auf dem Umschlag nur der Name der Autorin, und als ihn das noch beschäftigt, klingelt es abends bei ihm. Und noch in derselben Nacht beginnt sein Widerfahrnis und führt ihn binnen drei Tagen bis nach Sizilien. Die, die ihn an die Hand nimmt, ist Leonie Palm, zuletzt Besitzerin eines Hutgeschäfts; sie hat ihren Laden geschlossen, weil es der Zeit an Hutgesichtern fehlt, und er seinen Verlag dichtgemacht, weil es zunehmend mehr Schreibende als Lesende gibt. Aber noch stärker verbindet die beiden, dass sie nicht mehr auf die große Liebe vorbereitet zu sein scheinen. Als dann nach drei Tagen im Auto am Mittelmeer das Glück über sie hereinbricht, schließt sich ihnen ein Mädchen an, das kein Wort redet, nur da ist …

Kirchhoff erzählt in seiner großartigen Novelle von der Möglichkeit einer Liebe, und schließlich die Parabel von einem doppelten Sturz: in die Liebe, ohne ausreichend lieben zu können, und in das Mitmenschliche, ohne ausreichend gut zu sein. »Aber wo wären wir ohne etwas Selbstüberschätzung«, sagt der Protagonist Reither, um sich Mut zu machen für den ersten Kuss mit Leonie Palm, »jeder wäre nur in seinem Gehäuse, ein Flüchtling vor dem Leben.«

Titel

Inhalt

Kapitel 1: Diese Geschichte, die ihm …

Kapitel 2: Auf einen Sprung herein …

Kapitel 3: Die Nacht ist vorgedrungen …

Kapitel 4: Am Tag und bei Sonne …

Kapitel 5: Reither sah auf die Straße …

Kapitel 6: Keine zwei, sondern fast vier Stunden …

Kapitel 7: Erinnerungen sollten wie Abschnitte …

Kapitel 8: Was hätte er von der folgenden Stunde …

Kapitel 9: Ein Stück Welt im Ganzen …

Kapitel 10: Es ist der zweiundzwanzigste April …

Kapitel 11: Der Boden schien …

Kapitel 12: Wie heißt Du? …

Kapitel 13: Kein Erzähler hat gleich …

Kapitel 14: Überall standen Autos …

Kapitel 15: Drei Hüte lagen vorn …

Kapitel 16: Kapitel gegen Ende eines Buches …

Kapitel 17: Zwei Hunde kamen …

Kapitel 18: Eigentlich hatte er nur …

1

Diese Geschichte, die ihm noch immer das Herz zerreißt, wie man sagt, auch wenn er das nicht sagen würde, nur hier ausnahmsweise, womit hätte er sie begonnen? Vielleicht mit den Schritten vor seiner Tür und den Zweifeln, ob das überhaupt Schritte waren oder nur wieder etwas aus einer Unruhe in ihm, seit er nicht mehr das Chaos von anderen so lange verbesserte, bis daraus ein Buch wurde. Also: Waren das Schritte, abends nach neun, wenn hier im Tal schon die Lichter ausgingen, oder war da etwas mit ihm? Und dann käme die Zigarette, die er sich angesteckt hatte; wenn nämlich sein ewiges Metallfeuerzeug aufschnappte, beendete das Geräusch jeden Spuk, auch den von innen. Und mit der Zigarette im Mund holte Reither – genau an der Stelle hätte er den Namen eingeführt – eine Flasche von dem apulischen Roten aus einem Karton im Flur, die vorletzte. Der Wein um diese Stunde, friedliches Laster, das einen entfernt von der Welt, all ihrem Elend, selbst was vor der eigenen Tür geschieht, muss man nicht wissen.

Ja, das waren Schritte. Als würde dort wer, nachdenklich, auf und ab gehen. Reither holte noch seinen Korkenzieher und kniete sich damit im Wohnzimmer auf den Boden, weil dort erstens der Aschenbecher war und zweitens ein Buch lag, das er am frühen Abend entdeckt hatte. Aber eigentlich folgte er nur der Gewohnheit, Dinge, in die man sich hineinknien sollte, auch im Knien zu tun, wie noch im letzten Jahr in seinem Kleinstverlag, wenn er Entwürfe für neue Umschläge auf dem Parkett ausgebreitet hatte. Ja, auch eins der wenigen Fotos von sich, die er gelten ließ, zeigt ihn kniend und mit Zigarette im Mund, beobachtet von einer Frau, wobei nur ihre Beine zu sehen sind. Alles an ihm ist zielgerichtet, der zu Boden gestreckte Arm, die im selben Winkel abwärts zeigende Zigarette, der Blick auf das eigene Tun, mit dem Daumen etwas anzubringen an einem verrotteten Blechschild, das er als Umschlagmotiv gewählt hat und an das er noch letzte Hand anlegt, wie an jedes seiner Bücher in über dreißig Jahren, bis damit Schluss war. Vorigen Herbst hatte er den Reither-Verlag samt angeschlossener Miniaturbuchhandlung liquidiert und die Parterreetage in einem Frankfurter Altbau verkauft; mit dem Erlös konnte er Schulden bei Druckereien bezahlen, der Großstadt den Rücken kehren und in die Wohnung mit Blick auf Wiesen und Berge ziehen, auch wenn auf den Wiesen Ende April noch Schnee lag. Dafür war man hier, im oberen Weissachtal, der Welt des müden Lächelns entkommen: für alles, was einer wie er zweimal im Jahr gedruckt und gebunden zu bieten hatte.

Reither drehte den Dorn in den Korken der Flasche. Als das eine Foto entstand – es lag gerahmt in der Küche, er konnte sich nicht entscheiden, es aufzuhängen –, hatte er noch in Gesellschaft getrunken; die ins Bild ragenden Beine gehörten einer Frau, die ihn kurz darauf verlassen sollte, ein mit Selbstauslöser gemachtes Foto, sozusagen glücklich verunglückt. Er zog jetzt am Korken, bis er blitzende Kringel sah, eine vergebliche Mühe; er war nicht bei der Sache, er war bei den Schritten vor seiner Tür. Da war jemand im Gang, eigentlich kein Aufenthaltsort, mit einer Wandfarbe, die nicht verriet, ob es Farbe an sich war oder nur der verblasste Rest einer geistlosen Farbidee. Kein Mensch ging dort grundlos auf und ab. Reither drückte die Zigarette aus und lehnte das entdeckte Buch an den bauchigen Aschenbecher – wer wollte da etwas von ihm? Und wollte er, dass jemand etwas von ihm wollte? Vielleicht; vielleicht aber auch nur, weil der Frühling ausblieb. Der Winter war nicht seine Zeit, zum vierundsechzigsten Mal schon, die paar Kleinkindwinter nicht mitgerechnet. Und der Wein gegen den Winter, der war übrig von einer Reise in seinem alten Toyota bis nach Apulien, mit offenen Fenstern als Klimaanlage in der Augustglut. Und das Buch am Aschenbecher war nur ein Büchlein, kaum fünfzig Seiten, eindeutig selbst verlegt, die Gestaltung dafür recht ansprechend, deshalb war es ihm aufgefallen, aber auch, weil es keinen Titel hatte oder ein Frauenname auf dem Umschlag der Titel war – ein nie gehörter Name, der wie erfunden klang.

Er zog noch einmal, und nun kam der Korken mit einem fast menschlichen Laut, er füllte ein Glas. Und eigentlich wollte sich Reither jetzt setzen, aber er zog seine Schuhe aus und ging wieder in den Flur, das Glas und das Buch in den Händen, er trat an die Tür. Da atmete wer auf der anderen Seite, ja räusperte sich leise, als wollte er gleich etwas sagen oder sagte es schon mit innerer Stimme, ich will gar nicht stören, nur ein paar Worte wechseln. Er holte Luft, die Luft für den ersten Schluck am Abend, wenn alles Denken in ein Schmecken mündet und die Welt für Momente auf eine Zunge passt, er nahm den Schluck, nur blieb die Wirkung aus – die Welt, das war das leise Räuspern auf der anderen Seite der Tür. Und dagegen half nur die Welt eines Buchs, selbst wenn es keinen Titel hatte – so ein Fund war nicht zu erwarten gewesen, als er an diesem Sonntag das sogenannte Kaminfoyer mit einer Wand voll hinterlassener Bücher besucht hatte, zur Zeit des Abendessens in den nahen Restaurants, um dort allein zu sein. Und zwischen begehrlich aufgemachten Liebesromanen, jeder Umschlag nur ein Leugnen, wie sehr das Begehren das Sein verbraucht, war er auf dieses Buch gestoßen und damit gleich in seine Wohnung gegangen, um keinem zu begegnen, schon gar nicht jemandem vom Lesekreis der Wallberg-Apartments, wie der ganze Komplex hieß; die wohl treibende Kraft des Kreises hatte ihm schon einmal von weitem sehr sachte zugenickt.

Reither ging in die Küche, er holte sich etwas Käse und gekochten Schinken, dazu Butter und Brot; nicht dass er gern allein gegessen hätte, aber er aß auch nicht gern unter Beobachtung. Überhaupt hatte er von Anfang an keine Kontakte gesucht, nur mit zwei jungen Frauen vom Empfang unterhielt er sich bei Gelegenheit – Empfang, ein Wort aus der Eigentümerversammlung, als wohnte man in einem Hotel, und dabei ging es nur darum, dass nach Dienstschluss des Hausmeisters noch jemand ein Auge darauf hatte, wer die Anlage betrat, was aber nicht viel kosten sollte, folglich saßen zwei in Schichten am Empfang, die froh waren, überhaupt Arbeit zu haben. Beide kamen wie er aus zurückgelassenen Welten, die eine aus Bulgarien, Marina, die andere aus Eritrea, eine wahre Kinderbibelschönheit, Aster, der Stern. Mit der blonden Bulgarin, immer eine Spur zu elegant für ihre Tätigkeit, sprach er über Prominente, die sie im Tal zu sehen geglaubt hatte, und bei der Eritreerin ging es um die Sprache selbst. Aster wollte in der fremden Sprache keine Fehler machen, während er sie ermunterte, grammatikalisch falsch, aber dafür ihrer leisen Art entsprechend zu reden. Leise drauflos, hieß sein Rat – den hatte er auch immer seiner einzigen Mitarbeiterin gegeben, wenn sie anstelle des Verlegers einem Anrufer, der den Roman des Jahrhunderts geschrieben zu haben meinte, schon am Telefon den Zahn ziehen sollte; die Kressnitz, wie er sie auch weiter für sich nannte, war gewissermaßen seine nächste Angehörige, nähere gab es nicht.

Vor der Wohnungstür jetzt ein Geräusch wie unterdrücktes Niesen, einmal, zweimal – kein Wunder bei dem Wetter. Auch die Kressnitz war in jedem April erkältet, in jedem, hatte aber selbst mit Schnupfen ihre Aufgabe erfüllt, die Talente zu trösten, wenn deren Wirrwarr noch zu groß war, um daraus ein Buch zu machen. Bis zuletzt hatte sie an all die Bedrückten, die sich mit Schreiben retten wollen, ehrlich geglaubt, während er sie ohne Hoffnungen zum Italiener um die Ecke führte: irgendwann musste Schluss damit sein. Reither räumte den Esstisch ab, er nahm sich eine neue Zigarette, er trat wieder in den Flur. Natürlich hatten ihn viele bestärkt weiterzumachen, alle, die sein Alter für kein Alter hielten, weil sie selbst darauf zugingen, nur hatte er als Einziger dem Umstand ins Gesicht gesehen, dass es allmählich mehr Schreibende als Lesende gab. Er legte ein Ohr an die Tür. Entweder hielten jetzt zwei den Atem an, oder der Spuk war vorüber – schade eigentlich, er hatte lange keinen anderen Atem mehr gehört; so blieb nur das entdeckte Buch, und er tat es auf den Esstisch, samt dem Aschenbecher. Dann füllte er sein Glas nach und stellte es auf dem Bändchen ab, etwas, das er früher nie getan hätte. Und schon waren auch zwei Tropfen von dem apulischen Roten auf dem so ansprechenden Umschlag, nichts als die Schrift, eine Arial, auf feinem sandfarbenem Papier. Er versuchte, die Tropfen abzuwischen, aber die Flecken wurden nur größer, also müsste er den Umschlag entfernen, bevor er das Buch zurückbrächte, so als hätte es keinen Umschlag gehabt. Den hatte es aber, diese Tatsache blieb; alles, was einmal war, bleibt eine Tatsache, das hatte er schon vor über zwanzig Jahren erfahren durch die Frau, die ihn verließ, auf einer Reise kurz vor dem Ziel; auch sie blieb eine Tatsache, dazu noch mit einem schönen und nicht erfundenen Namen.

Reither löschte die Zigarette, und in dem Moment klingelte es, ein kurzes, aber entschiedenes Klingeln, und er sah an sich herunter, auf einen Pullover, wie man ihn nur sehr schwer wieder loswird, wenn man sich einmal an ihn gewöhnt hat, ein Geschenk der Kressnitz zu seinem letzten runden Geburtstag. Moment, rief er und zog den Pullover aus und nahm sich ein Hemd mit Brust­taschen, sein Hemd aus frühen Messetagen, als in die ­Taschen genau die kleinen Flyer seines Herbstprogramms hineinpassten, dazu trug er eine Lederjacke, die er so ewig besaß wie das Feuerzeug, sie hing in der Garderobe. Auf dem Weg zur Wohnungstür griff er an den Kragen der Jacke, mit der er schon mehr erlebt hatte als unge­betenen Besuch am Abend, erst danach an die Klinke – manchmal weiß man um etwas, noch bevor es eintritt, durch einen Anflug, eine Schwingung, wie jene Tiere, die vor Erdbeben unruhig werden, und schon beim halben Öffnen der Tür zeigte sich, was gerade noch dieser un­erforschten Teilchenwelt angehört hatte: Vor seiner Fußmatte stand die treibende Kraft des Lesekreises, und sie stand dort in einem Sommerkleid.

Was kann ich für Sie tun? Reither schaffte es noch, ein Guten Abend anzufügen, da war er schon im Bann ihrer auch sommerlichen Schuhe und sah sich selbst in Socken. Es ist spät, sagte sie, und wenn ich bei etwas gestört habe, vielleicht beim Fernsehen, tut es mir leid. Ich will auch gar nicht weiter stören, nur ein Gespräch vereinbaren, sagen wir morgen, elf Uhr, im Kaminfoyer?

Die Besucherin – auch wenn sie, strenggenommen, noch gar keine war – stand nun mit beiden Schuhen halb auf der Matte, und zutreffender wäre es, von beiden ­Füßen zu sprechen, weil nur ein paar minzfarbene Riemchen ­darum lagen, das hieß, sie stand dort in Sandalen, die aber nichts Gesundheitliches hatten, vielmehr etwas nervös Libel­lenhaftes, von dem Reither nur langsam den Blick heben konnte. Einen Fernsehapparat besitze ich gar nicht, erwiderte er, also kann mich auch nichts davon wegreißen. Das morgige Gespräch, worum geht es da? Eine Frage, die wohl jeder gestellt hätte, höchstens mit anderen, netteren Worten, und erst jetzt hob er den Blick so weit, dass er die Frau vor der Tür ansah, auch wenn es mehr ein Schauen war: ungläubig, hätte er in dem Fall für das passende Wort gehalten. Denn er schaute in ein Gesicht von der Art, die einen daran denken lässt, wie es in früheren Jahren ge­wesen sein muss, bestürzend schön, einfach weil es immer noch etwas Bestürzendes hatte, mit Augen von einem bläulichen Grau, provisorisch getürmtem Haar im Ton von Pistazienschalen, einer soliden Nase, ihre Flügel jedoch zart, dazu ein blasser, voller Mund, voll wegen seiner Blässe; sie war jünger als er, aber nicht dramatisch jünger. Es geht um un­seren Lesekreis, sagte sie. Nur lassen Sie uns doch bei Tage darüber reden, morgen also? Sie strich ein paar Haare, die sich gelöst hatten, aus der Stirn und blies dem letzten noch hinterher, und Reither sah wieder auf die so sommerlichen Schühchen. Bitte, seit wann ­unterhält man sich über das Lesen besser tagsüber als nachts? Ein Einwand, der ihn selbst überraschte, nicht weil er falsch gewesen wäre, sondern leichtsinnig, fast eine Einladung. Die Lesekreisleiterin räus­perte sich leise, sie schien die Vor- und Nachteile von Tag und Nacht ­abzuwägen. Aber manche Gespräche, wandte sie ein, führen zwei Menschen doch besser, wenn sie hellwach sind.

Hellwach, das klang nach einer Warnung, als ginge es um heikle Dinge bei dem Gespräch. Sagen Sie, wie lange standen Sie vor der Tür? Er musste das fragen, ihr diese kleine Ruppigkeit zumuten. Wie lange? Nun, ich habe nicht auf die Uhr gesehen. Aber Sie standen zeitweilig auf der anderen Seite, ich habe Ihre Zigarette gerochen – ohne Filter. Und folglich haben wir beide gezögert. Weil das Menschliche mit der Zeit kaum einfacher wird, nicht wahr? Mit einem Lächeln kam das, als hätte sie schon die Wohnung betreten, und dabei war sie wieder etwas zurückgewichen, Füße jetzt locker gekreuzt, passend zu den offenen Schuhen, eher türkisfarben, seitlich mit ­blauen Sprenkeln; ihr Kleid aus Leinen hatte den Ton der Augen und war schulterfrei, wie aus Trotz gegen die eisige Nacht, die sich im Weissachtal anbahnte. Was dachte er über das Menschliche und die Zeit, die Frage war nicht vergessen; er sah erneut auf ihr Haar, darin auch das natürliche Zinngrau, das sich manche Möchtegernschreiberin heute schon einfärben ließ, um damit geistreich zu erscheinen. Die menschlichen Dinge, sagte er, sind es nicht ab einem gewissen Alter immer dieselben? Weil man weiß, wie und wo man sie erhält, wie Zigaretten, an die man gewöhnt ist. Ohne Filter, Sie haben recht. Und Ihr Kreis, das sind Bewohner von hier, die über ihre Leseerlebnisse reden?

Es sind Bewohnerinnen, erwiderte die sommerlich Gekleidete und rieb sich jetzt die nackten Arme, was auf eine Entscheidung hindrängte, sie schnell zu verabschieden oder ihr, unter Umständen, die alte Leder­jacke an­zubieten. Und man kann nicht sagen, dass alle nur lesen, fuhr sie etwas verhaltener fort. Das Lesen führt uns zusammen, ja. Aber die meisten in unserem Kreis, nun, sie schreiben auch.

Reither sah wieder an sich herunter. In Socken dazu­stehen machte nicht den allerbesten Eindruck, andererseits musste er auch nicht glänzen vor ihr; er musste sie nur höflich loswerden. Lesekreis wäre dann also ein Tarnname?

Sagen wir: ein nicht ganz vollständiger Name. Und das Schreiben geschieht ja im Stillen, was Ihnen nicht neu sein dürfte – der Verlag, den Sie hatten, ist aufgelöst? Ein Wort, das ihr nicht leicht über die Lippen kam, aufgelöst, und statt sich weiter die Arme zu reiben, nahm sie ihr Gesicht in die Hände, sehr erwachsene, reife Hände, fand er, auch wenn Hände nicht reif sein können, nur in der Sprache können sie’s. Ich hatte einen Hutladen in der Hauptstadt, sagte sie, ebenfalls aufgelöst. Es gab für ­meine Hüte immer weniger Gesichter. Besitzen Sie einen Hut?

Nur eine Wollmütze, antwortete Reither. Gegen den Wind im Tal. Wussten Sie, dass der immer verbreitetere Wunsch, den eigenen Namen nicht bloß am Türschild, sondern auch auf einem Buchumschlag zu sehen, der Tod des guten Buches ist?

Die frühere Hutladenbesitzerin schloss die Augen, gleichwohl schien sie ihn weiter anzuschauen. Und doch schreiben wir alle, sagte sie. Und was uns fehlt, ist einer, der sich eine Seite anhört und dann sagt, das könnte was werden. Oder wenigstens anerkennend den Kopf wiegt. Oder so still den Kopf schüttelt, dass man es ein für alle Mal aufgibt.

Und bei diesem einen denken Sie an mich?

An wen sonst. Und Sie rauchen also filterlos.

Ja. Immer schon.

Würden Sie mich hereinbitten, würde ich eine mitrauchen. Obwohl ich aufgehört habe, seit ich hier wohne.

Dann sollten Sie es auch dabei belassen.

Ist das Ihr letztes Wort?

Was weiß ich, sagte Reither. Außerdem mag ich keine langen Dialoge. Ich mochte sie auch in Büchern nie. Sie zeugen meist nur von Erzählfaulheit.

Aber Sie und ich, wir sind hier nicht in einem Buch. Wir stehen an Ihrer Wohnungstür.

Nein, nur Sie. Ich stehe in der Wohnung. Außer Sie kommen herein. Und wir rauchen eine.

2

Auf einen Sprung herein, hätte er besser gesagt, auf ein Gläschen und die eine Zigarette – Reither schloss die Tür hinter sich und der Besucherin, die sie jetzt zweifellos war, er schob den Karton mit dem Wein beiseite. Nach Ihnen, sagte er beim Gang in den Flur, zwei überlegte Worte. Und als die frühere Hutladenbesitzerin schon das Wohnzimmer betrat, sah er sich noch im Garderobenspiegel: Das Hemd mit den Brusttaschen, das hatte er auch auf dem gerahmten Foto getragen, ein unverwüstliches Stück, und eigentlich war er auch noch der Mann auf dem Foto, fettlos, schlaksig, mit täuschend warmen Augen und fester Stirn und inzwischen schon trotzig dichtem Haar, lange in der Farbe von Harz, jetzt von Tabak und Asche, nach wie vor ungekämmt, nur zurückgeschaufelt, und immer selbst geschnitten. Und rasiert hatte er sich zum Glück noch am Mittag – nichts schlimmer als Männer mit grauem Gestoppel. Die Zigaretten müssen auf dem Tisch liegen, rief er, als sei er mit einer rauchenden Freundin nach Hause gekommen.

Und dann stand sie auch schon am Tisch in ihrem leichten Kleid und hielt sogar das Päckchen in der Hand, er nahm es ihr ab und schüttelte zwei Zigaretten zur Hälfte heraus. Sie bediente sich, und er gab ihr Feuer, ein Akt, den er vermisst hatte; er steckte sich die andere Zigarette an. Raucher waren Leute, die nicht gleich reden wollten, die sich erst sammelten und dabei ihre kleine Pantomime aufführten. Sie zum Beispiel, die Besucherin, machte einen ziemlich vorsichtigen Zug, ließ den Rauch aber aus der Nase strömen und nahm sich mit den Zähnen einen Tabakkrümel von der Unterlippe; sie machte noch einen Zug und sah sich die Bücher auf dem Tisch an, auch das befleckte. Dann erst sagte sie etwas, die Hand mit der Zigarette über dem Aschenbecher. Ihren Namen kenne ich ja, sagte sie, meiner ist noch einfacher. Palm. Leonie. Aber wären wir hier in dem Buch, von dem Sie geredet haben, würde ich von Leonie abraten. Es hat so etwas Sympathieheischendes, da muss man immer aufpassen. Besser wäre es, nur von der Palm zu reden. Etwa: Die Palm stand eines Abends an seiner Tür, und er schlug ihr vor, doch hereinzukommen und eine zu rauchen.

Reither holte das zweite Glas. Wir wollten über meine Rolle in Ihrem Kreis reden, sagte er, aber da hatte die Besucherin schon nach dem Buch gegriffen, auf dem er nichts hätte abstellen sollen. Ihr Daumen strich über die Flecken, ein Daumen, wie man ihn sich wünscht bei Frauen, schlank, aber nicht knochig, oval der Nagel, farblos lackiert. Sie legte das Bändchen wieder auf den Tisch, nur weiter weg von der Weinflasche. So besteht man hier den Sonntag, nicht wahr, man liest, man schläft, man liest erneut, man geht eine Stunde spazieren und liest später das Ende. Wo kaufen Sie Ihren Wein?

Dort, wo er wächst – Reither hielt das neue Glas gegen den Schein seiner Leselampe, von der er sich nicht hatte trennen können; ihr Licht war in all den Jahren auf Abertausende von Seiten gefallen, davon die wenigsten tauglich für ein Buch, das diese Lampe hätte überdauern können. Das Glas war so weit sauber, und er füllte es; natürlich wäre es besser gewesen zu fragen, ob sie ein Glas Wein möchte, noch besser, ob er ihr etwas anbieten dürfe und was. Er stellte das Glas auf den Tisch und nahm seins herunter, und man hätte sich jetzt zuprosten können, was ja immer beruhigend wirkt, aber die Besucherin griff wieder zu dem Bändchen und schlug es vorn auf. Was denken Sie über einen Anfang wie den? Sie hielt das Buch etwas von sich weg und las die erste Seite vor, und Reither hatte Mühe zu folgen, er hörte auf ihre Stimme. Es ging da um eine junge Frau, die sich nachts bei Eiseskälte betrunken an einen Waldsee legt, wohl aus Liebeskummer, und erfriert. Dinge dieser Art waren immer wieder bei ihm gelandet, die meisten unerträglich. Nur hatte sich hier die Mutter der jungen Frau noch am Tag der Beerdigung nachts an dieselbe Stelle gelegt, um sich in die Tochter einzufühlen, die Variante kannte er noch nicht. Sie zog sich sogar aus, aber bald wieder an, damit sie nicht auch noch erfror, und ging durch den Wald Richtung Straße; genau zugehört hatte er erst beim letzten Satz – Sie bewegte sich, als könnte ihr Körper jeden Moment zerfallen.

Habe ich zu schnell gelesen?

Nein, keineswegs, sagte Reither. Er trank einen Schluck, und endlich nahm sie das Glas vom Tisch, nickte ihm zu und setzte es an die Lippen. Sie wollte also etwas von ihm hören über das titellose Buch, womöglich ein Test, ob er überhaupt geeignet wäre für ihren Kreis. Wie schmeckt Ihnen der Wein aus Apulien? Keine sehr geschickte Ablenkung, nur zog sie anerkennend die Brauen hoch, womit sich ein Gespräch über Wein anbahnte, und das ging ihm schon auf die Nerven, wenn er es irgendwo lesen musste. In Ihrem Kreis, gibt es da keine männlichen Teilnehmer? Reither ging zu dem Lesesessel mit Fußablagewürfel davor, dem Möbel, das zur Leselampe gehörte oder umgekehrt: ein Paar, das man nicht trennen durfte, auch wenn dieser Sessel viel Platz einnahm, dafür enorm bequem war, das Richtige für den weiblichen Gast. Nein, sagte die Besucherin, es gibt keine männlichen Teilnehmer.

Reither rückte den Sessel etwas zum Tisch und strich noch den Bezug glatt. Wie viele Abende hatte er in diesem Sessel verbracht, irgendein Erstlingswerk auf dem Schoß, bangend, wann die Geschichte im Sand verliefe oder haarsträubend würde, aber manchmal auch, nach gutem Anfang, voller Sorge, ob es auch so weitergehe. Und immer wieder das Erstaunen, wenn der Verfasser oder die Verfasserin schließlich im Verlag erschien und das Werk nicht zu einem Gesicht, einer Stimme, einem Auftreten passte, er sich beim Lesen ein Bild gemacht hatte, das zugleich ein Stück Blindheit war, die Blindheit des Verlegers für das Gewöhnliche am Autor, seine Hobbys, seine Freuden, aber auch die kleineren Nöte, eine hustende Katze, die defekte Heizung, das verlorene Fußballspiel. Dann nehmen Sie doch Platz, sagte er, und die Besucherin ließ sich, ihr Glas in der Hand, in dem Sessel nieder, sie schlug ein Bein über das andere und zog ihr Kleid über das obere Knie. Fünf Minuten, sagte sie, es ist ja schon spät. Oder wann gehen Sie zu Bett?

Zu Bett, ein Ausdruck, der ihn überraschte, man hörte ihn nicht mehr so oft, und geschrieben sah man ihn kaum noch, in neueren Büchern eigentlich gar nicht, als bräuchten die Verfasser keinen Schlaf oder besäßen keine Betten und ruhten allenfalls auf Isomatten, während die Gedanken in Spannung blieben, Worte und Sätze produzierten, so nervös wie die Musik in den Clubs, in denen solche Leute zu Hause waren. Zu Bett? Ich gehe spät zu Bett, sagte Reither, aber Bett heißt nicht Schlaf. Und Sie meinen also, Ihr Name sei nichts für ein Buch.

Leonie Palm – er hatte sich gleich bei ihm festgesetzt, dieser Name, wie ein schöner einfacher Anfangssatz – machte ihm Zeichen, ob er den Aschenbecher bringen könnte, und er kam damit an den Sessel, sie drückte die halbgerauchte Zigarette aus. Namen bekommt man verpasst, sagte sie. Meinen hätte ich mir lieber ausgesucht. Und ich mag den Wein aus Apulien. Leider war ich noch nie dort. Sie? Wie nebenbei kam das und war keine Frage, um eine Unterhaltung ausklingen zu lassen, eher um sie in Gang zu bringen, daraus ein Gespräch zu machen. Erst im letzten Sommer, sagte er. Zum letzten Mal.

Warum, war es nicht schön?

Doch, durchaus – Reither überlegte, wohin er sich setzen sollte, vielleicht auf den Fußwürfel oder besser auf einen der Esstischstühle, den man freilich erst an den Sessel heranrücken müsste, und die Frage war, in welche Nähe für die eingeräumten fünf Minuten, die eigentlich längst um waren. Nur geschieht ja alles Schöne irgendwann zum letzten Mal, sagte er. Und besser, man bestimmt diesen Zeitpunkt selbst.

Wie hieß das letzte Buch in Ihrem Verlag?

Er nahm die Zigaretten und das Feuerzeug vom Tisch, den Wein und sein Glas. Es hieß Bis auf weiteres unsterblich. Erzählungen. Aber immer dieselben zwei Hauptfiguren, in jeder Erzählung.

Ein Paar?

Nein, kein Paar. Nur Mann und Frau. Sie haben sich gesiezt. Ein Du taugt nur etwas, wenn es aus dem Sie hervorgeht. Hat Ihnen die Zigarette nicht geschmeckt? Reither sah in den Aschenbecher, auf die lange Kippe zwischen den kurzen, das Papier an einer Seite noch feucht von den Lippen. Ich muss mich erst wieder daran gewöhnen, sagte seine Besucherin, die Palm, immer noch die Beine übereinandergelegt, als seien fünf Minuten für sie nur eine Redewendung. Ich hatte nicht mit einer Zigarette gerechnet. Aber wenn nichts Unerwartetes mehr auf uns zukommt, dann sind wir tot. Auf mich kam heute zu, dass die Tür zum Kaminfoyer aufstand bei meinem Weg ins italienische Restaurant und ich bis zur Bücherecke sehen konnte – Sie nahmen dort gerade ein Buch zur Hand. Und auf Sie kam heute zu, dass ich jetzt hier sitze, nicht wahr?

Schon möglich, sagte Reither. Aber eine weitere Reise dürfte kaum auf mich zukommen, mein Auto ist verkauft. Möchten Sie einen Kaffee? Oder soll ich noch einen Wein aufmachen? Er steckte sich eine Zigarette an und holte die letzte Flasche von dem apulischen Roten, eigentlich gedacht für den Alltag, nicht für einen besonderen Anlass, aber nun gab es ihn, diesen Anlass, und es gab sogar ein Wort dafür, eins jener Worte, die langsam ein Schattendasein führten wie so viele andere auch: Damenbesuch. Er stellte die Flasche auf den Tisch und legte den Korkenzieher daneben. Damenbesuch hieß es, als er Lehrling im Buchhandel war, zuerst bei Cobet in Frankfurt, längst ein Juweliergeschäft, später bei Wetzstein in Freiburg, heute noch ein Geistesjuwel, eins der letzten, und wo immer er zur Untermiete gewohnt hatte, war Damenbesuch verboten. Er nahm den Aschenbecher vom Boden und setzte sich jetzt auf den Fußwürfel. Andererseits kann man ein Auto auch mieten, sagte er. Aber wohin soll man fahren, wenn man alles Schöne schon gesehen hat? Manchmal beneide ich unsere Eritreerin. Sie kommt selbst in diesem Tal hier aus dem Staunen kaum heraus.

Gefällt sie Ihnen?

Aster gefällt jedem.

Und die Bulgarin?

Die kommt bei den Frauen nicht so an. Weil sie spüren, dass sich die Männer vorstellen, mit ihr zu schlafen.

Stellen Sie sich das auch vor?

Nein. Sie redet zu viel. Alles, was ich über Aster weiß, weiß ich von ihr. Wie dramatisch die Flucht über das Meer war, als hätte sie mit in dem Boot gesessen in ihrem Glitzerzeug. Oder wäre auf Pumps mit durch die Wüste gelaufen und hätte zwischendurch die schrecklichsten Arbeiten gemacht, um den Schlepper zu bezahlen. Außerdem hat sie einen Frisösinnennamen.

Marina? Damit kann man leben. Sie hat heute die zweite Schicht, ich habe sie vorhin weggehen sehen, mit Stiefelchen und Pelzmütze. Und Ihre Mütze, was ist das für eine? Die frühere Hutladenbesitzerin legte ihre Hände auf das obere Knie, dadurch saß sie ein wenig vorgebeugt da, dazu noch den Kopf in leicht schräger Haltung – ein fast intimes Bild, Mann und Frau am späteren Abend, sie vielleicht mit Maniküre beschäftigt, er mit dem Sortieren alter Fotos, und ab und zu fällt ein friedliches Wort; Reither drückte die Zigarette aus. Er kam von dem Würfel hoch und ging erneut in den Flur und griff sich die Mütze aus gewöhnlicher schwarzer Wolle, stülpte sie über die Hand und ging zurück in den Wohnraum, dort war der Sessel jetzt leer. Die Palm stand am großen Fenster, sie sah ihn in der Scheibe und drehte sich um. Darf ich, sagte sie und nahm die Mütze an sich. Sie prüfte ihre Maschen, den Schnitt, die Elastik, sie hielt sie in die Höhe, um die Form zu sehen, sie sagte Naja und legte die Mütze neben das Buch mit dem befleckten Einband. Möchten Sie, dass ich gehe?

Wir könnten noch eine rauchen.

Nur, wenn Sie das Fenster öffnen.