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Zwischen Orient und Okzident

Je öfter Valerie Ägypten besucht und je mehr sie über Zeiten und mystische Traditionen erfährt, umso verwirrender scheint es. »Vergiss Ägypten, wenn du etwas über Ägypten schreiben willst«, rät man ihr. So lässt sie sich vor allem von der Vielfalt orientalischer Lebensentwürfe faszinieren.

Ein poetischer Reiseroman über eine Frau, die im Orient sich selbst entdeckt.

»Ägypten ist ein uraltes Haus, niemand weiß mehr, was sich hinter seinen Türen befindet«, sagt man Valerie. Gerade das reizt sie, das und die unbekannte Vielfalt von orientalischen Lebensentwürfen, denen sie von Alexandria bis Luxor begegnet.

Auf ihren Erkundungsgängen und -fahrten hat sie drei sehr unterschiedliche Begleiter: die Freundin Lamis, den altägyptischen Gott Thot und Abbas, den einstigen Geliebten. Lamis zeigt ihr das gegenwärtige Ägypten; Thot, Gott der Schreiber, Diebe und Heiler, öffnet ihr das Verständnis für seine mystischen Ebenen, und Abbas lebt in ihrer Erinnerung weiter. Als sie Europäerinnen kennenlernt, die Ägypter geheiratet haben, beginnt sich Valerie zu fragen, wie ihr eigenes Leben ausgesehen hätte, wäre sie Abbas gefolgt. So sammelt sie begierig die Lebensgeschichten dieser Frauen und findet immer neue Variationen der eigenen darin wieder.

»Mit ihrer poetischen Sprache webt Barbara Frischmuth einen wunderschönen Teppich, der zum Fliegen einlädt – geradewegs Richtung Ägypten.« Irene Prugger, Wiener Zeitung

»Ein Ägypten-Verführer, der mit beinahe erotischer Kraft süchtig macht auf das Land im Orient.« Monika Melchert, Sächsische Zeitung

»›Vergiss Ägypten‹ ist nicht nur ein Blick auf die religiöse, soziale und kulturelle Vielfalt des Orients, sondern auch ein Plädoyer für das genaue Hinschauen.« ORF

Barbara Frischmuth

Vergiss Ägypten

Ein Reiseroman

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Über Barbara Frischmuth

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Wem dieses Buch gefallen hat, der liest auch gerne …

»Ich habe nun mal diese Manie, gleich ganze Bücher über Figuren zu entwerfen, denen ich begegne. Was ich auch anstelle, eine unbezähmbare Neugier wirft die Frage in mir auf, welches Leben wohl dieser Passant da führt, der mir über den Weg läuft.«

Gustave Flaubert, Reise in den Orient (Ägypten – Nubien)

»Hurtig und hastig entfliegen die Tage,

Auf großen leisen Schwingen

Wie Ibisse von einem Feld.«

Aus Lieder arabischer Frauen,

gesammelt von Elsa Climenti (1942)

Vergiss Ägypten, sagte Lamis. Ägypten ist ein uraltes Haus, von dem niemand genau weiß, was sich hinter den Türen befindet. Die Kellertreppe ist eingestürzt, und die Leiter zum Dach hat kaum noch Sprossen. Die einzelnen Räume sind nur mehr gefühlsmäßig zu erschließen. Lass es also, denk lieber an die Ägypter.

Lamis hat leicht reden. Es ist ihr Land, es sind ihre Vergleiche.

Wenn du tatsächlich etwas über Ägypten sagen willst, vergiss Ägypten. Denk an ein anderes Land. Ein ganz anderes Land. Stell dir vor, du fliegst nach Sydney. Auf dem Weg dorthin musst du umsteigen. Möglicherweise in Bangkok oder weiß der Teufel, wo. Du sitzt nach dem unbequemen Flug mit ausgestreckten Beinen im Transitraum und unterhältst dich mit einer englischen Journalistin, die in Hurghada Urlaub gemacht hat. Du warst natürlich nicht in Hurghada. Und plötzlich überfällt dich eine Vorstellung von Ägypten, die es wert wäre, aufgeschrieben zu werden.

Wieso Bangkok?

Die Betonung liegt auf Transit. An Orten des Übergangs ist die Seele ungeschützt, alles Mögliche kann ihr passieren. Es gibt vielfältige Rituale bei Geburt und Tod, die einem beim Umsteigen helfen sollen.

Es geht aber nicht um Geburt und Tod. Es geht um Wörter, um Sätze.

Es geht ums Begreifen, glaub mir, Valie.

Ich hasse diese amputierten Vornamen und unterschreibe meine Briefe immer mit Valerie. Valerie Kutzer. Lamis sagt auch Alex, wenn sie Alexandrien, und IA, wenn sie die Isis Air meint.

Ich möchte Lamis wiedersehen. Jede Herzensregung hat ihren

Preis. Das aviatische Paradoxon. Nirgendwo fühle ich mich so geborgen wie in einem Flughafen, so als könne ich nie mehr verlorengehen. Wenn ich tatsächlich bliebe? Im Flughafen wohnen bliebe? Es wäre für alles gesorgt, Toiletten, Duschen, Friseur. Es gibt einen Arzt und einen Andachtsraum (ökumenisch), Buffets, Restaurants, Buchhandlungen. Warum mir das in den Sinn kommt? Es ist das große innere Zögern bei jedem Flug, die vorfatalistische Phase. Noch könnte ich zurücktreten. Aus dem Flughafen kommt man jederzeit raus, eine Frage der Mechanik. Ich müsste nur den Fuß vor die Tür setzen, der Fuß bliebe am Boden.

Nach dem Einchecken gibt es nichts mehr zu entscheiden, auch der Gangsitz ist fix. Beim Abstürzen ist es völlig egal, ob Gang- oder Fenstersitz. Man kommt nur leichter zur Toilette und hat etwas mehr Armfreiheit.

Ich fliege zum fünften Mal nach Ägypten, diesmal nur, um Lamis zu sehen. Auf dem kleinen Schirm an der Rücklehne kann man zuschauen, wie der Vogel die Kilometerkrümel frisst. Langsam senkt er sich, das Land erscheint nilgrün, auf beiden Seiten bedrängt von ockerfarbenem Sand. Erst die Flussfinger, dann den Arm hinauf.

Das Geheimnis ist nicht im Raum, es ist in der Zeit beschlossen.

In den Jahrtausenden, die im einen oder anderen Fundstück aufblitzen. Die Ursprünge liegen – wie meistens – im Dunkeln. Verworrenes, Durchscheinendes und sich wieder Verwirrendes.

Namen wie Pflöcke in den Strom des Erinnerns gerammt. Imhotep, Cheops, Hatschepsut, Echnaton, Tutanchamun. Einige davon noch immer anwesend als gedörrtes Fleisch mit Haaren und Zähnen. Reste, kompakt genug, um geröntgt, tomographiert, obduziert zu werden. Keine Wiederauferstehung in Schönheit, bloß verschrumpelte Zeugenschaft dessen, was einmal gewesen ist. War es das?

Die Sprache der Bilder, der Schriftzeichen, der Artefakte. Die Vorstellung hat die Stellung bei weitem überdauert. Die gemalten Gesichter auf den Mumiensarkophagen haben sich nicht verändert. Die, denen sie ähnlich waren, sind in ihre Schädel zurückgeschrumpft, somit unkenntlich geworden.

Ägypter, Libyer, Nubier, Äthiopier, Perser, Griechen, Römer, Byzantiner, Kopten, Araber, Mystiker und Schiiten wie die Fatimiden, die Kairo gegründet und darin auffällige Spuren hinterlassen haben, nach zweihundert Jahren abgelöst von Ayyubiden, Khediven, Nasseristen … in sunnitischer Reihenfolge bis zur Gegenwart, die Umm Kulthum, Nagib Mahfus, Omar Sharif und Ayman al-Zawahiri heißt.

Weißgraue Wolken sieben das Licht, in dem Kairo erscheint. Allenthalben Erleichterung, als die Maschine zum Stillstand kommt. Nacheinander klicken die Sicherheitsgurte, als klinkten die Passagiere sich mit Nachdruck aus einer anderen Welt aus. Der Übergang ist vollzogen.

Viele junge und jüngere Männer, teils in Uniform, teils in Zivil, Zöllner, Polizisten, Bankbeamte, Reinigungspersonal, Reisende. Arabisch ist eine Sprache, die lauthals ertönt, auch dann, wenn gerade kein Muezzin zum Gebet ruft. Es wird von der Kehle her und mit großer Bestimmtheit gesprochen. Und während ich in der Schlange stehe, um das Land meiner Wahl betreten zu dürfen, fällt mir ein, dass ich die Nummer von Lamis nicht gespeichert habe. Macht nichts, sie weiß, wann ich ankomme.

Draußen schlägt mir ungewohnt warme Luft entgegen. Im Taxi ziehe ich das extra Paar Socken aus und lasse es in meiner Handtasche verschwinden.

In dem bepflanzten Streifen zwischen Einfahrts- und Ausfahrtsstraße sind die Sprinkler noch immer eingeschaltet. Unter den Palmen wächst indisches Blumenrohr sowie blutfarbene Blattpflanzen, für die mir der Name fehlt. Die meisten Büsche sind auf Wagenräder, Ei- und Kugelformen zurückgetrimmt. Dazwischen leuchten das Lila und das Violett von Judasbaum und Bougainvillea auf. Später, von der Hochstraße aus, fällt der Blick in verschattete Häuserschächte, aus denen Palmbüschel ragen oder die Kronen von Ficus nitida, wie Gemüse in Gärten aus Luft. Ich erinnere mich noch an ein Kairo ohne Stelzenstraßen, als Eselskarren gegen die Einbahn unterwegs waren und sich niemand daran stieß. Ende der siebziger Jahre. Mehr als die Hälfte der heutigen Bevölkerung war damals noch nicht einmal geplant. Und ein Ausflug nach Gizeh hatte den Charme einer Landpartie.

Als ich das erste Mal allein in Kairo unterwegs war, blieb ich immer auf derselben Seite, aber irgendwann musste ich die Straße überqueren. Ich wartete und wartete. Plötzlich war da eine fremde Hand, die die meine berührte. Wir bildeten für kurze Zeit eine zweigliedrige Kette und zwängten uns zwischen den Autos hindurch. Der Blick der jungen Frau streifte mich nur flüchtig im Auseinandergehen.

Ich schlenderte noch eine Weile am Nilufer entlang und schaute in den Fluss, dessen Wasser man trinken sollte, um wiederzukommen. Ein Wagnis, das mir als zu groß erschien, um danach überhaupt noch irgendwohin zu kommen.

Ab einem gewissen Alter sind die Lieben alle geliebt, heißt es. Man lässt sich auf Vergangenheit ein und stochert wie die Lumpensammler auf den Müllbergen von Kairo in den nicht aufgegangenen Geschichten ohne Mitte herum. Mit langem Ibisschnabel, der möglichst weit hineinreicht in all das Abgelegte, Abgenagte und Abgelebte, das da in der Sonne bleicht. Nach lauter Geschichten ohne Mitte in einer Endlosschleife von Schicksalen.

Was aber hätte in die Mitte gehört? Jahre der Gewöhnung? Kinder? Kühler werdende Nächte? Familienpolitik? Nicht gerade das, was einen scharf macht auf diese Mitte. Und doch hört die Suche danach, wie sie hätte gewesen sein können, nie auf.

Auch Lamis’ Geschichte hat keine Mitte, zumindest keine, die ich kenne. Ich kann sie in die Grundschule gehen sehen, als kleines Mädchen, das sechsmal in der Woche in den Bus steigt, nachdem es die Eiermilch, auf der seine Mutter besteht, heimlich ins Klo geschüttet oder dort wieder ausgekotzt hat.

Eine junge Ägypterin in einer deutschsprachigen Schule. Die noch immer kleine Lamis in einer großen europäischen Schule, in die sie gerne gegangen ist. Ihre beste Zeit, wie sie sagt, was Freundschaften angeht. Lebensbegleitende. Mir scheint, dass sie noch immer in diesen Zusammenhängen lebt. Wo aber ist die Mitte geblieben?

Wenn sie von ihrer Zeit an dieser Schule erzählt, ist Lamis ein Mensch mit Bindungen. Gelegentlich fällt der Name Abbas. Aber Lamis hat ihre Abbas-Geschichte nie erzählt. Wahrscheinlich weil es eine Geschichte ohne Mitte ist, vielleicht sogar ohne Ende. Eine anfängliche Geschichte, die es nie ins Erwachsenenalter geschafft hat.

Als wir zusammen in Alexandrien waren und durch die Gasse der Ersatzteilhändler fuhren, hatte Lamis sich nur mit Mühe beherrschen können, nicht nach guterhaltenen Stoßstangen für ihren alten ägyptischen Fiat zu suchen, mit dem sie in Kairo unterwegs war. Aber wahrscheinlich wäre es ihr peinlich gewesen, vor den Augen des Fahrers, mit dem wir gekommen waren, im Altmetall zu wühlen.

Während ich noch die vielen kleinen Statuen des Gottes Bes im Kopf hatte, die das ägyptische Haus beschützten. Ein Gott in Zwergengestalt, der über Liebe, Ehe und Geburt wachte und mit seiner Hässlichkeit die bösen Geister abschreckte. Dazu die alte Geschichte, dass die gedrungensten Männer über die größten Geschlechtsteile verfügen.

Da war auch ein Übergang, der Übergang schlechthin, Kom El-Shuqafa, die Katakomben. Wir stiegen auf niedrigen, ausgetretenen Steinstufen eine Spirale hinunter, umgeben von jahrtausendealtem Tod. Römisches, griechisches, pharaonisches Gestorbensein, Schiebegrab um Schiebegrab. Versteinerte Überlagerungen. Ein Raum zum Verzehren des Leichenmahls. Säulen mit Papyruskapitellen, Pylonen als bärtigen Schlangen, die den Kiefernzapfen des Dionysos und den Stab des Hermes tragen sowie die ägyptische Doppelkrone. Griechische Sarkophage und davor Anubis als römischer Soldat verkleidet samt einem anderen Gott mit Hundekopf und Krokodilsgliedern, die beide Wache halten. Je tiefer, desto älter. Am ältesten aber ist das Grundwasser.

Ich bekam eine Gänsehaut und wollte umkehren.

Keiner der Sarkophage wurde je benutzt, sagte Lamis, und ihre Locken ringelten sich wie die Schlangen auf dem Kopf der Medusa. Alles nur zum Schein.

Ich falle immer öfter in den Schacht der Zeit und greife auf Geschichten zurück, die nicht nur keine Mitte haben, sondern nicht einmal Geschichten sind. Lose Anfänge und lose Enden, die sich irgendwo in der Tiefe der Jahre verlieren. Anleihen hier – Anleihen dort. Für dazwischen fehlt der Tonträger, fehlen Bildmaterial und der Eindruck, den etwas auf der Zunge hinterlassen hat.

Ich wende mich an Thot, der sich die Hieroglyphen ausgedacht hat, vielleicht auch die ganze Welt, an den Gott mit dem Ibiskopf, der gelegentlich als Affe auftritt.

Gib mir einen Hinweis! Wie hast du es bloß angestellt, die Sonnenkatze nach Memphis zurückzuholen? Die so wütend werden konnte, dass ihr Rücken zu glühen und ihr Fell zu rauchen begann. Mit welchen Geschichten hast du sie auf den Weg gebracht, mit welchen Kunststücken in der Gestalt des Kätzchens festgehalten? Die doch jederzeit zur Löwin werden konnte? Gib zu, du hast auch getanzt vor ihr, dich zum Narren gemacht, um sie zum Lachen zu bringen. Und du hast moralisiert, Götter dürfen das, Schreiber nicht.

Lamis, Ibis und Abbas. Dieser Titel wird mir noch das Genick brechen, sagte ich bei meinem letzten Besuch.

Nimm einen anderen, erwiderte Lamis.

Es ist unsere Geschichte, deine, meine und die von Abbas.

Von welchem Abbas?

Das ist das Problem.

Wenn es unsere Geschichte ist, was ist dann das Problem?

Dass wir keine gemeinsame Geschichte haben.

Und Ibis?

Thot mit dem Ibiskopf.

Der Schreiber?

Es geht schließlich ums Schreiben.

Aber welcher Abbas?

Einer, der weit zurückliegt, wahrscheinlich zu weit.

Dann schaff den Sand weg. Du musst blasen oder kehren. Man merkt immer gleich, dass Lamis in Wien studiert hat.

Wie soll ich ihn denn wiedererkennen, den Abbas von seinerzeit?

Indem du ihn beschreibst.

Ausgesprochen hochgewachsen, mit grünen Augen und einer Pockennarbe auf dem linken Wangenknochen. Oder war sie rechts? Eine Pockennarbe wie ein an derselben Stelle mehrfach aufgedrückter Stempel, dessen Konturen sich übereinandergeschoben haben, so dass sie unleserlich geworden sind.

Grüne Augen?

Nein, nicht Abbas. Grün waren die Augen seines Freundes, der ihm wie ein Schatten folgte. Sie wohnten zusammen, als sie seinerzeit in Wien studierten, Abbas Hoch- und Tiefbau, sein Freund Pharmazie. Die Augen von Abbas waren braunschwarz, von dichten schwarzschwarzen Wimpern umrandet, wie mit Kajal nachgezogen. Auch sein Haar war schwarz und zu kurz geschnitten, als dass man sagen hätte können, es sei lockig gewesen. Das Haar seines Freundes war glatt, länger und glatt, an den Enden aufgebogen wie die Schwanzfedern eines Erpels.

Wie hieß dieser Freund?

Weiß ich nicht mehr.

Würdest du ihn wiedererkennen? Es gibt nicht so viele Menschen mit grünen Augen in Ägypten.

Mit nilgrünen Augen.

Der Nil ist schlammfarben.

Jedenfalls war er der Auffälligere. Und ohne Pockennarben. Ein bisschen Akne vielleicht oder die Schnittspuren einer Nassrasur. Aber das war nicht Abbas.

In Wien, sagst du?

Es war Winter und sie trugen Dufflecoats. Wenn es kalt wurde, wickelten sie sich einen Schal um die Nase und zogen die Kapuze über die Ohren. Zwei Ägypter im Schnee.

Was für ein merkwürdiges Wort: seinerzeit. Nur unsereiner ist noch merkwürdiger. Wessen Zeit kann damit gemeint sein? Eine Zeit, die nach Menschen benannt ist? Eine Augusteische, eine Napoleonische, eine Metternichsche Zeit? Oder eine Zeit der neuen Abbassiden, junger Männer namens Abbas, die im letzten Jahrhundert in Wien studiert haben?

Wer hatte damals nicht alles in Wien, Graz, Leoben und Innsbruck studiert. In den Gängen der Hochschulen wurde viel Arabisch, Türkisch, Persisch und Griechisch gesprochen, und die Vermieterinnen wurden sogar ihre Substandardzimmer los. Aber bitte keinen Damenbesuch! Und drückten dann doch ein Auge zu. Was die Völkerverständigung vorantrieb. Die Zeit war noch nicht reif für einen neuen Rassismus, und der alte versuchte gerade, sich in seiner Unterschwelligkeit einzurichten.

Hast du genügend warme Sachen dabei? Die Standard-Frage. Lamis wirft einen skeptischen Blick auf meinen Koffer. Das Wetter ist unbeständig, am Tag schon warm, wenn nicht gerade ein kalter Wind von der Wüste her weht. Nachts klirren dann die Sterne.

Diesmal ist es März, der Frühling fängt bald an. Die erste Ernte wird demnächst eingefahren.

Wart es ab, sagt Lamis. Du wirst schon noch sehen, wie du frierst.

Ich habe sogar einen Mantel mit. Wie schon oft, hat mir die Vorstellung einen Streich gespielt, dass es in Ägypten um diese Zeit warm zu sein hat.

Das nennst du Mantel? Das ist nur ein Regenschutz. Denk an Alex, und wie du damals sogleich Halsschmerzen bekommen hast und bei Abou Ashraf kaum schlucken konntest.

Abou Ashraf war ein Fischrestaurant, von dem Lamis, während wir durchs Delta fuhren, schwärmte. Ich hatte mir etwas mit Blick aufs Meer vorgestellt, aber es war ein Schluf, mitten in der Stadt, mit einem weißgrünen Zeltvorhang. Es gab Plastikteller mit Restaurant-Aufdruck, und über dem Schluf, zwischen den angrenzenden Häusern, hing eine giftgrüne Abdeckung aus Wellplastik.

Ich hatte tatsächlich Halsschmerzen. Weniger von der Kälte als von der Kairoer Luft, an die, schwer von Metallen und dem Ausstoß von Millionen Herden und Auspuffrohren, meine Kehle sich erst wieder gewöhnen musste. Nicht einmal die salzige Luft an der Corniche wollte helfen.

Da fahre ich extra mit dir nach Alex, damit du erfährst, wie ein ordentlicher Fisch zu schmecken hat, und du bringst kaum etwas runter.

Die Fische bei Abou Ashraf rochen leicht nach Holzasche und waren von so zartem Fleisch, dass ich die Halsschmerzen bald vergaß. Dazu gab es eine Paste aus gemahlenen Sesamkörnern und Olivenöl, die den Gaumen streichelte. Nur den Salat schenkte ich mir, des Essigs wegen.

Auf der Rückfahrt von Alex nach Kairo machte Lamis mich auf die weißgekalkten Taubenschläge aufmerksam, die aus den Höfen der Landsitze wie Wahrzeichen in den Flachlandhimmel ragten. Die Einfluglöcher bildeten ein Muster, das als Verzierung erschien, mit terrakottafarbenen Pinselstrichen sparsam akzentuiert. Tauben werden überall in Ägypten gegessen.

Wir hielten an, um Tee zu trinken und ein paar Schritte zu machen. Da war ein kleiner Zoo, der die Vorbeifahrenden zur Rast einlud. Zwei traurige Paviane hockten auf einem abgeschnittenen Ast in ihrem Käfig. Plötzlich geriet ein Papagei mit abstehenden Kopffedern in Panik und attackierte kreischend das Gitter seiner Volière. Das Krokodil lag nicht in seiner Pfütze oder hatte sich so gut getarnt, dass wir es in der schlammigen Brühe nicht ausmachen konnten.

Eine Schulklasse kam uns entgegen, kleine Mädchen zwischen acht und zehn. Als Lamis etwas auf Deutsch zu mir sagte, begrüßte jedes mich einzeln, wollte wissen, woher ich kam und wie es mir ging. Sie alle hießen mich in Ägypten willkommen und sagten ein paar Worte auf Englisch. Einige von ihnen gaben mir sogar zweimal die Hand, einmal zur Begrüßung und einmal zum Abschied.

Den Löwen bemerkten wir erst, als wir wieder ins Auto stiegen. Er schien harten Stuhlgang zu haben und drückte und drückte mit dem Rücken zu den Besuchern, bis sich endlich ein paar Kotkügelchen lösten und er sich erleichtert zu Boden warf. Gleich darauf kamen ein paar Kieselsteine geflogen, offensichtlich wollte sich das Publikum vom König der Tiere nicht ignorieren lassen.

Langsam entspanne ich mich. Nach einem Flugzeugsitz erscheint jeder Autositz bequem. Und überlege, ob ich den Fahrer, der mich vom Flughafen nach Agouza bringt, bitten soll, wenigstens eines der Fenster zu schließen. Von wo ich herkomme, hat man panische Angst vor Zugluft. Er ist Kopte, ich kann es an dem Medaillon um seinen Hals erkennen.

Das Museum ist noch immer gesperrt, hat Lamis mir gemailt. Entweder haben sie kein Geld für die Neugestaltung, oder es laufen ihnen die Handwerker davon.

Wir hatten Glück gehabt, damals vor fünf Jahren. Ein paar Tage nach unserem Besuch wurde es geschlossen. Wegen Renovierung, wie es hieß. Auf dem Weg dorthin bin ich zum ersten Mal in Kairo U-Bahn gefahren. Klaustrophobisch, murmelte ich, wie zur Verteidigung. Lamis hörte es nicht oder wollte es nicht hören.

Alles an dieser U-Bahn ist perfekt, sagte sie und schob mich ins Wageninnere.

Unzählige Gesichter, Leiber, Bruchstücke von Sätzen, die mir allesamt zu nahe kamen. Beim Umsteigen hielt ich mich an ihrem Arm fest und schloss die Augen. Im anderen Wagen konnte ich die Beschleunigung förmlich riechen und machte mich so klein wie möglich, um ein wenig Raum um mich zu schaffen.

Wir hatten einen Blick auf das Ende des Apokryphons des Johannes- und auf den Anfang des Thomas-Evangeliums werfen können, nämlich auf die Originale, die man gegen Ende des 4. Jahrhunderts in Nag Hammadi verscharrt und 1945 dortselbst wieder aufgestöbert hat. Rein zufällig.

Leider durfte ich den Finger nicht darauf legen. Nicht einmal auf das Glas, unter dem die ausgefransten Schriftseiten lagen. Don’t touch! Es juckte mich, wenigstens den Frosch auf einer Lampe aus gebranntem Ton, Symbol der Wiederauferstehung des Fleisches, zu berühren, wie Thomas die Wundmale seines Herrn berührt hat, widerstand dann aber der Versuchung.

Die Kopten sind die eigentlichen Nachfahren der Ägypter, sagte Lamis, auch wenn wir inzwischen alle Araber sind.

Aber die Sprache gibt es noch?

Ja natürlich. Und nur deshalb konnte der schlaue Champollion die Hieroglyphen entziffern. Er unternahm es, Koptisch zu lernen, weil er einen Zusammenhang mit dem alten Ägypten vermutete. Ja er führte in dieser Sprache sogar ein Tagebuch. Plötzlich hatte er eine Eingebung, worauf er die Entzifferung über das Koptische versuchte. Und stell dir vor, es hat funktioniert.

Ich hatte geglaubt, auf einem der gewebten Stoffe das Gesicht von Abbas zu entdecken, die schwarz umrandeten Augen und die kurze Frisur, die Locke für Locke nachgestickt war oder gewirkt, jedenfalls deutlich wahrnehmbar. Nur das Diadem stammte aus einem anderen Zusammenhang.

Um uns nicht vollkommen zu erschöpfen, tranken wir zwischendurch Tee auf dem Platz vor dem Museum.

Hast du Aufruhr der Engel von Anatole France gelesen? Der Tee wurde in Gläsern serviert, und man konnte dem Zucker beim Schmelzen zusehen.

Ich schüttelte den Kopf.

Du kennst also Satans erhabenen Traum nicht? Und wie er nach dem Erwachen auf die Eroberung des Himmels verzichtet? Denn Krieg erzeugt Krieg und Sieg Niederlage. Der besiegte Gott wird zu Satan, und der siegreiche Satan wird zu Gott! Und so weiter und so fort, wie bei den Israelis und den Palästinensern.

Ein paar Tage später hatten wir uns in aller Früh zum Kloster des hl. Antonius aufgemacht, durch all die Braun- und Rosatöne, die sich an den Rändern der Wüste zum Weißblau des Himmels hin lichteten. Jenseits des Fahrstreifens hoben und senkten sich in mehreren Böen Papier- und Plastiksäcke. Nur die Palmen und die Kirchturmspitzen überragten die Klostermauern. Der Fahrer stellte den Wagen in den Schatten und legte sich auf die beiden Vordersitze, um ein wenig zu schlafen. Äußerlich und innerlich wehrhaft, hatten die Ordensbrüder ein eigenes Versteck für die Hostien und den Wein im Fall eines Überfalls.

Die Zahl der Mönche hatte in den letzten Jahren stark zugenommen. Sie sahen apart aus in ihren schwarzen, gelbbestickten, enganliegenden Kapuzen und den knöchellangen schwarzen Kutten. Man konnte sie in kleinen Gruppen übers Areal gehen sehen. Trafen sie aufeinander, begrüßten sie sich ausführlich mit Verbeugungen und Küssen, schwatzten miteinander und verabschiedeten sich wieder mit Verbeugungen und Küssen.

Endlich hatte Lamis den Mönch gefunden, den sie von früher kannte. Sie ging auf ihn zu, er blieb stehen, hochgewachsen, gutaussehend und schlank.

Lamis, kleingewachsen, gutaussehend und rund, sprach zu ihm empor, er beugte sich zu ihr herab. Von Ferne sahen sie aus wie Halbmond und Stern.

Mir fiel die Geschichte von Hylarion beziehungsweise Hylaria wieder ein, die mir ein Mönch in Wadi Natrun erzählte. Hylaria war eine Tochter des Kaisers von Byzanz, die von zu Hause weggelaufen und als Hylarion Mönch in Wadi Natrun geworden war. Sie, das heißt er, hatte die Gabe zu heilen und heilte die eigene Schwester vom Wahnsinn, indem er sie mit in seine Zelle nahm, sie küsste, mit ihr betete und sie auf solche Weise beruhigte.

Als der Kaiser davon erfuhr, drohte er, die Klöster von Wadi Natrun zerstören zu lassen, dermaßen empört war er über den küssenden Mönch. Daraufhin reiste Hylarion nach Byzanz, um Gnade zu erflehen, und entdeckte sich der Kaiserin, seiner Mutter, als Hylaria. Danach lebte er (sie) weiter, unerkannt, in Wadi Natrun. Erst bei seinem (ihrem) Tod fanden die Mönche heraus, dass ihr Mitbruder eine Frau gewesen war. Der Kaiser von Byzanz war zum Begräbnis seiner Tochter angereist, erzählte den Mönchen ihre Geschichte und entsandte Truppen zum Schutz der beiden Klöster gegen die Berber.

Lamis hat eine Schwäche für koptische Mönche. Hättest du Lust, als Hylarion eine Weile mit ihnen zu leben? Lamis hatte mich angesehen, als zweifle sie an meinem Verstand.

Die Jüngeren sehen fast alle gut aus. Wäre doch reizvoll, oder?

Du immer mit deinen Anzüglichkeiten.

Ich könnte es mir ohne weiteres vorstellen. Und plötzlich bringen sie dich, damit ich dich vom Wahnsinn heile.

Schon gut, schon gut. Vergiss bloß nicht, dass du nicht die Tochter des Kaisers von Byzanz bist.

So weit war das Rote Meer nicht entfernt, dass es sich nicht

gelohnt hätte, schwimmen zu gehen. In einem der Strandzelte konnten man sich umziehen. Der Eintritt war hoch und an Konsumation gebunden, dafür standen ein paar Sicherheitsbeamte herum und behielten alles im Auge.

Im Wasser tobten Kinder im schulpflichtigen Alter, die Augen rot vom Salzwasser, in dem sie sich mit viel Gekreisch und Gekicher gegenseitig untertauchten. Einige der älteren Schwestern stapften in bodenlangen Kleidern und mit Kopftüchern zwischen den Wellen hin und her. Durch die nassen Gewänder zeichneten sich ihre Körper mitsamt den keimenden Brustknospen deutlich ab.

Wir blieben nur gerade so lange, wie man braucht, um in dem von einer Brise aufgerauten Meer ein paar Tempi zu schwimmen. Der Wind nahm zu, und Lamis beklagte sich über losgerissene Algenstränge und sonstige Trübungen des Wassers, vor denen ihr grauste.

Auf der Rückfahrt waren wir wieder bei den aufrührerischen Engeln angelangt, die über Jahre hin auf Paris herabgeregnet waren, alle Arten von Engeln, Cherubim, Seraphim, Throne und Mächte, Erzengel und einfache Schutzengel. Sie sollten sich zur Wiedereroberung des Himmels rüsten, auch wenn einige von ihnen inzwischen ein schlichtes Leben in menschlichen Zusammenhängen vorgezogen hätten und persönlich ihren Frieden mit Jaldabaoth, dem großkotzigen alten Demiurgen, gemacht hatten.

Das Buch war ursprünglich 1914 in Paris erschienen, kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Wer war da mit Jaldabaoth gemeint? Kaiser Wilhelm oder Kaiser Franz Joseph? Oder ganz jemand anderer?

Denkst du, dass die Engel für die jungen Abbasse standen, die damals schon nach Europa oder Amerika zogen, weil sie wussten, dass in ihrem Himmel etwas faul war, vor allem, dass er nicht für sie bestimmt ist?

Das wäre zu einfach gedacht.

Und warum?

So interessant die Idee von Satan, der sich plötzlich in Jaldabaoth erkennt, auch sein mag, wer verzichtet da am Ende worauf? Und wie glaubhaft ist die Geschichte des Friedens, solange Michael sein Schwert schwingt?

Ich dachte, du magst Engel, die sich im Getümmel des Aufruhrs behaupten.

Im Gegenteil, ich mag dieses Buch, weil es den Krieg in die Gemüter der Engel und Engelinnen verlegt und Satan klarmacht, dass sie, die himmlischen Geister und erhabenen Dämonen, ihren Tyrannen Jaldabaoth erst dann besiegt haben werden, wenn es ihnen gelungen ist, die Furcht und die Unwissenheit in sich selbst zu vernichten.

Amen, sagte ich und bekreuzigte mich.

Die Kopten sind auch nicht besser, hatte Katrin am Abend, nachdem ich vom Antonius-Kloster zurückgekommen war, behauptet. Damals wohnte ich bei ihr in Zamalek. Sie arbeitete an der Botschaft, betreute meine Vortragsreise, erstellte Routen und sorgte dafür, dass ich überall zeitgerecht hinkam. Sie war mit einem Levantiner aus dem Libanon verheiratet, der in Oxford das College besucht hatte. Seine Mutter war Engländerin und hatte ihn jahrelang am Klavier unterrichtet. Er sah aus wie Alec Guinness, und als er herausfand, dass ich gerne Granatapfelkerne aß, löste er mir zum Frühstück immer welche aus. Er war das Abbild eines britischen Gentleman, nur wenn er über Politik sprach, vor allem über nahöstliche, konnte er drastisch werden.

Ich fragte Katrin, wie sie das mit den Kopten gemeint habe, und da sie sich noch immer einer mädchenhaften Sprache bediente, deutete sie bloß an, dass auch die Kopten ihre Frauen beschneiden ließen. Inzwischen täten sie es aber immer seltener, da das Gerücht ausgestreut worden war, es handle sich dabei um einen muslimischen Brauch. Ein Argument, das zu greifen schien.

Und was sagt dein Mann dazu?

Er ist Christ, sagte sie, aber nicht Kopte.

Und Lamis?

Ist auch keine Koptin. Sie interessiert sich nur für alles Koptische.

Später hatte Lamis mir zum Abschied eine CD mit koptischen Hymnen gebrannt. Dem Beipackzettel des Originals war zu entnehmen, dass diese Hymnen 2000 Jahre lang von der koptischen Kirche bewahrt und im Gedächtnis behalten worden waren, vornehmlich von blinden Sängern, da Blinde ein besseres Merkvermögen hätten und sich leichter täten, die Texte der insgesamt mehr als 575 Hymnen auswendig zu lernen, die noch pharaonische Wurzeln hätten. Eine Zeitlang hörte ich sie mir immer an, wenn ich bügelte. Meine Finger wärmten sich an der Arbeit und mein Herz am Chorgesang der Mönche.

Nächstes Mal wohnst du bei mir, hatte Lamis gesagt, als ich sie zum ersten Mal in ihrer Wohnung in Agouza, einem Stadtteil westlich des Nils, besuchte. Sie zeigte mir das Gästezimmer, das einstweilen als Abstellkammer diente. Sie hatte die Tür bloß einen Spaltbreit geöffnet, so dass ich nur Körbe voller Bügelwäsche sah und die Stoffe, aus denen sie Vorhänge nähen wollte.

Es war eine Wohnung wie auf einem Zauberberg, hoch oben im 13. Stock, mit Blick auf die umliegenden Dachlandschaften, auf denen sich die Wüste wieder einnistete. Die meisten der Flachdächer schienen nicht oder nur spärlich bewohnt, und die Stürme schleppten genügend Sand herbei, um eine fahle Dünenlandschaft entstehen zu lassen, aus der Parabolantennen in derselben Ockerfarbe wuchsen, riesigen überirdischen Pilzen gleich, deren Kappen der Wind nach außen gestülpt hatte.

Die Südwestseite bestand aus einer Reihe von Schiebefenstern mit einer Extension davor, einer gewagten Stahlkonstruktion, die mit Schilfmatten ausgelegt und von einer Markise beschattet war. Sie durfte gerade noch betreten, nicht aber bewohnt werden.

Lamis’ geheimer Garten mit Töpfen voller Oleander, Kakteen und Christusdorn, der auf Arabisch Höllenblume heißt und erst zu blühen beginnt, wenn man aufhört, ihn zu gießen. Damit der Wind die Töpfe nicht zu sehr austrocknet, hatte Lamis Bewässerungsschläuche gelegt, die täglich um drei Uhr nachmittags zu tröpfeln begannen.

Damals hatte sich zum ersten Mal diese zimtfarbene Taube unterm Sonnensegel eingestellt, die einerseits mit schief gehaltenem Kopf auf die Wassertropfen spähte und uns andererseits misstrauisch betrachtete. Lamis hielt sie für ein schlechtes Omen, da sich der Tod ihres Vaters vor Jahren ebenfalls durch eine Taube angekündigt hatte. Hinzu kam, dass wir gerade mit Reis gefüllte Tauben aßen, die Lamis aus einer Taubenbraterei hatte kommen lassen. In diesem Zustand ähnelten sie jedoch gegrillten Fledermäusen.

Das ist eine Wildtaube, die aus dem Jemen kommt. Lamis deutete auf die schöne Zimtfarbene, die mit ihrem schwarzen Halsband am ehesten einer Türkentaube glich.

Diese Tauben werden nicht gegessen. Es klang wie eine Botschaft an das schlechte Omen.

Ich hatte schon damals meinen Platz auf der Sitzbank vor den Schiebefenstern gefunden, und während wir Tee tranken und dazu etwas Süßes aus Nüssen aßen, das in weichem Zuckergelee steckte, entdeckte ich das rosa Haus mit den weißen Fensterrahmen samt den lindgrünen Stuckschabracken, und während ich es immerfort anstaunte, verwandelte es sich in einen Feenpalast, der – für alle anderen unsichtbar – inmitten dieser ockerfarbenen Wohnblöcke, allein und auf sich gestellt, in seiner eigenen Geschichte lebte.

Es war November, und die Sonne ging zeitig unter. Eine Viertelstunde bevor der Gebetsruf ertönte, begannen die Ibisse aufzufliegen, um die Eukalyptusbäume am Rande des Zoologischen Gartens noch vor Einbruch der Dunkelheit zu erreichen. Es war nicht zu erkennen, von welchem Tagesaufenthalt sie sich für die Nachtruhe trennten, doch mit einem Mal erfüllten sie den Luftraum über den Dächern, und mir schien, dass sie alle aus dem rosafarbenen Haus aufflatterten, so als habe jemand an der Rückseite eine Dachluke geöffnet, aus der nun unzählige Ibisse aufstiegen, die sich alle in den großen Schwarm einfügten und in dieselbe Richtung davonzogen.

Von da an dachte ich, wann immer ich an Kairo dachte, auch an das rosa Haus und die weißen Ibisse, die zu ihren Schlafbäumen flogen. Von Zeit zu Zeit tauchte das rosa Haus sogar in meinen Träumen auf.

Vor eineinhalb Jahren hatte ich in einem Hotel in Zamalek gewohnt, weil Katrins Mann bereits schwer erkrankt war und zu Hause gepflegt wurde. Sie hatte für mich im Florestan gebucht, das einer Ägypterin gehörte, die längere Zeit in Deutschland gelebt hatte. Ich bezog ein Zimmer mit einem pompösen Doppelbett mit Seidenüberwurf und einem duftenden Liliengesteck, das vor einem Spiegel auf einem schwarzlackierten Sideboard stand. Die vier Wände waren jeweils in einer anderen Farbe gestrichen, und die Nachttischlampen verfügten über zwei Birnen und zwei Schalter. Es war das Zimmer, in dem der Vater der Besitzerin bis zu seinem Tod gelebt hatte.

Katrin war gleich nach meiner Ankunft mit einer österreichischen Freundin vorbeigekommen, um sich von der Angemessenheit des Zimmers zu überzeugen. Ihre Freundin hatte acht Jahre in Kairo Deutsch unterrichtet und ein neuntes lustvoll, wie sie betonte, in der Stadt vertrödelt. Nun unterrichtete sie in Brasilien und war auf Kurzurlaub in Kairo, weil sie Kairo liebte.

Wieso ausgerechnet Kairo?

Sie lächelte nachsichtig. Warum nicht? Spätestens wenn man gelernt hat, ein Auto durch diese Art von Verkehr zu lenken, fängt man an, Kairo zu lieben.

Gleich darauf kam Lamis. Wie Katrin trug auch sie ein dickes Tweed-Sakko und dazu einen Schal. Sie roch nach Zitronenverbenen, und während wir so dasaßen und uns, ein wenig befangen, gegenseitig auf Veränderungen hin abtasteten, spürte ich, wie die Temperatur mit dem Dunkelwerden schlagartig abfiel. Es tat mir schon leid, dass ich nicht auch so ein dickes Sakko mitgebracht hatte, sondern nur einen leichten Staubmantel, der mich vor Wind und Regen, nicht aber vor nächtlicher Kälte schützen würde. Aber wann regnete es schon in Kairo.

Ich zeige dir die Stadt bei Nacht, sagte Lamis, und von oben. Von ganz oben.

Sie bestand darauf, dass auch ich einen Schal nahm, und als ich wissen wollte, wohin wir gehen würden, murmelte sie, Überraschung.

Sie hatte ein dickes Kissen auf dem Fahrersitz liegen und fuhr, wie man in Kairo fährt, im Vertrauen auf den Überlebenswillen der Menschen, scharf beobachtend, andauernd hupend, die Körpersprache der anderen entschlüsselnd, und dabei noch imstande, sich mit mir zu unterhalten.

Mir wurde bald klar, dass sie mich ins kürzlich neu eröffnete Grand Hyatt, das ehemalige Meridian, das unmittelbar am Nil liegt, einladen wollte, was mich verwunderte, da sie ansonsten eher kleine Restaurants in Bodennähe vorzog. Es musste etwas Besonderes sein, worauf sie mich aufmerksam machen wollte.

Während sie sich mit ihrem alten Fiat in Haarnadelkurven zum vierten Deck der Tiefgarage hinunterzwängte, stellte sie mit Befriedigung fest, dass sich die entgegenkommenden Männer in ihren Limousinen vor ihr ängstigten. Offenbar bangten sie um Lack und Karosserien.

Ich schlitterte übergangslos in die fatalistische Phase. Selbst als der Lift in den vierzigsten Stock hinaufstob, rührte sich nichts in mir als der Magen.

Als wir am Gipfel des Hotelfelsens angekommen waren, bei den Lichtschnüren des Foyers von The Revolving Restaurant, spürte ich eine gewisse Erleichterung und hatte nicht einmal das Gefühl, auf schwankendem Grund zu stehen.

An der Decke des inneren Kreises drehten sich glitzernde Himmelskörper, die aus verschiedenfarbiger Perlenstickerei gefertigt schienen und eher spießig wirkten. Auch war die Beleuchtung viel zu schummrig, um Lust aufs Essen zu machen.

Das ist, damit man die Lichter der Stadt besser wahrnimmt, sagte Lamis.

Wir hatten uns fast vier Jahre nicht gesehen, und wie immer in einer solchen Situation wollten wir alles auf einmal voneinander erfahren. Es hatte sich vieles aufgestaut in dieser Zeit, war aber noch zu gut verpackt und abgelegen, als dass wir es sogleich zur Hand gehabt hätten. Das Zwiegespräch war noch nicht so recht in Gang gekommen. Und so schauten wir abwechselnd auf die Speisekarte und auf die gleißende, schattenspuckende Stadt zu unseren Füßen.

Der Turm von Zamalek, der bei Tageslicht aussah, als stecke er in einem rautenförmigen Styropornetz, wie es für Tafelobst üblich ist, kam seiner Funktion als Wahrzeichen widmungsgetreu nach. Auch auf ihm hatte es einmal ein sich drehendes Restaurant gegeben, doch als der Mechanismus kaputtging, hatte man das Restaurant Restaurant sein und den Turm einfach stehen lassen, als Zahn der Zeit sozusagen.

Die Lichter reichten bis zum Horizont, und das in allen Richtungen, in die wir uns nacheinander drehten. Die farbigen Glühbirnen über den Hausbooten entlang des Nils, die Clubs und Restaurants an den Ufern, die breiten Straßen, die die verschiedenen Viertel miteinander verbanden oder trennten, je nachdem, wie man es sehen wollte. Die überlebensgroße Ramses-Statue am Bahnhof, die Insel Zamalek mit ihren Villen im europäischen Stil, die Stadions … wir wurden gar nicht fertig mit dem Fingerzeigen auf alles, was wir da von oben wiedererkannten. Am südwestlichen Rand dann Gizeh mit Dutzenden von Scheinwerfern und Reflektoren. Dazu die Lichtspuren der nächtlichen Flugzeuge, die so etwas wie eine freischwebende Kuppel über der nächtlichen Stadt suggerierten.

Wir hatten Dorade mit Gemüse bestellt und dazu je ein Glas Weißwein, einen Pinot blanc mit dem Namen Obelisk. Selbst bei der barmäßigen Beleuchtung ließ sich erkennen, dass er die Farbe von Sherry hatte. So lag er dann auch auf der Zunge, allerdings wie gewässerter Sherry.

Dieser Wein schmeckt nicht nach Wein, sagte Lamis und ließ ihn zurückgehen, sehr zur verächtlichen Verwunderung der Kellner, denen es schon peinlich genug zu sein schien, zwei Frauen, die alleine gekommen waren, zu bedienen.

Lamis, die tapfere Lamis, verzichtete auf Ersatz, nicht ohne für mich ein Glas Cou de Ptolémeés zu ordern, der zwar ein wenig nach Weihrauch roch, aber zu dem Fisch passte. Lamis trank selten Alkohol, und wenn, dann nur in Gesellschaft von Europäern, sozusagen aus Höflichkeit.

Es war Donnerstag, der Ausgehtag vor dem arbeitsfreien Freitag, und das Restaurant begann sich zu füllen. Angeblich schlafen die meisten ein paar Stunden, bevor sie sich den Strapazen eines ägyptischen Mahls aussetzen.

Wir hatten das meiste ausgelassen, was zu einem solchen Mahl gehört, bis auf das Bananenparfait, das Lamis mit Nachdruck empfahl, offensichtlich hatte sie es schon probiert. Und während wir mit unter dem Tisch gekreuzten Beinen auf die Rechnung warteten, erkannte ich plötzlich Abbas. Es ging wie ein Riss durch meinen Körper, wie wenn man im Traum von der Gehsteigkante ins Bodenlose fällt.

Ich sah einen schlanken, hochgewachsenen Mann Mitte dreißig allein an einem der Tische unmittelbar an der vorderen Glaswand sitzen und war überzeugt, Abbas zu sehen. Sein Haar hatte bereits ein paar graue Strähnen, schien auch ein wenig länger als damals und wellte sich. Eine senkrechte Falte hatte sich zwischen seine Brauen gegraben, der Bart – nein, er trug keinen Bart, nicht einmal einen Schnurrbart. Von der Kopfform her war es eindeutig Abbas, selbst wenn ich die stempelförmige Narbe auf dem Wangenknochen vergebens suchte.

Der Mann musste meinen Blick gespürt haben, denn er wandte sich für einen Augenblick mir zu und hob leicht befremdet die linke Augenbraue. Sein weißer Hemdkragen schimmerte bläulich in dem stumpfen Neonlicht, und als er mit der Hand nach seiner Serviette griff, konnte ich einen Siegelring erkennen.

Um nicht aufdringlich zu erscheinen, richtete ich meinen Blick auf die Pflanzen an den Balustraden und Gesimsen. Überall, wo auch nur ein Topf stehen konnte, grünte und wucherte es, eine beharrliche Demonstration gegen die Wüste, die vor den Toren Kairos hockt und die niemand hereinlassen will.

Aus den Augenwinkeln wagte ich noch einen Blick auf den allein essenden Abbas. Die Erkenntnis stieg heiß in mir auf, dass dies nie und nimmer Abbas sein konnte. Abbas wäre doppelt so alt als dieser Mann, und er würde nicht wie Abbas aussehen. Schon gar nicht wie der Abbas, den ich gekannt hatte.

Was ist? Siehst du Gespenster? Lamis hatte inzwischen bezahlt und wartete darauf, dass der Kellner mit ihrer Kreditkarte zurückkam.

Ich bin nur müde und schaue ins Narrenkästchen.

Ins Narrenkästchen? Den Ausdruck muss ich mir merken.

Diesmal sind es bloß eineinhalb Jahre, dass wir uns zuletzt gesehen haben. Ich erkenne die Sharia Wadi el-Nil wieder, weiß, dass ich bald da sein werde, und rufe Lamis nun doch aus dem Taxi an, nachdem ich ihre Nummer in meinem Taschenkalender gefunden habe. Sie entschuldigt sich noch einmal dafür, dass sie mich nicht am Flughafen abgeholt hat, aber es werde so viel gebaut da draußen, dass sie orientierungsmäßig vollkommen verloren gewesen wäre.

Schon kann ich sie, umgeben von den Bawabs, auf der Außentreppe stehen sehen. Gleich darauf umarmen wir uns heftig, und die Bawabs tragen mein Gepäck zum Lift.

Die Befangenheit, die sich beim letzten Mal kurzfristig in den Vordergrund geschoben hatte, bleibt aus und macht einer Gerührtheit Platz, als Lamis mich in mein Zimmer führt und ich bemerke, mit wie viel Aufmerksamkeit sie es zurechtgemacht hat.