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Celeste Ealain

Der Schicksalsträger - Verweigerung


Dieses Buch enthält Passagen, die für Jugendliche unter 16 Jahren nicht geeignet sind! Alle Personen und Namen innerhalb dieses Romans sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt. Dieses Dokument ist doppelt urheberrechtlich geschützt!


BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Impressum

© 2016 Celeste Ealain

Alle Rechte vorbehalten

 

2. Auflage 2018

Umschlaggestaltung: © yocladesings.com

Portraitfoto: Peter Berger, www.peterberger.at

Korrektorat: Carolin Meyer, Zoe Glod

 

Printed in Germany

 

ISBN-13 978 - 1533188519

ISBN-10 1533188513

 

Dieses Buch enthält Passagen, die für Jugendliche unter 16 Jahren nicht geeignet sind!

 

Alle Personen und Namen innerhalb dieses Romans sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Dieses Dokument ist doppelt urheberrechtlich geschützt!

Danksagung

Es gibt Zeiten im Leben, die beginnen mit der stillen Vorahnung,
die eines Tages zur Gewissheit wird, dass der schlimmste
Abschnitt deines Lebens eingeläutet wird.
In diesen Zeiten erkennt man,

welcher Mensch man war,
welcher Mensch man ist

und welcher Mensch man werden will.

Diese Erfahrungen machen uns stärker

und formen uns zu den Menschen, die wir heute sind.

 

Ich möchte allen Menschen danken,
die mich in dieser schwierigen Zeit begleitet haben.

Ich danke allen Fans, Bloggern und Lesern, dass ihr
geduldig wart und mir die Möglichkeit gegeben habt,

die authentischste Fantasystory meines Lebens zu schreiben.

 

Ich widme sie den starken Menschen da draußen,

die ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen und stets daran glauben, dass das letzte Wort noch nicht gesprochen ist.

 

Für meine Eltern, die in dunkelster Stunde mein Licht waren.
An die neuen Freunde, die meine Stütze gewesen sind.

An die Zufälle, die mich gestärkt haben, aber kommen mussten, weil die Zeit reif war.

DANKE

Prolog

Das Schicksal ist ein goldener Faden, der zwischen Menschen und Ereignissen gesponnen ist. Er kann sich oft neu fügen und trennen, doch er hat seinen Weg und seine Bestimmung. Nur wenn ein Mensch es wagt, sich über dessen Berufung zu stellen, wird aus ihm ein Schicksalsträger, um seine Existenz lang dafür zu büßen, sich darüber hinweggesetzt zu haben. Der Zahn der Zeit lehrt jedes Individuum schlussendlich, dass es nicht frei wählen kann. Dass alles seine Ordnung im Leben hat und jede Freude und jeder Schmerz ein Meilenstein des Schicksals ist, um am Ende das vorgegebene Ziel zu erreichen. Es steht der Menschheit nicht zu, es selbst in die Hand zu nehmen. Diese Lektion müssen aber viele noch lernen …

1 | Die Begegnung

Sie zählte die Tränen nicht mehr. Cattleya konnte nicht mehr unterscheiden, wo eine Träne anfing und eine andere endete. Es war ohnehin schon ein Wunder, dass sie noch Tränenflüssigkeit zur Verfügung hatte und in ihrem See der Verzweiflung nicht ertrank. Mittlerweile konnte sie des Nachts auch nicht auseinanderhalten, ob sie bereits über die Trauer in einen unruhigen, hoffentlich erlösenden Schlaf geglitten war und wann sie mit der Realität kämpfte, die auf ihr lag wie eine ganze Welt. Cattleya war diesen Kummer leid, jeder Atemzug fiel ihr schwer und ihre Brust schmerzte, als ob ihr Körper ihr über all die Monate längst signalisierte, dass er aufgab.

Warum tut er es dann nicht einfach?, schluchzte sie in sich hinein, während sie in diesem Bett lag. Einem Bett, das sich nicht nach Heim und Geborgenheit anfühlte. Aber kein Bett der Welt konnte ihr diese Lüge heucheln, da sie wusste, für ihren Schmerz gab es nur eine einzige Medizin, die ihr nicht mehr zustand. Leider.Oder doch zum Glück?

Erschöpft drehte sie sich zur Seite, umfasste ihr Kissen und verfluchte all die guten Ratschläge und Sprüche ihres Umfeldes, die viel zu laut in ihrem Kopf widerhallten, wie „Die Zeit heilt alle Wunden“ oder „Du wirst sehen, in einem Jahr lachst du darüber.“ „Alles hat einen Sinn“ und „Wo sich eine Tür verschließt, öffnet sich unvermutet eine andere.“ So ein Schwachsinn!!!Alles nur, um den anderen einzulullen und nicht blöd dazustehen, weil man keine bessere Hilfestellung leisten kann. Diese altklugen, vererbten Weisheiten hatten nur das Ziel, das Gefühl zu vermitteln, dem anderen zu helfen. Auch wenn einem in solch einer Situation einfach niemand helfen konnte. Nichts und niemand …

Diese untragbare Stille umhüllte sie und machte ihre Gedanken umso lauter. Das flauschige, gut duftende Bettzeug konnte sie nicht wärmen, egal, wie eng sie es an sich schmiegte, und das Gefühl, die Kontrolle über sich und das Leben nicht mehr zurückzugewinnen, machte sie schlichtweg wahnsinnig.

Plötzlich spürte Cattleya, dass etwas nicht stimmte, sie war nicht alleine. Ein Licht brach durch ihre Augenlider hindurch. Etwas erhellte ihr Schlafzimmer, und sie wusste, es konnte nicht ihre Lampe sein. Verängstigt fuhr sie hoch und wurde augenblicklich geblendet von gleißendem Licht. Erst, als sich ihre Augen langsam an diese Helligkeit gewöhnten, nahm sie vage Umrisse wahr, bis sie schließlich eine Gestalt erkannte, die sie an ihrem gesunden Menschenverstand zweifeln ließ. So kann doch kein Einbrecher aussehen!Mit diesem silbern schillernden Firlefanz als Outfit blendete er die gesamte Nachbarschaft und könnte nicht ungesehen mit vollgeladenem Diebesgut über die Dächer Wiens türmen. Cattleya wollte schreien, aber ihr Mund brachte keinen Ton heraus, auch ihre Glieder verweigerten den Dienst für die Flucht, was bedeutete … nicht schon wieder einer dieser grotesken Albträume!

Cattleya rollte mit den Augen, denn sie war müde, genervt und wollte unbeschwert schlafen. Sie hatte ohnehin Schlafstörungen und musste früh zur Arbeit. Also warum in Gottes Namen konnte man nicht ein einziges Mal mit ihr Mitleid haben und sie verschonen?

Die Gestalt trat einen Schritt näher an sie heran. Es war ein Mann, der ein helles T-Shirt mit V-Ausschnitt und eine gleichfarbige Lederhose trug. Alles strahlte und glänzte wie aus einer Waschmittelwerbung – noch ein Indiz dafür, dass ihre blühende Fantasie mit ihr durchging. Seine Frisur … war schlicht und ergreifend kompliziert, da er sich offenbar nicht für eine einzige Farbe hatte entscheiden können. In diesem gebleichten Blond konnte Cattleya silberne und goldene Haare hervorstechen sehen, was sie die Nase rümpfen ließ. Ach Leute, geht es noch kitschiger? Wann ist der Spuk eigentlich zu Ende?Cattleya sprach in solchen Situationen mit Gott und der Welt, weil sie in Zeiten der Not immer nach der Hoffnung griff, dass etwas oder jemand da draußen existieren musste, der ihr Leid hörte und diesem vielleicht ein Ende bereiten könnte. Es musste Unerklärliches und Wunder geben, denn wenn sie nicht daran glauben konnte, an was dann, und wie sollte sich in ihrem Leben noch irgendetwas Positives ereignen? Sie wusste, wenn man selbst nicht das Wunder sein konnte, musste man auf Unterstützung von außen hoffen.

„Nun gut. Sag, was du willst, wie aus diesem dummen Märchen mit den drei Geistern der Weihnacht und dann verschwinde. Ich bin gerade nicht in Stimmung.“ Cattleya seufzte und drückte sich mit ihren Händen hoch, um zum Bettende hochzurutschen und sich dagegen zu lehnen. Irgendetwas sagte ihr, dass es vielleicht länger dauern könnte. Sie rieb sich ihre verquollenen Augen, und ihr war erneut zum Heulen zumute. Sie musste furchtbar aussehen, auch wenn es ihr schnurzpiepegal sein konnte, wie andere sie sahen. Nichts war mehr wichtig in diesem Leben. Absolut nichts.

„Ich habe schon verstanden, dass du beschäftigt bist, Cattleya. Doch so darf es nicht weitergehen.“

Er kennt also meinen Namen, noch eine Bestätigung das ich träume.Diese belehrende Stimme war sehr tief und erinnerte kein bisschen an einen Engel oder einen Geist. Cattleya hatte keine Kraft und wollte eigentlich nur wieder in Selbstmitleid versinken, denn dieser Traum war anstrengend, ehe er so richtig angefangen hatte.

„Ach ja? Und du bist derjenige, der das nun bestimmt? Darf ich erwähnen, dass ich mir das nicht ausgesucht habe und liebend gerne die letzten fünfzehn Jahre meines Lebens für immer ausradieren würde? Ich ertrage diesen Schmerz nicht mehr und pfeife auf gute Ratschläge! Ich bin müde vom Leben und enttäuscht von mir selbst, dass ich es so weit habe kommen lassen. Ich hätte es vorhersehen sollen und verhindern können …“, sprudelte es aus ihr heraus wie auswendig gelernt, weil sie es einfach schon zu oft als Verteidigung hatte hervorbringen müssen. Ihren Eltern gegenüber, den überforderten Freunden gegenüber und auch ihren genervten Arbeitskollegen gegenüber, die ihr mittlerweile aus dem Weg gingen.

Der Mann hob die rechte Hand, um sie zu bremsen: „Das kenne ich schon zur Genüge von dir, Cattleya. Aber die Zeit läuft ab, Gutes zu tun. Du kannst nicht ewig gegen dein Schicksal ankämpfen. Da draußen wartet eine gute Seele auf dich, die heilen wird, was zerbrochen ist. Doch du musst ein Risiko eingehen und bereit dafür sein, verletzt zu werden, um sie zu finden. Dieser Partner hat genauso ein Recht auf Glück wie du, und wenn du dich weiter dagegen sperrst, wird auch er daran zugrunde gehen. Willst du das?“

Cattleya rieb sich mit beiden Händen das Gesicht. Die Erscheinung blendete sie, und der Traum war viel zu real, um ihn zu ignorieren. „Weshalb sollte das ausgerechnet mich interessieren? Das Schicksal hat mich im Stich gelassen und gemeint, mein Leben auf den Kopf zu stellen und mein Vertrauen auf das Gute in der Welt zerstören zu müssen. Es hat mir die Liebe meines Lebens entrissen, eine hinzugewonnene Familie, mein Zuhause, die gemeinsamen Freunde und mein ganzes Geld. Noch dazu musste ich kurze Zeit auch um meine Stelle im Job zittern, was kein Honigschlecken war. Also warum zum Teufel sollte mich kümmern, was dieses Schicksal nun für erforderlich hält? Egal, wen es betrifft. ICH bestimme mein Schicksal selbst und niemand anderer da draußen.“

Aus unerfindlichen Gründen stieg Wut in Cattleya hoch. Sie stand vom Bett auf, trat direkt an diese Glühboje heran und musste ihren Kopf in den Nacken legen, da er knapp zwei Meter groß war. „Ich lasse nicht mehr zu, dass mir die Liebe begegnet und ich wieder so enttäuscht und verletzt werde. Besser das Risiko erst gar nicht eingehen, bevor ich erneut ein paar Mal auf die Nase fallen muss, um endlich zu lernen, dass in jedem etwas abgrundtief Böses darauf lauert, auszubrechen, wenn man nur lang genug nachbohrt. Ich. Hab. Es. Satt!“

Mit ihrem Zeigefinger stieß sie professorinnengleich gegen diese Brust und hoffte, die Botschaft wäre angekommen. Dennoch fing ihre Mauer zu bröckeln an, und sie merkte, wie ihre Knie zu zittern begannen und ihre Augen erneut feucht wurden. Sie musste um jeden Preis verhindern, dass auch ihre Lippen sich kräuselten, denn sonst würde sich noch ein unansehnliches Flennen hinzugesellen, was sie in der aktuellen schauspielerischen Darbietung nicht gerade als starke Heldin dastehen lassen würde. Erst jetzt identifizierte sie diese Pupillen vor sich, die keine menschlichen waren. Ihr klappte der Unterkiefer auf, als sie Iriden erkannte, die der Erde nachempfunden waren und so viel pures Leben verströmten, dass es unmöglich war, nicht darin zu versinken.

Was ist er bloß?

Kurz bekam sie Ehrfurcht vor dieser Gestalt und wollte einen Schritt zurückweichen, doch der Mann legte rasch eine Hand in ihren Nacken, sodass sie nicht fliehen konnte. Sie bekam es mit der Angst zu tun – was soll das werden?

„Aber kein Mensch hat das Recht, sein Schicksal zu beugen, und du wirst lieben, stärker als jemals zuvor. Du wirst mitgerissen werden von der Schönheit des Lebens und dich fallen lassen und vertrauen. Wenn du deinen Exmann nur endlich loslässt und dir selbst vergibst. Du kannst vielleicht dem Anfang entgehen, aber niemals dem vorbestimmten Ende.“

Und da waren sie wieder. Die glorreichen Tipps eines Unbekannten, der glaubte, ihr das Leben erklären zu können. Der ihr das Erfolgsrezept des Glücklichseins höchstpersönlich eintrichtern wollte wie so viele vor ihm. Es reichte endgültig. Warum konnte nicht jeder da draußen aufhören, sie erretten zu wollen? Sie wollte es nicht anders und es musste akzeptiert werden, dass sie ihren Weg alleine ging. Und zwar nur sie. Doch die Kraft verließ Cattleya, und erneut zogen Tränen ihre Bahnen über die Wangen und sie konnte anstatt einer patzigen Rückmeldung nur ein falsches, lautes Lachen loswerden. Es hörte sich selbst in ihren Ohren total hysterisch und übertrieben an.

„Ich mach dir einen anderen Vorschlag, du Engel, oder was du glaubst zu sein. Mein Traum will mir das leider nicht verraten, aber ich bin es leid. Ich weiß, ich bin gesund, habe ein Dach über dem Kopf und schlingere mich in der Arbeit gerade mal so durch, sodass ich finanziell nicht klagen kann. Andere würden töten, um diese Basis zu haben. Nicht wahr? Willst du mir nicht das weismachen?“

Ihr Gegenüber nickte, doch zog er die linke Augenbraue verunsichert hoch, die genauso an Farbverwirrung litt wie sein Haar. Seine stark geschwungenen Lippen spiegelten plötzlich Misstrauen in einer kalten Linie wider.

„Warum nimmst du dann nicht einfach diese Lebensenergie, die ich in mir trage“, Cattleya breitete ihre Arme aus wie ein Phönix, der aus der Asche stieg, und wurde dabei noch immer von seiner Hand im Nacken fixiert, „und schenkst sie einer todkranken Seele, die zum Sterben verurteilt ist? Ich gebe mein Leben für ein anderes, nur um Frieden zu finden und mit meinem letzten Willen noch Gutes zu tun.“

„Stopp! Sprich nicht weiter, das ist eine Sünde!“, begann dieser Strahlemann und schüttelte den Kopf energisch, sodass das lange Deckhaar wild schaukelte.

„Ich bin dankbar für mein Leben, habe alles ausgekostet und genossen. Es gibt nichts mehr da draußen, was mich noch reizt, und ich würde alles geben, um von diesem Schmerz für immer erlöst zu werden. Also bitte, wenn es in deiner Macht steht – tu es“, sprach Cattleya stolz aus. Erneut kullerten Tränen über ihre bereits feuchten Wangen, und nun konnte sie nichts mehr gegen das Flennen tun, so sehr trafen sie ihre eigenen Worte der Aufgabe und Verzweiflung. Wie weit ist es gekommen …?

Rasch legte er nun auch seine zweite Hand in ihren Nacken und beugte sich zu ihr herab, sodass diese Augen sie noch tiefer in ihren Bann zogen. „Und was wäre, wenn ich dir beweise, dass es sich lohnt, am Leben festzuhalten? Falls ich dir zeige, dass es stärkere Gefühle gibt, als du sie bisher erlernt hast?“

Cattleya schüttelte vehement den Kopf und wollte sich aus der Umklammerung lösen. Es reichte ihr, dieser Albtraum sollte hier und jetzt enden, sie konnte nicht länger. Und egal, wie groß die Sehnsucht nach Geborgenheit und Nähe in ihr auch war, sie hatte diese Gefühle tief in ihrem Inneren eingesperrt und den Schlüssel in hohem Bogen entsorgt.

„Das liegt nicht in deiner Macht. Nichts könnte intensiver sein als das, was ich bereits erleben durfte mit der Liebe meines Lebens, die mich auf so viele Arten und Weisen verletzt, gequält und enttäuscht hat, wie es mir niemals für möglich erschien …“

Doch weiter kam sie nicht, als dieser blonde Hüne sie unangekündigt an sich heranzog und küsste. Es war nicht irgendein Kuss, kein plumper Versuch, sie zum Schweigen zu zwingen. Nein, es war ein Rausch der Sinne, der sie vergessen ließ, dass sie über einen eigenen Körper verfügte. Sie verlor sich in dieser Umarmung und fühlte nur dieses Verlangen, eine Stärke und Wärme, die sie niemals zuvor gekannt hatte. Eine Gänsehaut, heraufbeschworen aus Hitze und Kälte, überströmte jeden Millimeter ihrer Haut und behinderte jeden rationalen Gedanken. Dieser Mann schmeckte nach purem Leben und Energie, seine Hände tanzten über ihren Rücken wie ein Dirigent, der ihre Noten umsetzte, und sie atmete ausschließlich durch ihn. Seine Lippen spielten mit den ihren und lockten eine Sehnsucht hervor, die Cattleya erst jetzt geboren hatte. Sie wollte nichts anderes, als diese geschickten Helfer auf dem Rest ihres Körpers spüren. Ihr Puls spielte zu seinem Takt, und sie wollte sich fallen lassen, egal, wie deplatziert und unvernünftig es war. Was hatte sie noch zu verlieren? Zudem war es nur ein scheinbar schnulziger Albtraum. Und dieser Rausch gerade eben sollte nie, nie, nie wieder enden. Doch als dieser Mann sich unerwartet von ihr löste, wurde es dunkel in ihrem Inneren und ihr Herz schrie nach mehr, als wäre diese Gestalt der Grund, warum es jemals zu schlagen begonnen hatte. Völlig außer Atem und dankbar, dass er sie stabilisierte, flüsterte sie kaum hörbar: „Wer … bist … du?“

Und mit diesem eindringlichen Blick, der die Wahrheit trug, antwortete er: „Ich bin der Schicksalsträger.“

2 | Nicht allein

Die Dunkelheit umhüllte ihn. So wie immer. Nur sein eigener, röchelnder Atem war zu hören in der Stille des Wartens, während sein Inneres in Unruhe kreiste. Er wusste, dass seine Beute in der Nähe war, weil dieses Individuum ihn anzog wie die Motte das Licht. Genauso würde er seinen Tod bringen. Daher folgte er diesem Licht, seinem einzigen Ziel, doch wenn er es eines Tages berühren würde, müsste er sein Opfer verglühen lassen vor Schmerz. Aber nicht nur hier würden sie die Rollen der Natur tauschen. Denn eigentlich war er selbst das Opfer in diesem Spiel von Licht und Schatten. Obwohl er aus dem Schatten geboren war, war er nur der Kollateralschaden, der entstanden war, weil eine Menschenseele da draußen seine eigenen Regeln hatte aufstellen wollen. Zu seinem Leid.

Er glitt mit verzerrten Schritten durch die Gassen der Stadt und streckte seine Sinne nach dem verhassten Feind aus. Eine Flucht war immer schwieriger zu bewerkstelligen als die Verfolgung, und daher wusste er, dass er irgendwann am Ziel ankommen würde, um zu siegen. Er war schon so oft nahe dran gewesen … zu nahe, um zu versagen.

Die Lichter der Menschen traten durch die geputzten Fenster der Häuser, erfreute Stimmen klangen hindurch und womöglich hing auch der Geruch von bereits verspeisten Abendmahlen in der Luft. Doch seine Statur war nur mit dem Nötigsten gesegnet, sodass er weder riechen noch schmecken konnte. Fühlen, Sehen und Hören funktionierten hingegen besser, als es ihm lieb war. Tag und Nacht träumte er mit offenen Augen und malte sich aus, wie es wäre, seinem Schöpfer zu begegnen. Dabei war er nicht der eigentliche Schöpfer, sondern der Verursacher. Und auch vom Träumen konnte nicht die Rede sein, denn alles in seinem Leben war in schwarzem Rauch gehüllt, sodass dieser Schleier seine Wahrnehmung verpestete. Er wusste nicht, wann seine Lider geschlossen oder geöffnet waren, oder überhaupt, ob er welche besaß. Doch durch die nicht aufhörende seelische Qual war an Ruhe und Frieden ohnehin nicht zu denken. Der Schmerz trieb ihn voran, immer weiter auf der Suche nach … IHM. Solange er seine Beute nicht festgesetzt, berührt und bestraft hatte, konnte sein Geist niemals Ruhe finden und die Zeit und die Ewigkeit würden keinen Unterschied mehr machen. Sie waren in seiner Existenz nicht messbare Größen, aber der Schmerz war es. Er war unerträglich.

 

Die düstere Gestalt hob ihre Hände und betrachtete sie. Sie glichen keinen Gliedmaßen mehr. Kaum etwas erinnerte noch an das lebende Wesen, das er einmal gewesen war. Schwarzer Rauch tanzte bei jeder Bewegung seiner Finger um die Gliedmaße, als könnten zwei Materien nicht ineinander verschmelzen und würden dennoch magnetisch voneinander angezogen werden. Ein Phänomen, das ihn ständig umgab und nach außen hin eine Kälte verströmte, die Menschen Gänsehaut bereitete. Und wenn sie nur seinen Atem sehen könnten … sie würden vor Angst versteinern. Oder gar beim Anblick seiner Augen? Er war zum verfluchten, wandelnden Albtraum mutiert, dabei war er selbst der Gute. Warum musste man ihn so bestrafen? Wo war die Gerechtigkeit? Wo gab es dieses Gut und Böse, von dem alle sprachen?

Und mit einem Mal wusste er es. Etwas Unaussprechliches, gar Verbotenes passierte exakt in dieser Sekunde. Das Röcheln seines Atems wurde schneller vor Aufregung.

Was hat das nur zu bedeuten?Als wäre eine neue Ära angebrochen, fühlte er in jedem Schnörkel seines dunklen Daseins, dass eine Regel gebrochen wurde. Eine Regel, die seit Anbeginn des Systems nicht angerührt worden war. Eine Regel, von der niemand je gewagt hätte, sie auch nur zu hinterfragen, und gar wusste, dass es möglich war, sie zu brechen. Es war widernatürlich. Und aus irgendeinem Grund sagte ihm sein Instinkt, dass er mehr mit diesem Ereignis versponnen war, als ihm guttat.

Erneut zog dieser Schmerz durch seinen Körper und ließ ihn verkrampfen, als wäre sein Rücken nicht schon krumm genug gequält. Aber es war wie ein Weckruf. Er musste wieder seiner Bestimmung folgen und IHN suchen. Vielleicht hatte der Feind mit dieser Ahnung zu tun, dass etwas ganz und gar nicht stimmte. Und das erste Mal hatte er selbst pure Angst gehabt. Ein Zustand, den er vor langer Zeit verlernt hatte.

 

 

„Jetzt zier dich nicht so! Drei One-Night-Stands in zwei Jahren sind ein Armutszeugnis, und du verlernst das Vögeln, wenn du so weiter machst.“

Marcel hatte Glück, dass Axel noch nicht den Alkoholpegel erreicht hatte, bei dem ihn sogar die Mäuse im Nachbargebäude hören konnten. Es war ihm megapeinlich, sobald sein Freund auf dem Thema herumritt. „Ist schon gut, Axel. Ich kenne deine Meinung dazu, aber Chiara ist nicht einfach so aus meinem Kopf verschwunden, wenn ich die nächstbeste Frau mit nach Hause nehme, die mich anlächelt, verstanden? Also lass es endlich gut sein, das nervt.“

Marcel lehnte sich dichter an seinen Bierkrug, als ob er hoffe, weise Worte daraus als Echo zu vernehmen. Es war ein anstrengender Tag gewesen, und eigentlich sollte ein Bierchen am Abend in einer Bar mit seinem besten Kumpel noch retten, was zu retten war. Denn der große Deal mit seinem Hauptabnehmer war heute geplatzt, für den er ein sehr lukratives Aktienpaket geschnürt hatte, und dies aus unerfindlichen Gründen. Also war Marcel alles andere als in Feierlaune, und selbst die zwei liebreizenden Damen am Ende der Bar, von der die blonde Variante von Megan Fox ihm zuzwinkerte, konnten daran nichts ändern.

Sie muss ohnehin was an den Augen haben, war er sich sicher und seufzte laut auf.

Sein Kumpel klopfte ihm freundschaftlich auf die linke Schulter und sah ihn wieder so vorwurfsvoll an. Er hatte exakt dieselben dunkelbraunen Augen wie die Bartheke und der Rest der sehr aufdringlichen Einrichtung. An den Wänden waren verschiedenste Alkoholflaschen gestapelt aus aller Herren Länder. In beeindruckenden Farbnuancen lösten sie sich gegenseitig ab, und durch ihre verschiedenen Größen ähnelten sie den Luftsäulen von Pfeifenorgeln in alten Kirchen. Auf ihnen hatte sich bereits so viel hartnäckiger Staub abgelegt, dass sie wohl nur noch samt Nährboden entsorgt werden konnten. Die modernen Barhocker bildeten einen Kontrast zum hellen Untergrund und hier und da hingen Fotos eingerahmt mit VIPs und den Barbesitzern an den hellen Wänden. Natürlich mit Autogramm und gestelltem Lächeln.

Marcel blickte nun Axel an, der scheinbar nicht bereit war, das Thema zu wechseln. Sein schwarzes Haar stand durch viel zu viel Gel zu Berge und sein übertriebener Teint musste erst gestern aufgefrischt worden sein. Dabei war Marcel der festen Überzeugung, nur ein brauner Teint allein ließ einen nicht unbedingt gesünder und erfolgreicher dastehen.

„Das ist mir schon klar, aber irgendwann muss auch die Trauerphase mal ein Ende und du langsam wieder ein geregeltes Leben haben. Ich meine, wir in der Firma schätzen alle deinen bombastischen Einsatz, den du die letzten Monate geleistet hast. Auch dass die Boni dadurch in die Höhe geschossen sind, ist eine einwandfreie Leistung, aber – ich glaub ja selbst nicht, was da aus meinem Mund kommt – Arbeit ist nicht alles, verstehst du, Kumpel? Und ich meine, keine Ahnung, was die Schnitte da hinten dazu bewegt, ausgerechnet mit dir zu flirten – ich würde sie nicht von der Bettkante weisen.“

Unwillkürlich fuhr sich Marcel durch sein Haar und überlegte kurz, ob er nicht doch seine Beine zu der Blondine lotsen sollte, aber warum sollte man sich zu etwas zwingen, das einem im Grunde genommen nicht schwerfallen dürfte? Wenn sich etwas im Leben richtig anfühlen sollte, dann auf eine Frau zuzugehen, ihr ein gewinnbringendes Lächeln zu entgegnen und ihr keinen Zweifel offen zu lassen, „Ja“ zu sagen.

„Nein, Axel. Sie ist nicht die Richtige. Ich weiß es.“

Axel riss die Augen auf, sah mehrmals zu der grazilen Schönheit und dann wieder zu Marcel. „Das ist doch jetzt nicht dein Ernst, oder? Wie kannst du das so schnell beurteilen? Außerdem verlange ich nicht von dir, sie zu heiraten, sondern einfach wie ein stinknormaler Mann deine Fühler auszustrecken, den Macho raushängen zu lassen und zu sehen, ob noch was geht.“

„Ich hasse es, wenn du so redest. Ich dachte, wir sind aus diesem Alter raus …“ Marcel nahm die letzten drei Schlucke Bier in einem Zug und knallte das Glas lautstark auf die Theke.

„Man ist nie zu alt zum Flirten, Marcel, und mit dreißig stehen dir noch alle Türen offen, aber mit deiner miesen Laune verdirbst du auch mir die Chancen.“

Marcel konzentrierte sich auf die dezente Oldiemusik im Hintergrund und roch die Zigarren, die die Stammgäste regelmäßig anheizten. Für ihn war der Abend gelaufen, und Axel war ohnehin zur hängengebliebenen Schallplatte mutiert, die sich einfach nicht abstellen ließ. „Na, dann will ich deinem Glück heute Nacht nicht mehr im Wege stehen. Ich mach mich auf die Socken, alter Freund.“ Marcel stand vom harten Hocker auf und straffte seine Schultern. Er musste sich endlich wieder einmal eine Rückenmassage gönnen, denn etwas Lavendelöl und Fingerspitzengefühl konnten Wunder bewirken, und zwar immer. Sein Herz setzte kurz aus und seine Zunge wurde trocken, als ihm die warmen Hände über den Rücken strichen und er erkennen musste, dass es wie Phantomschmerzen jene von Chiara waren, die ihn abends hin und wieder liebevoll in den Schlaf massiert hatten. Doch Axel riss ihn aus der Erinnerung und stand ebenfalls auf.

„Hey, so war es aber nicht gemeint. Der Abend ist noch jung, also lass mich nicht im Stich. Wie sieht es bei den Ladys denn aus, wenn du mich da allein sitzen lässt?“ Axel brillierte mit seinen gebleichten Zähnen und den ersten Lachfalten um seine Augen. Dennoch konnte Marcel nun nichts mehr hier halten, er hatte genug für diesen Abend. Er wollte nur nach Hause und hoffte, dass ihn dort nicht weitere Erinnerungen heimsuchen würden.

3 | Cattleya

Sie fuhr hoch und war völlig verwirrt. Kurz war sie sich nicht sicher, wo sie war, und griff zur anderen Seite des Doppelbettes, nur um die eiskalte Gewissheit zu spüren, dass sie leer war. Sie blickte sich um, es war ihr Schlafzimmer oder besser gesagt, ihre Koje in ihrer winzigen Wohnung. Keine der modernen, hellen Möbelstücke war ihr Eigentum oder von ihr liebevoll in Szene gesetzt worden. Weder die fliederfarbenen, hauchzarten Vorhänge noch die weiße Ledergarnitur oder der grau marmorierte Fliesenboden. Und obwohl monatlich die Miete für die 47 Quadratmeter von ihrem Konto abgebucht wurde, fühlte es sich nicht nach Zuhause an.

Aber was ist schon Zuhause?,fragte Cattleya sich. Ein Ort oder eine Person?Sie hatte vergessen, wie sich Geborgenheit, Zugehörigkeit und Sicherheit anfühlten. Oder wie schön es war, einen Platz zu haben, wo man gewollt war und man zweifelsohne hingehörte. Was für den Großteil ihres Bekanntenkreises selbstverständlich war, fehlte ihr am meisten.

Als ihr Blick zur bronzefarbenen Wanduhr gegenüber wanderte, folgte ein Stromstoß aus Erkenntnis, dass sie wohl ihren Wecker überhört hatte und zu spät zur Arbeit kommen würde. Und in der jetzigen Situation konnte sie sich keinen einzigen Fehler leisten. Ihr Stand beim Chef war ohnehin nicht der beste, und solche Fehlschläge schürten nur das Feuer und nährten seine Drohungen, sie zu versetzen. Bei dem Versuch, sich aus ihrer mit Blumen gemusterten Decke herauszuwinden, verhedderte Cattleya sich und stürzte unsanft zu Boden, doch für Jammern war keine Zeit. Sie stützte sich auf und rannte ungelenk ins Bad.

Obwohl es über kein Fenster verfügte, flutete genug Tageslicht in die kleine Plantschoase, um ein Desaster im Spiegel zu vernehmen. Cattleya sprang der Kiefer auf. Ihr blondes Haar sah aus, als züchtete ein nistwütiges Rotkehlchen darin seinen Nachwuchs, ihre schlecht entfernte Mascara wirkte, als hätte sie eine schweißtreibende Stunde am Heimtrainer verbracht und ihre Lippen waren so geschwollen wie für gewöhnlich nach ausgiebigem …

„Verdammt, wie konnte das geschehen?“, hörte sie sich selbst fragen. Aber auch das Grübeln über dieses Phänomen war in der Zeit des Funktionierens nicht drinnen. Cattleya hatte ohnehin schon Schwierigkeiten, sich auf die Arbeit zu konzentrieren und Ruhe zu bewahren. Solche Absonderlichkeiten gleich früh morgens gepaart mit der Tatsache, zu spät zu kommen, waren einfach einen Tick zu viel für sie. Sie zog rasch ihr orangefarbenes Spaghettitop und ihre Shorts aus und entsorgte sie lieblos unter dem hellblauen Waschbecken. Dann war Katzenwäsche angesagt, Zähneputzen, Totalrestaurierung des Make-ups und rasch in den Schlaf-Wohnbereich. Sie schnappte sich das erste Outfit, das sich aus dem unordentlichen und völlig überfüllten Kasten neben dem Bett herausziehen ließ. Parallel checkte sie ihre Nachrichten am Handy: Null. Kurz wollte sich Enttäuschung in ihr aufbäumen, doch was sollte sich geändert haben? Es war wieder ein stinknormaler Tag … ein Tag ohne ihn wie der Rest meines Lebens.Trauer gesellte sich nun hinzu und machte die Situation noch aussichtsloser. Die Uhr am Display hingegen drohte mit 8:30 Uhr und leichtem Regen in den nächsten frühsommerlichen Minuten.

„Perfekt, das Wetter passt wie bestellt.“ Cattleya seufzte und suchte im Schuhschrank ihre schwarzen Stöckelschuhe, schnappte sich einen Regenschirm und ließ rasch die Tür ins Schloss fallen, um ordnungsgemäß noch vor 9:00 Uhr die heiligen Pforten des Bürogebäudes zu passieren.

 

 

„Sag mal, ist alles in Ordnung mit dir?“

Cattleya stocherte in ihrem Lachssalat vor sich und drehte mehr die Blätter um, als dass sie sich für den nächsten Bissen entscheiden konnte. Sie war völlig ausgelaugt, konnte aber auch nicht behaupten, sich an einen Albtraum zu erinnern, der für ihre Erschöpfung verantwortlich wäre. Es fühlte sich eher so an, als hätte sie mehrere Stunden in einer Disco abgefeiert und wäre mit einem breiten Lächeln zufrieden ins Bett gefallen. Aber wenn dem so wäre, würde sie sich gewiss daran erinnern, da es solche Ausflüge in die Freuden der Nacht in letzter Zeit viel zu selten gegeben hatte. Dafür nervten sie einfach die glücklichen Pärchen zu sehr, die die Finger kaum voneinander lassen konnten. Sie waren für Cattleya allgegenwärtig und leuchteten in der Menschenmenge knallrot heraus, um ihr ihre Einsamkeit unter die Nase zu reiben. Noch dazu machte sie jede attraktive Frau, die ihr beim Ausgehen begegnete, wütend, da ihre Fantasie ihr Bilder zeigte, auf denen ebendiese Frau die Neue ihrer großen Liebe sein könnte. Natürlich mit einem verliebten Lächeln auf den Lippen und einem geschwollenen Bauch, über den er zärtlich streichelte, als hätte er kein fünfzehnjähriges Vorleben mit jemand anderem gehabt.

Und bei jedem Mann, der Cattleya neugierig ansah …? Tja, das war eine völlig andere Geschichte. Hier kam Enttäuschung in ihr hoch. Sie konnte einfach nur zu Boden blicken, um sicherzugehen, dass sie nicht blöd angemacht werden würde und dadurch ein gefährlicher Wutanfall auf einen Unbekannten herabregnen könnte, der es womöglich auch nicht böse gemeint hätte. Männer waren das Letzte, was sie im Moment gebrauchen konnte, dabei fehlte ihr genau das am meisten – die Nähe und Wärme. Wie verkehrt und grotesk doch das Leben war.

„Erde an Cat? Jemand zu Hause oder hast du dich geistig wieder in einen deiner Romane verflüchtigt?“, scherzte ihre Freundin Bernice und sah sie mit schmunzelndem Ausdruck an. Sie saßen in ihrem Stammrestaurant, wo sie einmal wöchentlich gesunde Kost genossen und mittags Neuigkeiten austauschten. Wenn es welche gab, versteht sich.

Bernice’ dunkelbraune, lange Haarpracht war nur mit einer kleinen Spange an der Stirnpartie aus ihrem Gesicht gezähmt worden und ein leichter Rotstich von ihrer letzten Tönung glänzte über jede glatte Strähne. Ihr blasser, ebenmäßiger Teint ließ sie ewig jung wirken und ihre blaugrünen Augen strahlten immer Fröhlichkeit aus.

„Du sollst mich doch nicht so nennen. Schließlich bin ich keine Katze.“

„Doch scheinbar ist es das einzige Stichwort, was dich wieder ins Hier und Jetzt befördern kann.“ Sie schenkte ihr das schönste Lächeln, sodass Cattleya ebenso lachen musste. Bernice war die beste Medizin, die sie sich in diesen dunklen Zeiten nur hatte wünschen können. Wenn ihre eigenen Eltern und Bernice nicht gewesen wären, würde sie womöglich nur noch als Zombie durch die Gegend laufen. Vielleicht übertreibe ich aber nur …

„Also sag schon, was beschäftigt dich heute so derartig? Ansonsten gibt es entweder nur ein Auslassen über deine Arbeit oder die ewigen Fragen zu deiner gescheiterten Ehe. Und jetzt plötzlich diese nachdenkliche Stille. Was sollte mir nun mehr Sorgen bereiten?“ Bernice strich ihr offenes Haar hinter den Rücken, nur um es dann an ihrer linken Schulter wieder hervorzulegen und beim Sprechen mit den Fingern zu durchkämmen. Sie machte das immer wie automatisch. Einmal hin, einmal her. Womöglich merkte sie dies überhaupt nicht. Bernice’ Teller war längst leer, stattdessen nahm sie ein paar Schlucke ihrer Cola, ließ Cattleya aber dabei nicht aus den Augen.

„Sag mal, haben Frauen auch feuchte Träume?“

Bernice musste beim Trinken laut husten und setzte rasch das Glas ab. Aus ihrem Mund sprühten Cattleya vereinzelt Tropfen entgegen, bis ihre Freundin sich die Hand vorhalten und ihren Hustenanfall besänftigen konnte. Sie klopfte sich fest gegen die Brust und sah Cattleya mit hochgezogenen Augenbrauen an.

„Also doch eine Frage zu einem deiner Romane? Fängst du endlich wieder zu schreiben an? Du hast dieses Hobby ohnehin zu lange schleifen lassen“, krächzte sie heiser und versuchte dann, erneut einen Schluck von ihrer Cola zu nehmen. Diesmal mit respektvoller Vorsicht und einem scharfen Blick auf Cattleya.

„Zwar habe ich zu schreiben begonnen, aber es war eigentlich mehr eine persönliche Frage.“ Cattleya benetzte ihre Lippen und überlegte, wie sie rüberbringen konnte, was ihr im Kopf herumspukte, ohne lächerlich dabei zu wirken. „Ich bin heute einfach völlig durch den Wind wach geworden, habe wahllos ein Outfit herausgekramt …“

„Das sehe ich“, stimmte Bernice grinsend zu und musterte sie neckisch. Cattleya trug eine türkisfarbene Jeans und ein leuchtend gestreiftes Top, welches durch den tiefen Ausschnitt alles andere als bürotauglich war.

„Bin kaum durch meine Haare gekommen …“

„Auch das ist nicht zu übersehen.“ Ihr schelmisches Grinsen versteckte sie nun hinter ihrem halbvollen Glas.

„Und erst im Büro musste ich mich wundern, ob mein Höschen noch frisch aus der Wäsche ist oder …“ Cattleya spürte Blut in ihren Kopf steigen. Sie blickte sich rasch um und hoffte urplötzlich, dass sie nicht zu laut gesprochen hatte.

Bernice hob einen Mundwinkel und Cattleya konnte sehen, dass sie mit einem Lachkrampf kämpfte. Es war ansteckend und sie konnte nur den Kopf schütteln und selbst verstohlen grinsen. „Okay, okay, warum frage ich noch so blöd. Vergiss es einfach!“

„Nein, nein! Das ist eine berechtigte Frage am Mittagstisch. Ich bin nur überrascht, dass du so direkt gefragt hast.“ Sie legte eine Hand verständnisvoll auf Cattleyas Unterarm. In diesem Augenblick fühlte sich diese schmale, helle Holzplatte zwischen ihnen fehl am Platz an. Die großen Fenster des Restaurants zu ihrer Linken waren wie Spiegel zu ihrer Seele, und Cattleya kam sich nackt und aufgeblättert vor. Normalerweise konnte sie offen über solche Themen sprechen, aber … in letzter Zeit nicht mehr.

„Also ich würde sagen, es ist definitiv so. Und das kann auch nur eines bedeuten, mein Fräulein.“

Cattleya war erstaunt und wollte nicht auf die Folter gespannt werden: „Und zwar was?“

„Du solltest endlich wieder den Polizisten kontaktieren.“

4 | Der Schicksalsträger

Vom Anbeginn der Zeit gab es Licht und Schatten, um die Menschheit zu führen und zu leiten. Aus dem Licht entsprangen die Helfer, die den Menschen auf seinem Weg geleiteten und darauf hielten, während die Dunkelheit danach trachtete, ihm Hindernisse in den Weg zu legen, um ihn vom rechten Pfad abzubringen. Doch Licht und Schatten wurden es leid, diese Aufgabe zu tätigen, und nutzten die schwarzen Schafe, um ihre Arbeit zu übernehmen. Jeder Mensch, der zu Lebzeiten das Schicksal eines anderen mutwillig für immer zerstört, soll hundert Jahre dafür büßen. Als Wegbegleiter auf Erden muss er künftig sicherstellen, dass Schicksale sich erfüllen. Fortan wird dieses Werkzeug des Lichts „Schicksalsträger“ genannt, und bei jedem Misslingen wird die Frist seiner Strafe auf Erden um weitere Jahre verlängert.

 

 

Sie beobachtete, wie die goldenen Schicksalsfäden des Paares sich festigten und aufleuchteten. In der Regel fanden die losen Enden sich oft, lange bevor die zwei Individuen sich überhaupt kannten. Der Faden sah aus wie eine glänzende, einfach gedrehte Kordschnur, die für keinen Menschen auf dieser Welt sichtbar war. Ein klitzekleines Detail am Rande, aber dennoch ein göttliches Werkzeug der Führung. Diese Verbindung schien zu Beginn hauchdünn und sehr elastisch gehalten. Als fixer Bestandteil um die menschliche Taille geschnürt, zog er zwei zugehörige Schicksale zueinander. Wenn die Gefahr bestand, dass sich zwei Personen nicht fanden, begann er alarmierend zu pulsieren, bevor er riss und von göttlicher Hand neu geführt wurde. In den meisten Fällen fanden die Seelen ihre Fügungen von alleine, doch in jenen wenigen Situationen, wo dies scheinbar verwehrt blieb, kamen die fleißigen Schicksalsträger ins Spiel.

Je mehr sich verbundene Menschen näherten und je intensiver sich die emotionale Reife entwickelte, desto robuster wurde der Faden. Wenn er letztlich mit einem satten Aufleuchten und glänzenden Partikeln umgeben war, war das Werk vollbracht. Sie waren vereint, solange die Schicksalsinformation im Faden es so vorsah.

Und auch jetzt geschah es direkt vor ihr. Es war ein sehr kostbarer und zugleich zerbrechlicher Augenblick. So viel hätte schiefgehen können, bis die beiden ihr Schicksal angenommen hätten, weil sie alleine nicht zueinander fanden. Doch solange das Band zwischen zwei Menschen die Information darin hielt, dass sie zusammen gehörten, war die Arbeit getan und der gemeinsame Weg besiegelt. Und damit folgte die Erlösung, dass die Beobachterin den Kummer und den Schmerz der beiden Menschen durch Berührung des Schicksalsfadens nicht mehr teilen musste. Immer und immer wieder von Neuem.

Als das glückliche Paar sich nach einem innigen Kuss voneinander löste und die zwei zurück zu ihren Arbeitsplätzen aufbrachen, nutzte sie noch ein letztes Mal die Chance, die Spannkraft des Fadens zu testen, und las die Zukunft der beiden, die sie ansonsten nur in der Zwischenwelt abrufen konnte. Sie erkannte eine Hochzeit, in der die junge Frau weiße Orchideen ins Haar geflochten trug und der Bräutigam eine kleine Träne beim Anblick der Braut vergoss. Die Hochzeitsgesellschaft war minimalistisch gehalten, und das freudestrahlende Rosenmädchen stolperte immer wieder mit ihren kleinen, rosafarbenen Schühchen. Ein weiterer Sprung in der Zeit zeigte, dass sie ihr erstes gemeinsames Kind verlieren sollten und die Beziehung auf eine harte Probe gestellt, aber die Eheleute dadurch noch fester zusammengeschweißt werden würden. Durch die Berührung des Fadens konnte die Beobachterin deren Empfindungen aufnehmen und es beruhigte sie, da mit erfolgreichem Abschluss dieses Schicksals ihre Strafe auf Erden nicht verlängert wurde und sie eine neue Aufgabe zugeteilt bekommen konnte. Es war ein steiniger Weg bis zur Erlösung, aber sie kam dem Ziel Schritt für Schritt näher.

Als sie den Schauplatz unauffällig verließ und das glückliche Pärchen freudestrahlend das letzte Memorandum an sie war, löste sie ihre Erscheinung auf. Aus der unbekannten, weiblichen Arbeitskollegin, die dem jetzt vergnügten Paar die finale Hilfestellung gegeben hatte, sich zu verlieben, wurde wieder der Schicksalsträger, der unsichtbar zwischen den Menschen und Welten wanderte, um seine Bestimmung zu erfüllen. Er stand allein neben den Aufzügen des Bürogebäudes und fühlte sich unsagbar leer. Der zarte Geruch von gebrühtem Kaffee stieg ihm in die Nase. Er fragte sich, wie er wohl geschmeckt hatte. All die geschäftigen Stimmen, das Lachen und das Tippen, das im angrenzenden Büro zu hören war, gaben ihm erneut das Gefühl, ausgeschlossen und ausgestoßen zu sein. Dies war nicht seine Welt, obwohl er vor ungewisser Zeit hier geboren worden war wie jeder andere. Doch nun gab es nur Arbeit und Existieren für ihn, während diese Unwissenden neben ihm richtig lebten und womöglich nicht genossen, was sie hatten. Denn jede Millisekunde zählte, wenn man wusste, es gäbe keine weitere mehr. Nie mehr. Und so existierte man mit diesem bitteren Beigeschmack des Schmerzes und des Kummers der Schützlinge und der Unkenntnis, welches Verschulden ihn heute zu dem gemacht hatte, was er war.

 

Der Schicksalsträger schloss die Lider und ging in sich. Durch Konzentration war es ihm möglich, den Erdboden zu verlassen und im Bruchteil einer Sekunde in der Zwischenwelt zu erscheinen. Einer schneeweißen Welt aus Verbündeten und Leidtragenden, die wie er Tag für Tag und Nacht für Nacht ihre Schuld abbüßten, bis ihnen die Pforten zum Frieden letztendlich eröffnet werden sollten.

Der Schicksalsträger sah sich um. Viele seiner Kollegen waren auf der Erde beschäftigt, um unermüdlich ihre Aufgabe zu erfüllen. Daher schien die Empfangshalle auch gähnend leer. Seine Verbündeten erschienen – so wie er selbst – nur hin und wieder in der Zwischenwelt, um den Überblick über all die Seelen zu behalten, die sie betreuten. Es kamen immer neue hinzu, und durch die permanente Gefahr, von den Söldnern des Schattens erwischt zu werden, waren die Schicksalsträger dazu gezwungen, ständig in Bewegung zu bleiben und ihre Schützlinge so zu besuchen, dass genug Entfernung zwischen dem Träger und dem Söldner lag. Es musste sichergestellt werden, dass, wenn man einmal geortet wurde, das nächste Auffinden wieder zu lange dauern würde, sodass ausreichend Zeit blieb, die Menschen auf ihrem Weg zu ihrem Schicksal anzustupsen, bevor eine andere Seele nach dem Träger des Lichts rief.

Der Schicksalsträger ging über den weißen Untergrund, der ein paar Zentimeter von dichtem Nebel bedeckt war, sodass er nie vollständig seine Füße sehen konnte. Der Empfangsraum war der erste Ort, an dem eine verfluchte Seele erfuhr, dass sie tot war und dies hier alles andere als den Himmel darstellte. Es war der Ort des ersten Kontakts in diesem ausgeklügelten System, an dem man die Aufgaben und Regeln eines Schicksalsträgers erfuhr.

Ehrfürchtig blickte der Schicksalsträger zur Decke, die ein hohes Gewölbe aus in sich verschlungenen, weißen Ästen bildete. In den Zwischenräumen war das schönste Blau des Firmaments zu erkennen. Und das stets. In dieser Welt gab es keine Dunkelheit. Auch die Wände des Raumes wirkten wie gewachsene Felsformationen, deren Oberfläche wie pure Eiskristalle das Ambiente beherrschten. Hier und da ein paar Sprünge, dennoch konnte man zweifelsohne sagen, es war der prunkvollste Bereich der Zwischenwelt.

Durch das reflektierende Licht, das durch die Decke schien, glänzte der gesamte Raum und täuschte darüber hinweg, dass dies kein friedlicher Ort des Ausruhens und Entspannens war. Hier herrschte stets Totenstille, nur das Sonnenlicht strömte als ständiger Begleiter hindurch und wirkte angenehm, obwohl es streng genommen göttliches Licht war, das niemals versiegte.

„Oh, da bist du ja. Du schnürst die Schicksale deiner Schützlinge immer schneller. Du lernst dazu.“

Der Schicksalsträger blickte wenig überrascht über seine Schulter, wo der Getreue mit einem breiten Lächeln auf ihn zukam. Er war wie er ein Schicksalsträger, jedoch von der alten Schule. Während er selbst erst circa ein Drittel seiner Strafe hatte absitzen können und mehrmals mit weiteren Jahren bestraft worden war, war der Getreue schon im Endstadium. Ihm fehlten nur noch in etwa sieben Jahre. Wie lange er aber bereits überfällig war, wollte er ihm niemals anvertrauen. Sie waren von Anbeginn für die Zusammenarbeit und gegenseitige Beratung vorgesehen gewesen, sodass Synergieeffekte und Erfahrungen genutzt werden konnten. Zumindest hatte es der Richter der Zwischenwelt unter diesem Titel verkauft. Denn so etwas wie Freundschaft gab es in diesem System nicht. Kaum noch menschliche Züge, Rituale und Gewohnheiten lebten in diesen dem Menschen nachempfundenen Körpern, die den Schicksalsträgern als bloße Werkzeuge zustanden.

„Ja, es ist vollbracht“, erwiderte er wahrheitsgetreu und wandte sich ihm zu. Gemeinsam schritten sie wie automatisiert in den angrenzenden Sichtraum. Synchron gehend mit verschränkten Armen im Rücken könnte man meinen, sie wären sich so nah wie ein altes Ehepaar. Was wohl daran lag, dass sie in der Zwischenwelt fast ständig Zeit miteinander verbrachten. Immerhin konnte man hier relativ offen sprechen und wurde als das gesehen, was man war, während man auf der Erde nur als unsichtbare Existenz herumschlich, Gedanken der Menschen manipulierte oder sich hin und wieder in eine menschliche Silhouette verwandelte, um etwas vorzutäuschen. Oder man floh … Dieses Konstrukt in einer höheren Sphäre war der einzige Platz, an dem man als Schicksalsträger sein durfte, was man war, ohne sich verstellen zu müssen oder unter Zeitdruck zwanghaft eine Arbeit zu verrichten.

 

 

Bitte lass alles unauffällig wirken. Bitte! Ich tu es auch nie wieder. Versprochen.Die Tatsache, dass sein Getreuer neben ihm stand und vielleicht auf dem Glas in einer Sekunde etwas zu sehen bekam, das nicht sein durfte, raubte ihm den Atem. Er wusste, er war zu weit gegangen und hatte eine Regel gebrochen, nur aus Angst, erneut zu versagen. Er wusste, wenn sein Schützling Cattleya nicht in wenigen Tagen endlich zur Vernunft kommen würde, kassierte er weitere fünf Jahre Strafe in der Zwischenwelt. Ihm war nie bewusst gewesen, dass diese unerlaubte Fähigkeit in ihm geruht hatte und auch nicht diese Arglosigkeit, über Leichen zu gehen, nur um seinen Willen durchzusetzen. Am heutigen Tage war er sich nicht mehr sicher, ob alles so funktioniert hatte, wie er sich das ausgemalt hatte.

„Moment, schalt hier noch mal zurück. Cattleya Mai ist noch immer in deiner Liste. Wie lange betreust du sie nun? Es müssen schon mehrere Monate sein. Der Faden blinkt bereits. Was ist gestern los gewesen?“

Was soll ich ihm diesmal sagen?

„Du warst doch gestern Nacht bei ihr, nicht wahr? Welche Aktionen hast du durchgeführt? Träume, Begegnungen oder den Kartentrick? War sie vielleicht wieder bei diesem Medium? Da scheint sie sonst so zugänglich zu sein …“

„Etwas wurde im System verschoben. Das Gleichgewicht ist gefährdet …“, stammelte er und sein Blick wirkte leicht verschleiert, als hätte er einen Geist gesehen.