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Regina Schleheck

Der Kirmesmörder – Jürgen Bartsch

Biografischer Kriminalroman

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1. Auflage 2016

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © ullstein bild – dpa

ISBN 978-3-8392-5134-8

Paul

Als er zu sich kam, war das Erste, was er wahrnahm, der eigene Herzschlag. Er durchpulste seinen Körper derart mächtig, als wäre da nichts außer diesem einen Organ, das ihn vollständig ausfüllte. Poch. Poch. Poch. Jedem Schlag folgte ein Rauschen, das sich in Wellen ausbreitete, die Ohren betäubte und einen Schleier über sein Bewusstsein zog. Die Erschöpfung machte ihn weich. Seine Wahrnehmung gab nach, wich wieder, wie das Meer sich schäumend über den glatt gespülten Sand zurückzog, zwischen Körnchen, Muscheln und Treibgut versickernd, winzige luftige Bläschen zurücklassend, die eine nach der anderen lautlos zerplatzten. Wie ein tiefes, ruhiges Atemholen vor den nächsten und übernächsten Wellen. Die dennoch unerbittlich und immer brutaler aufbrandeten und nach und nach, Brecher für Brecher, wieder an die Oberfläche spülten, was sich dort unten am Meeresgrund verborgen hatte. Der Schmerz. Er komprimierte das, was einst sein Kopf gewesen sein mochte, zu einer kleinen glühenden Kugel. Pochen, Rauschen, Schmerz. Pochen, Rauschen, Schmerz.

Er wurde gewahr, wie sein eigener Atem sich durch diese geballte Wucht einen Weg bahnte, spürte die Nase, den Mund, taub und trocken, weil da etwas war. Ein undefinierbarer Pfropfen von weicher Konsistenz und saurem Geschmack, der entfernt an einen Apfel erinnerte. Weiter oben mussten seine Augen sein, aber er konnte nichts sehen. War er erblindet? Die Pein, die das nächste Pochen aus allen Regionen des Körpers in sein Bewusstsein spülte, verdrängte den Gedanken. Drei weitere Schmerzzentren meldeten sich: Arme, Beine, Unterleib. Dann kam die Erkenntnis. Schlag auf Schlag. Es war stockdunkel. Er war splitternackt. Lag an Armen und Beinen fest verschnürt auf einem kalten steinigen Untergrund, spürte Geröll und Feuchtigkeit unter sich. Die Luft roch modrig und es stank. Der brennende Schmerz, der in seinem Unterleib tobte, ließ ihn an Durchfall denken. Ich muss mich vollgeschissen haben, dachte er, ohne sich zu erinnern. Es fühlte sich feucht an da unten, nackte Haut auf nacktem nassen Stein. Jemand hatte ihn ausgezogen. Jemand?

Der Jemand! Der ihn gefesselt und geknebelt hatte! Nichts anderes konnte das Ding in seinem Mund bedeuten. Er wusste jetzt auch, dass er nicht blind war, wusste, dass seine Augen verquollen, aber nicht verletzt sein mochten, die eigene Betäubung und die Dunkelheit hatten ihn in die Irre geführt. Er lag in der Höhle!

Der Gedanke, dass er vollkommen hilflos war, verletzt, halb tot vermutlich – der Kerl hatte ihn töten wollen! – ließ ihn krampfen und würgen. Der Knebel! Er ließ keine Luft rein, keine Galle raus. Da war sie wieder, die Anmutung von Apfel. Sie kam aus seinem Magen! Er hatte Apfelsaft getrunken, sie beide, im »Stadtkrug«. Nein, der andere hatte ein Bier getrunken. Und ihn freigehalten.

Der andere! Das Ungeheuer!

Sie hatten sich unterhalten, einfach so. Nein, der Kerl war auf ihn zugegangen, er hatte ihn angesprochen. Ihn eingeladen auf ein Bier. Er musste von Anfang an etwas von ihm gewollt haben. Warum war ihm das nicht aufgefallen? Doch, natürlich hatte er sich gefragt, was der Typ von ihm wollte. Natürlich war er ihm ein bisschen merkwürdig vorgekommen. Aber vollkommen harmlos! Kaum älter als er selbst. Gut gekleidet, aber gar nicht hochnäsig. Umgänglich und unkompliziert.

Paul stöhnte. Erschrak von dem eigenen Geräusch. Lauschte mit angehaltenem Atem ins Dunkel. War er wirklich allein?

Nichts.

Er hatte davon gesprochen, hatte ihm gesagt, er werde wiederkommen. Um ihn fertigzumachen. Was hatte er, Paul, diesem Ungeheuer bloß getan? Ihm graute vor dessen Wiederkehr! Den winzigen erlösenden Moment lang, als der Stein mit voller Wucht auf seinen Kopf krachte, hatte er geglaubt, der andere hätte ihn bereits erschlagen. Die Ausholbewegung, dann der Aufprall. Genau! Daher der Kopfschmerz! Aber es hatte nicht gereicht. Sonst wäre er nicht wieder zu sich gekommen.

Warum hatte er den Kerl überhaupt sehen können?

Da waren Kerzen gewesen!

Er versuchte, sich auf die andere Seite zu rollen. Wie ein glühendes Eisen durchfuhr es ihn. Dieser Unmensch hatte ihm den Unterleib aufgeschlitzt! Mit Rasiermessern. Geschlagen, geprügelt hatte er ihn. Urplötzlich war er über ihn hergefallen, hatte ihm einen Tritt versetzt, der ihn zu Fall brachte, und noch ehe Paul ganz verstand, was das sollte, lag der andere auf ihm, riss an seinen Kleidern, schrie, schlug, würgte ihn. Obwohl er nicht viel älter und größer war, verfügte er über unglaubliche Kräfte.

Sie waren viel zu tief in den Stollen vorgedrungen, als dass jemand das Schreien hätte hören können.

Im ersten Moment hatte er gedacht, der Typ wäre vom anderen Ufer. Das hätte erklärt, dass er ihn auf der Straße angesprochen hatte. Natürlich war der Gedanke vorher schon aufgeblitzt. Mein Gott, er war kein Kind mehr! Es gab diese Jungs, bei denen man immer aufpassen musste, dass man ihnen nicht zu nahe kam. Die einen schon so anguckten. Sich auf eine Art und Weise bewegten – dieses fast unmerkliche Wiegen in den Hüften, die Art, wie die Oberkörper sich schlangengleich wanden, die Bewegungen der Hände, das hatte immer so etwas Falsches, Geschmeidiges, das zu einem Jungen nicht passte. Den Eindruck hatte der nicht gemacht. Er war stämmig gewesen, rundliches Gesicht, fast kindlich. Aber als er seine Hose heruntergerissen hatte und an ihm rumfummelte, gab es keinen Zweifel mehr. Er hatte auch sich selbst vollständig ausgezogen, um an ihnen beiden rumzumachen. Machten die das alle so – brutal? Er konnte es sich nicht vorstellen. Das Gebrüll: »Versager! Wieso kriegst du keinen hoch? Du Memme!« Er hatte an sich gefummelt, an ihm, wieder an sich. Dann wieder geschlagen, getreten, sodass Paul sich krümmte, hilflos herumkullerte, auf dem Bauch zu liegen kam. Der andere kniete auf ihm, versuchte sich erneut einen runterzuholen. Das Rubbeln und Keuchen! Das erlösende Stöhnen blieb aus. Er hatte sich nackt auf ihn geworfen und ihn geküsst! Widerwärtig! Aber hundertmal besser als das Prügeln! Paul hatte ihn angebettelt, weiterzumachen. Angebettelt! Stattdessen rammte der Verrückte ihm ohne Vorwarnung etwas in den Po. Einen Finger, zwei – dann etwas so Großes und Hartes – er hatte gebrüllt vor Schmerz! Nein, das war nicht sein Schniedel, vermutlich der Stiel des Hammers, den er vorher aus den Augenwinkeln hatte ausmachen können. Nie hätte er gedacht, wie entsetzlich weh so etwas tun könnte. Das Nasse an seinem Po – war das Blut?

Der Hammer! Wenn er ihn fände, könnte er sich wehren! Nur wie – mit auf den Rücken gefesselten Händen! Die Fesseln! Er musste sie lösen! Wo waren die verfluchten Rasierklingen? Wenn er die Schnüre durchschneiden könnte! Aber wie sollte er sie im Dunkeln finden?

Wie lange war er ohnmächtig gewesen?

Wenn der Kerl zurückkam!

Abendessen, hatte er gesagt. Er hatte ihn, Paul, nach der Uhrzeit gefragt! Urplötzlich. Ihn eben noch mit überschnappender Stimme angebrüllt, mit der flachen Hand ins Gesicht geschlagen – und vollkommen unvermittelt gefragt, wie spät es sei. Er müsse zum Abendessen. Bedauernd. Er komme später wieder. Um ihn zu töten! Dieser Wahnsinnige! Er hatte ihn geknebelt und die Kerzen gelöscht bis auf eine, mit der er gegangen war. Wohin?

Raus, nur raus! Sich verstecken! Wo? Wie?

Panik betäubte die Pein, als er sich wild hin und her wand in dem Versuch, die Fesseln zu lösen oder mindestens zu lockern. Sie saßen knallhart. Der Knebel! Er war mit einem Klebestreifen fixiert. Als er die Wange auf dem Steinboden rieb, spürte er ihn an seinen Haaren reißen. Dennoch gelang es ihm, in der Mundhöhle ein wenig Raum zu schaffen, indem er den Stoff an den Rändern des Streifens mit der Zunge hinausdrückte. Ein zusammengeballtes Stück Stoff, das sich auseinanderschieben ließ. Er konnte jetzt ein wenig Luft ziehen. Aber was nützte das, solange er nicht weglaufen konnte! Und wenn er zum Ausgang der Höhle kullerte? Den Gedanken verwarf er sofort. Wo war der Ausgang? Wenn er die falsche Richtung einschlug, wäre er verloren. Nein! Die Fußfesseln! Er musste die Fußfesseln lösen! Wenn er die Rasierklingen fand! Die Messer! – Das Grauen!

Der Kerl hatte ihm die Messer gezeigt! Ihn die Klinge spüren lassen! Ganz sanft, zärtlich fast, war er mit der Schneide über Pauls Brust und Bauch gefahren, immer wieder innehaltend, hatte das Messer in die Lotrechte gebracht, eine zitternde Spitze bohrte sich in seine Haut, und der Irre flüsterte: »Hier! Hier schlitze ich dich auf! Zeig mir dein Herz! Gib es mir!« Er traute es ihm zu. Dieser Wahnsinnige würde ihn bei lebendigem Leib zerstückeln. Es machte ihm Spaß. Nein, nicht Spaß. Befriedigung! Er gierte danach! Der wollte nicht einfach nur kleine Jungen vergewaltigen. Der wollte sich an ihrer Angst, ihrem Grauen weiden! Der wollte sie aufschlitzen, ausweiden, womöglich fressen – dem war alles zuzutrauen!

»Nun wehr dich doch endlich!«, hatte er geschrien. Ihn geschlagen. »Was bist du denn für ein feiges Arschloch?«

Wieder entrang sich Paul ein Stöhnen, von ganz unten her kam es, aus dem geschundenen Unterleib. Er wälzte sich hin und her und suchte mit den zusammengebundenen Händen, irgendetwas zu fassen zu bekommen. Steinchen, Dreck, ein Stück Kordel? Das musste ein Kerzenstummel sein, gleich daneben ein abgebranntes Streichholz. Wo waren die Messer, die Klingen? Natürlich hatte der Kerl sie verräumt! Sodass sein Opfer auf gar keinen Fall drankommen konnte. Oder er hatte sie mitgenommen. Ganz so blöd konnte der nicht sein. Er hatte das alles vorbereitet. Die Kerzen, das Werkzeug, alles hatte bereits auf ihn gewartet. Sein Geheimversteck! Folterkeller! Seine heimliche Hölle!

Er war nicht der Erste! – Der Gedanke nahm ihm den Atem. Der Geruch! Nein, Gestank! Lagen hier schon Leichenteile rum von anderen, mit denen er das gemacht hatte, was er mit ihm noch vorhatte? Das war der Schatz, von dem er gesprochen hatte, den er ihm hatte zeigen wollen! Warum hatte er das nicht eher kapiert? Schon als sie den Stollen betraten, hatte es so merkwürdig gerochen. Je tiefer sie vordrangen, umso penetranter und ekelhafter wurde es.

Paul war stehen geblieben. »Was ist das?«

»Ach, das ist noch vom Zweiten Weltkrieg!« Der andere hatte hinter ihm gelacht. Als er sich umdrehte, leuchtete die Kerze sein Gesicht von unten her an, sodass es wie eine Fratze wirkte. »Das war ’n Luftschutzbunker hier. Da sind nicht alle wieder lebend rausgekommen. Ganz hinten liegen noch ein paar Skelette rum.«

Das war der Moment, wo Paul kehrtmachen wollte. Die Fratze! Das höhnische Lachen! »Ängstlich? Hosen voll? Na hör mal, wenn das hier so einfach wär, dann hätte schon längst jemand den Schatz geholt! Ich hab dir doch gesagt, du kriegst 50 Mark, wenn du mir hilfst!«

Im nächsten Moment verstand Paul, dass er sich nicht nur auf etwas Dummes eingelassen hatte. Ohne Vorwarnung traf ihn ein Tritt, der ihn zu Boden warf. Er hatte sich ausgeliefert! Keine Möglichkeit, zu entkommen. Keine Chance, dass ihm jemand zu Hilfe kam. Der konnte mit ihm hier machen, was er wollte! Das Monster!

Wenn er schon wieder auf dem Weg zu ihm war? Um ihm den Rest zu geben, wie angekündigt?

Fieberhaft wälzte er sich hin und her, die schmerzenden Glieder, den dröhnenden Kopf, die quälenden Stiche in Bauch, Schritt und Anus ignorierend. Wie spät war es bloß? Wie lange war er bewusstlos gewesen?

Er müsse zum Abendbrot, hatte der Kerl gesagt. Müsse zum Abendbrot! Wie ein kleines Kind, das sich von seinen Freunden am Spielplatz verabschiedet. Ich darf nicht mehr mit dir spielen! Meine Eltern warten! Er hatte Eltern! Er führte ein ganz normales Leben! Worüber hatten sie gesprochen im »Stadtkrug«? »Einer wird gewinnen!« Er hatte sich auf den Fernsehabend mit seinen Eltern gefreut! Von irgendwelchen Opernsängern gesprochen, die diesmal in den Rateteams antreten würden. Opernsänger! Ein Junge, der sich für Opern interessierte! Der Horst Frank würde auch dabei sein, hatte er gesagt. – Mutter! Seine, Pauls, Mutter schwärmte für den! Was würden seine Eltern denken? Warteten sie auf ihn? Er war schon so oft zu spät nach Hause gekommen! Zu oft! Wann würden sie anfangen, sich zu sorgen? Ihn suchen? Wie sollten sie ihn finden? Sie saßen doch jetzt genauso vor dem Fernseher! »Einer wird gewinnen!« Wenn der Kerl nach dem Essen noch fernsah – natürlich würde der Kuli wieder überziehen! Kostbare Zeit! Er musste hier raus!

Seine Hände ertasteten die Streichholzschachtel.

Anni

Ich war glücklich im Krankenhaus. Nicht nur, dass ich etwas zum Lebensunterhalt beitragen konnte. Viel wichtiger war mir, etwas Anständiges zu lernen. Den Volksschulabschluss hatte ich im letzten Kriegsjahr noch mitgenommen, eher nachgeschmissen bekommen, es gab ja keinen normalen Schulbetrieb mehr. Das war jetzt über ein Jahr her. Mama hatte mir seitdem dauernd in den Ohren gelegen: »Kind, was soll bloß aus dir werden?« Ich fand das gemein. Kein Mensch wusste doch, was aus ihm werden sollte! Überall nur Chaos und alles kaputt! Geld war nichts mehr wert, es gab fast nichts zu kaufen. Der Hunger! Und wer war schuld? Hatten nicht fast alle bis zum Schluss an dem tausendjährigen Albtraum mitgearbeitet? Und wenn sie sich blind und taub gestellt und nichts verhindert hatten! Den millionenfachen Menschen-Mord! Noch in den letzten Kriegswochen wurden im Ruhrgebiet Hunderte Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene hingerichtet und in Massengräber geworfen. In Essen hat die SS zuletzt 35 Fremdarbeiter in der Nähe der Ausstellungshalle liquidiert. Als die Amis sie entdeckten, wurde die Bevölkerung gezwungen, sich den Leichenberg anzugucken. Die ganze Stadtverwaltung wurde auf Lastwagen geladen und da hingefahren! Mama war dabei. Als sie nach Hause kam, hat sie sich die halbe Nacht übergeben.

Bis zur letzten Minute hatten die Nazis gewütet! In der Nacht, bevor der Ami einmarschierte, hat die Gestapo Düsseldorf den Alois Odenthal und seine Leute standrechtlich erschossen. Wegen Kollaboration mit dem Feind. Ein paar Stunden vor der Kapitulation!

Gleich danach waren alle, die Dreck am Stecken hatten, untergetaucht. Der Essener Oberbürgermeister ist am Ende als Einziger nicht geflohen, als die Amis einmarschierten.

Und ich? Blond und blauäugig! Fast noch ein Kind. Aber was entschuldigte das? In der Schule hieß es immer, wir wären die Guten. Und die Größten. Im Nachhinein stellte sich heraus, dass wir im Bösesein die Größten waren. Wem konnte man jetzt noch in die Augen gucken – vor Scham! Und Misstrauen. Was hatte der andere gewusst? Was dazu beigetragen? Natürlich wollte es keiner gewesen sein.

Dabei: Es war doch alles von langer Hand geplant gewesen! Mama hatte im Einwohnermeldeamt gearbeitet. All die Menschen, die ihre Vermerke bekamen, umgesiedelt wurden und verschwanden!

»Was denkst du denn, Kind! Woher sollte ich wissen, was mit diesen Leuten passierte!« Ihre Empörung in Verbindung mit »diesen Leuten«! Immerhin hatten wir die Zweizimmerwohnung der Vogels übernehmen können. Sie saß an der Quelle. Und wieso musste sie mich »Kind« nennen? Ich heiße Anni! Mit 16 ist man kein Kind mehr.

Sie kriegte in Nullkommanichts ihren Persilschein, schließlich brauchten die Amerikaner jede Hand in der Verwaltung. Schon für die Verteilung der Lebensmittelkarten! Dann mussten die übrigen Fremdarbeiter zurückgeschickt werden. Obwohl die zu Hause auch nicht unbedingt mit offenen Armen empfangen wurden. Die Russen haben sie gleich wieder eingesperrt – als Kollaborateure.

Mama versuchte, mich auch unterzubringen. Ich war heilfroh, dass es nicht klappte, wurde das Gefühl nicht los, dass die auf dem Amt alle Dreck am Stecken hatten.

Im Rheinberger Rheinwiesenlager, erzählte man sich, waren Wehrmachtsoldaten zu Tausenden seit Monaten unter freiem Himmel eingepfercht. Die Männer verhungerten oder starben an Krankheiten wie die Fliegen. War das jetzt besser als das, was die Nazis getan hatten? Immerhin tat man etwas für die Zivilbevölkerung: Amerikanische Sanitäter führten auf offener Straße Massenentlausungen mit DDT-Pulver durch. Wir wurden festgehalten, Soldaten mit Pulverkanonen schossen uns das Zeug unter die Kleidung und hatten mächtig Spaß daran, den jungen Mädchen in den Ausschnitt zu greifen, um ihre Salven abzufeuern.

Ich haderte mit meiner Mutter, mit den Deutschen, den Amerikanern, den Engländern, mit mir. Wollte irgendetwas gutmachen, Menschen helfen. Was hatten wir in der Schule gelernt? Schwache gehörten ausgemerzt. Nein! Es war genau umgekehrt! Man musste sich für die Schwachen einsetzen! Wenn schon nicht klar war, ob der Mensch überhaupt gut sein konnte, wollte ich doch wenigstens versuchen, Gutes zu tun.

Dann kam Mutter mit der Nachricht, in der Wäscherei suchten sie dringend Aushilfen.

»Ich will Krankenschwester werden«, sagte ich.

»Kinder, die was wollen, kriegen was auf die Bollen«, gab Mama zurück. »Wer kann sich schon aussuchen, was er tut? Zuallererst zählt ein Dach über dem Kopf und etwas zum Essen auf dem Tisch. Du kannst doch gar kein Blut sehen! Ausgerechnet du willst dich mit Blut, Spritzen, Schleim und Kacke rumschlagen?«

Ich versprach, mich bei der Wäscherei vorzustellen. Bat aber trotzdem Tante Heti um Rat, die sich umzuhören versprach. »Lass Anni es wenigstens versuchen«, sagte die Tante zu Mama.

Die schnaubte. »Du kannst es dir ja leisten!« Sie war schon immer neidisch auf ihre Schwester gewesen, die kein Kind zu versorgen hatte, aber einen Trauschein besaß. Dabei hatte Mama Onkel Paul nie leiden können. Er sei so ein strammer Nazi, dass er zu Hause nur noch die rechte Hand hochkriegte, hat sie gespottet. Ich hab viel später erst verstanden, dass sie sich damit über Hetis Kinderlosigkeit lustig machte – um die sie sie gleichzeitig beneidete. Weil ich doch ach so ein Ballast für sie war! Tante Heti hatte eine Kriegswitwenrente. Weil Onkel Paul im ersten Jahr in Polen geblieben war. 1938. Noch ein Grund, neidisch zu sein!

In meiner Geburtsurkunde stand: Vater unbekannt. Einmal hat Mama zu mir gesagt: »Sei froh. Von manchen Menschen wünscht man sich, dass es sie nie gegeben hätte.« Was mein Vater Böses gemacht hatte, behielt sie für sich. Vielleicht war er ein Nazi wie Onkel Paul? Impotent konnte er ja nicht gewesen sein. Hatte er sie sitzen gelassen? – Ihr Gewalt angetan? Vielleicht wusste sie tatsächlich nicht, wer er war. Ich meine, das wird es schon vor dem Krieg gegeben haben, dass Frauen von Wildfremden überfallen und vergewaltigt wurden! Meine Großeltern waren tot, und Tante Heti behauptete, sie wisse nicht mehr als ich über meinen Vater. Meine Mutter hätte schon immer so ein Geheimnis um ihr Liebesleben gemacht, dass jeder davon ausging, sie hätte keins.

In der Schule sollte ich einen Nachweis für die Ahnentafel erbringen. Was konnte ich sagen? So blond und blauäugig, wie ich war, hat nie jemand gezweifelt, dass alles seine Ordnung hatte mit mir. Vielleicht hat Onkel Paul ja auch nachgeholfen. Mit dem Ariernachweis, meine ich. Nach dem Krieg habe ich mir gewünscht, dass mein Erzeuger ein Jüdischer gewesen wäre. Als Rache gewissermaßen. Denen sah man es ja gar nicht unbedingt an, auch wenn sie uns das im Rassenkunde-Unterricht immer hatten weismachen wollen von wegen Hakennase, schwarze Haare und stechender Blick. Natürlich hat es mich beschäftigt! Gelegentlich schreckte ich aus Albträumen hoch, in denen meine Mutter auf dem Sterbebett lag und ich sie nicht gehen lassen wollte, sie schüttelte, anschrie und schlug, damit sie endlich gestand, wer mein Vater war.

Bei der Wäscherei schickten sie mich wieder weg. Ich sei zu mager. Sollte erst mal was essen, um anpacken zu können. Tante Heti hielt Wort und gab mir nach ein paar Tagen Bescheid, dass ich mich bei den Städtischen Krankenanstalten vorstellen könnte. Da suchten sie eine Kinderkrankenschwesternhelferin. Kinderkrankenschwester! Das klang wunderbar! Die Worte meiner Mutter waren tage- und nächtelang in meinem Kopf herumgespukt: »Blut, Spritzen, Schleim und Kacke.« Ja, auch solche Albträume verfolgten mich: von Frischamputierten, von Blut, Exkrementen, Erbrochenem, von röchelnden Sterbenden, von Ärzten, die ausgemergelte nackte Leiber mit Skalpellen aufschnitten, »Schwester Anni, Tupfer, Schere!«, riefen und mir Spritzen in die Hand drückten, die ich setzen sollte.

Nun das! Süße kleine Säuglinge!

Die Essener Städtischen Krankenanstalten waren im Krieg weitgehend zerstört worden, der Wiederaufbau würde noch Jahre dauern. Die Säuglingsstation hatten sie in das Erholungsheim der Landesversicherung ausgelagert, wo ich einen Probetag verbringen sollte.

Im Schwesternzimmer empfing mich Schwester Leni, pausbackig, proper und von einer derart positiven Ausstrahlung, dass ich mich unter ihren Fittichen sofort wohlfühlte. Einen Tag lang durfte ich sie überallhin begleiten. Kinder waschen, wickeln, füttern, den Wöchnerinnen zum Anlegen bringen, die frischgebackenen Mütter versorgen, den Ärzten zur Hand gehen – ich fand alles aufregend und schön. Insbesondere die Neugeborenen. Deren Pflege sollte meine Hauptaufgabe sein, versicherte Schwester Leni, die mich am Ende des Tages in die Wange kniff, was mir das gute Gefühl gab, dass ich mich nicht nur nicht ganz dumm angestellt, sondern dass sie mich tatsächlich ebenso ins Herz geschlossen hatte wie ich sie.

Ich durfte gleich am nächsten Tag fest anfangen.

Meine Begeisterung kriegte einen kleinen Dämpfer, als ich die Arbeitszeiten auf der Station kennenlernte. Es gab keine Schichtwechsel. Man arbeitete von morgens früh bis abends spät. Die Kinder machten es einem allerdings leicht. Die winzigen Händchen, die sie einem entgegenstreckten! Diese Füßchen mit Zehen, aufgereiht wie eine Perlenschnur! Die Gesichtchen! Die Augen waren in der ersten Zeit noch meistens zu. Die Mündchen verzogen sich gelegentlich reflexhaft zum Greinen, aber genauso zu einem derart zauberhaften Lächeln, dass mein Herz hüpfte. Wovon träumten die Neugeborenen? Was hatten sie Wunderbares erlebt, bevor sie zur Welt kamen? Wollte man nicht, wenn man diese Menschenskinder sah, sein Äußerstes geben, um sie zu beschützen und vor Bösem zu bewahren?

Es roch so gut, wenn ich an den flaumigen Köpfchen schnupperte! Selbst beim Wickeln strömten sie keine unangenehmen, eher süßliche Gerüche aus, bestand ihre Nahrung doch fast ausschließlich aus Muttermilch. Nur wenige Kinder waren älter als sechs Wochen. Das war im Allgemeinen die Zeit, nach der die Wöchnerinnen wieder entlassen wurden. Manche Kinder, die von schwächlicher Gesundheit waren, blieben länger oder kamen nach einiger Zeit wieder zurück, wenn etwas nicht stimmte. Nur einer der Jungen, Karl-Heinz, war schon ein halbes Jahr alt, als ich auf der Station anfing. Ein richtiges Sonnenscheinchen! Dunkle Haare, volle Lippen, riesige Kulleraugen, die mir entgegenstrahlten, sobald ich den Raum betrat. Nicht nur mir. Ich habe ihn nie anders als wonnig erlebt. Er schien überhaupt nicht schwach oder krank, im Gegenteil: kerngesund. Die Schwestern waren samt und sonders verliebt in das Kerlchen, alle Besucher schäkerten mit ihm. Eine Dame kam mehrmals die Woche vorbei, um nach ihm zu sehen.

Ob es seine Oma sei, fragte ich Leni. Die schüttelte den Kopf und lachte. Sie war gerade damit beschäftigt, einem der Würmchen Blut abzuzapfen. Das Kind greinte leise vor sich hin.

»Etwa seine Mama?«, hakte ich nach. Die Frau hatte so etwas Gesetztes, das mir zu einer jungen Mutter nicht zu passen schien.

Schwester Leni klebte das Pflästerchen fest, das ich ihr reichte. »Die Möchtegern-Mutter«, sagte sie, hob das Kleine an ihre Schulter und beruhigte es, indem sie ihm sanft den Rücken klopfte. Während ich das Spritzbesteck zusammenräumte, beobachtete ich aus den Augenwinkeln die »Möchtegern-Mutter«, die in Richtung des Bettchens, in dem Karl-Heinz vor sich hin strampelte, winkte und sich zum Gehen wandte.

Schwester Leni erzählte, die Frau habe eine Totaloperation hinter sich und könne nun keine Kinder mehr bekommen, was ihr wohl sehr zu schaffen machte. Sie sei während ihres Klinikaufenthalts regelmäßig auf die Säuglingsstation gekommen und habe die Neugeborenen beobachtet. Karl-Heinz hätte sie offensichtlich ganz besonders ins Herz geschlossen. Er sei kurz nach ihrem Eingriff zur Welt gekommen, ein nicht eheliches Kind. Die leibliche Mutter sei kurz nach der Geburt verschwunden.

»Was für eine Rabenmutter!«, entfuhr es mir.

Schwester Leni schüttelte den Kopf. »In manchen Fällen sollte man vielleicht besser keine als eine schlechte Mutter sein.«

»Hat es damit zu tun, dass da kein Vater ist?«

Zum allerersten Mal im Leben kam mir der Gedanke, dass meine Mutter gezweifelt haben mochte, ob sie mich austragen und behalten sollte. Was aus mir geworden wäre, wenn sie mich geboren und sich einfach abgesetzt hätte?

»Ein Kind braucht mehr zum Leben als einen Vater.« Leni legte den Säugling, der wieder eingeschlummert war, in sein Bettchen und deckte ihn zu.

»Was zum Essen!«, gab ich Stichwort, während wir in Richtung Wäschekammer eilten.

Leni drehte sich so abrupt um, dass ich gegen sie prallte. »Zeit«, sagte sie. »Aufmerksamkeit. Liebe.«

Das beschäftigte mich. Ich dachte oft, meine Mutter könnte sich mehr Zeit für mich nehmen. Ihre Aufmerksamkeit galt äußerlichen Dingen. Dabei war Geld doch sowieso nichts mehr wert! Wozu sich darüber Gedanken machen? Erst recht: Wen interessierte, was andere dachten und taten? Die Zeit war vorbei, in der man überall bespitzelt und drangsaliert wurde!

Auf der anderen Seite: Wie konnte ich mich fragen, ob meine Mutter mir genügend Aufmerksamkeit schenkte? Wir hatten knapp den Krieg überlebt. Es gab nichts zu essen!

Trotzdem störte mich das Gejammer, was aus mir, aus uns werden sollte. Es hörte sich wie ein Vorwurf an. Als wenn ich die Ursache allen Unheils wäre. Sah so Liebe aus?

Tante Heti war viel gelassener als Mama. Und Schwester Leni erst! Ich sah ihr gerne zu, wie sie mit den Kindern auf der Station umging. So liebevoll. Aber Zeit? Wie hätten die Schwestern den vielen Kindern auf der Station die Aufmerksamkeit geben können, die sie brauchten?

»Hast du Kinder?«, wollte ich wissen.

Sie antwortete nicht gleich. Bezog das Bettchen fertig, an dem sie gerade arbeitete. Holte frische Wäsche, sah meinen Blick, blieb stehen. »Ich hab sie bei der Flak gelassen. Alle beide.«

»Sie waren bei der Flugabwehr …?«

Wieder brauchte sie eine Weile. Dann sagte sie, mehr zu dem Bettchen als zu mir: »Im Doppelpack! Zwillinge. Ernst und Erich. Zusammen geboren. Zusammen umgekommen.« Sie lächelte. »In den letzten Kriegstagen. Als die Alliierten schon über allen Städten Angriffe flogen. Immerhin: Es ging ganz schnell. Und sie waren nicht allein.«

Ich hakte nicht nach. Schämte mich, überhaupt gefragt zu haben. Aber sie schien es nicht übel zu nehmen. Zumindest ließ sie es sich nicht anmerken.

Die Kinder auf der Station kamen in der Regel dreimal am Tag zu ihren Müttern. Auf keinen Fall nachts. Acht Stunden Ruhezeit wurden strikt eingehalten. Nur in Ausnahmefällen, etwa wenn eine Brustentzündung drohte, wurden sie häufiger angelegt. Die Säuglinge entwickelten unterschiedliche Techniken, um Zuwendung zu erlangen. Manche – wenige – weinten, sobald sie wach wurden, und hörten nicht auf, bis sie sich wieder in den Schlaf geweint hatten. Die galten als Schreikinder. Es hieß, ich sollte sie nicht beachten. Andere versuchten, angenehm aufzufallen. Der kleine Karl-Heinz Sadrozinski vorneweg. Er sei in allen Dingen sehr früh entwickelt gewesen, sagten die anderen Schwestern. Hatte vor allen Gleichaltrigen mit den Augen verfolgt, was um ihn herum vorging, den Kopf gehoben und gelächelt. Mit sechs Monaten hatte er rausgekriegt, dass es in seiner Reichweite einen Knopf gab, den er mit seinem Zeigefingerchen drücken konnte. Dann klingelte es, und eine Schwester kam gelaufen. Das fand er natürlich sehr spannend. Eine Zeit lang ließen die Schwestern sich auf das Spiel ein. Dann nahmen sie ihm den Alarm weg.

Man konnte ihm einfach nicht böse sein. Wenn ich mich ihm mit seinem Fläschchen näherte, strahlte er mich unter langen dichten Wimpern so dankbar an, als hätte ich ihm das Leben gerettet.

Für die Wickelkommode war er schon arg groß. Also kam er aufs Töpfchen, kaum dass er sitzen konnte. Auch darin war er ausgesprochen früh. Saß stundenlang auf dem Pott und spielte mit seinen Zehen. Manchmal auch mit dem Pipimann. Dafür gab es etwas auf die Finger. Aber meistens war er brav. Schien es zu genießen, dass er auf dem Thrönchen seine Umgebung besser beobachten konnte als aus der Bauch- oder Rückenlage.

Schwester Nella, die die Station leitete, erzählte mir, dass seine Mutter Tuberkulose gehabt hatte und wenige Wochen nach seiner Geburt verstorben war. Sie zeigte mir die Unterlagen, schließlich sollte ich den Papierkram auch kennenlernen. Demnach war Anna Sadrozinski, geborene Liedtke, zwar verheiratet, aber ihr Mann, Friedrich Sadrozinski, ein Bergmann, in Russland vermisst. Den Namen des leiblichen Vaters von Karl-Heinz hatte sie zwar angegeben, aber er lebte im Ausland und war nicht ausfindig zu machen, er wechselte dauernd den Wohnsitz. Normalerweise kämen solche Kinder ins Heim, sagte Schwester Nella. Auf die Frage, warum der kleine Sadrozinski nicht auf die Kinderstation verlegt würde, lächelte sie. »Es gibt eine Gönnerin«, sagte sie. »Die hat Sorge, dass er da mit asozialen Elementen zusammenkommt. Sie zahlt in Naturalien. Die haben eine Metzgerei!«

Ich begriff, dass es sich nur um die Dame mit der Totaloperation handeln konnte. »Warum macht sie das?«, hakte ich nach.

»Sie hat einen Adoptionsantrag gestellt«, sagte Schwester Nella. »So was dauert, weil die Behörden sorgfältig prüfen müssen. Der Vater muss gefunden werden. Vielleicht gibt es von seiner Seite auch Verwandte, die zuständig wären. Das muss erst alles geklärt werden.«

»Warum kann er in der Zwischenzeit nicht schon da wohnen?«, wandte ich ein. »Die Frau würde sich doch besser um ihn kümmern als wir hier.«