Dieses Buch kann ohne Weiteres so gelesen werden, oder – für Neugierige, die ihr Wissen über Gott erweitern wollen – mit Hilfe einer Bibel als Nachschlagewerk. Sie werden erstaunt sein, was man alles erfährt, wenn man die Fußnoten nachschlägt…

MARTIN NEUBAUER

Tekton

Terrys Universum

1

Das dreieckige Fenster war eigentlich keines. Es war ein virtueller Bildschirm, der in Echtzeit darstellte, was sich außerhalb des Schiffes befand. Sterne. Und die schienen sich sehr schnell zu bewegen. Terry wusste, dass das unmöglich war. Sterne bewegen sich nicht. Nicht sie, sondern er musste es sein, der sich bewegte. Das war nicht leicht zu akzeptieren…

Seine Aufmerksamkeit wechselte zu der kleinen, blinkenden Säule, die sich um die eigene Achse drehte und geräuschlos über den Boden glitt. Er beobachtete sie durch halbgeöffnete Augen und versuchte dabei so flach wie möglich zu atmen. Auf der linken Seite des Pseudo-Sofas, auf dem er lag, befand sich ein weiterer Raum. Dort hatte er bereits reingeschaut, aber es gab nichts zu sehen. Glatte Wände, die schwach grünlich leuchteten. Sie waren aus dem gleichen gummiartigen Material beschaffen wie der Rest der Kabine. Hier gab es noch zwei ziemlich große Würfel, von denen er annahm, dass sie so etwas wie Sessel waren. Sonst befand sich nichts in dem Raum – außer dem Roboter und einer dunklen, matten Scheibe, die neben dem dreieckigen Fenster in die Wand eingelassen war. In unregelmäßigen Abständen erschienen darauf unverständliche Symbole, nur, um genauso unerwartet wieder zu verschwinden. Jedenfalls waren an dieser Scheibe keinerlei Tasten oder Bedienelemente zu erkennen. Ob der Roboter mit diesem Teil der Kabine etwas zu tun hatte? Denn sonst, außer dass er sich scheinbar ohne Grund manchmal hin und her bewegte, tat er absolut nichts und erzeugte auch keinerlei Geräusche. Aber Terry war darüber keineswegs unglücklich, denn das gab ihm das Gefühl, unbeobachtet zu sein. Und dieses Gefühl brauchte er, um nachdenken zu können.

Wie oft hatte er von fantastischen Abenteuern geträumt und war beim Aufwachen enttäuscht, dass er weder fliegen noch übermächtige Widersacher besiegen konnte. Aber scheinbar klappt nur in Träumen alles ohne Probleme.

Er zwickte sich noch einmal in den Arm und biss sich auf die Zunge, um ganz sicher zu gehen. Auch diesmal tat es weh, genau wie beim letzten Mal, vor einer Minute. Das hier war definitiv kein Traum. In seinen Träumen tat ihm weder die Zunge weh, noch musste er dringend gewisse Bedürfnisse erledigen.

Er beobachtete den stumm blinkenden Roboter und versuchte, sich die Reaktion vorzustellen, wenn er sich nach einer Toilette erkundigen würde. Aber bislang hatten alle geantwortet, wenn er etwas gefragt hatte. Der Mann mit dem Schnabel im Gesicht, das gedrungene Etwas mit der tiefen Stimme und auch die schlanke junge Dame mit den riesigen Augen. So betrachtet – was konnte schon schief gehen? Er richtete sich auf und wollte den Roboter ansprechen, als die Tür zu dem leeren Nebenraum sich mit einem leisen Zischen öffnete. Im grünlichen Licht zeigte sich zu seiner Überraschung genau die Badezimmerausstattung, die er von zuhause kannte: Waschbecken, Dusche, WC… Wie konnte das sein?

Er stand auf und betrat das Bad. Mit dem gleichen Zischen schloss sich die Tür hinter ihm, und mit Erleichterung bemerkte Terry, dass der Roboter draußen geblieben war. Im Gegensatz zur Kabine schien hier alles so vertraut… irgendwie zu vertraut. Sein Blick blieb an den mit Schmetterlingsmuster bedruckten Handtüchern hängen, und er nahm den Vanilleduft wahr, den seine Mutter immer im Badezimmer versprühte. Schmetterlingsmuster? Vanilleduft? Hier, im Weltraum, auf einem Raumschiff?! Ohne zu zögern zwickte er sich noch einmal kräftig in den Arm und biss sich auf die Zunge.

Autsch!

2

Terry war der dritte und jüngste Sohn der Familie Brunner. Eigentlich lautete sein richtiger Name Tertius – „Der Dritte“ –, ein schöner und außergewöhnlicher Name, wie die Mutter meinte, die Musik und Latein unterrichtete. Seine knapp zwei Jahre älteren Zwillingsbrüder hießen Scipio und Livius. Der Vater hatte diese alt-römischen Kulturanleihen wohlwollend hingenommen, denn er wusste, was geschehen wäre, wenn er sich auf eine Gegenargumentation eingelassen hätte: Stunden und Tage gepflegter Auseinandersetzung, bis er schließlich doch nachgegeben hätte. Als der Anfang gemacht war, bestimmte die Mutter über Bücher, Filme und Hobbys, die ihre Söhne voranbringen sollten. Bei Terry waren das Schach und Klavier. Leider brachten solche Freizeitbeschäftigungen einem Jungen schnell den Ruf eines Strebers ein.

Da war es nur zu verständlich, dass Terry schon sehr früh damit begann, sich im reißenden Fluss des Ehrgeizes seiner Mutter eine Insel zu sichern, wo er seine eigene, ganz persönliche Flagge hissen konnte. Und dafür war ihm jedes Mittel recht.

Alles begann an dem Tag, als Großvater Brunner sich bei einem Sturz mit dem Fahrrad einen Arm brach und nicht mehr alleine wohnen konnte. Terrys Vater nahm ihn mit nach Hause und brachte dadurch eine Lawine ins Rollen.

Der 85-Jährige hatte sich nie besonders gut mit seiner Schwiegertochter verstanden, und als Reaktion auf seine Ankunft kam sofort das Thema Altenheim zur Sprache.

Großvater Franz Brunner war das ausgesprochene Gegenteil von seinem Sohn. Er war ein stets kritischer, etwas rechthaberischer pensionierter Pfarrer. Ein Lutheraner von altem Schrot und Korn. Harmoniebedürftigkeit war in seinen Augen nur etwas für geschwätzige Frauen und Männer, die unter dem Pantoffel standen. Sich herum kommandieren zu lassen – und das gerade von einem Weibsbild, wie er zum Entsetzen von Terrys Mutter Frauen manchmal nannte – war für ihn die Vorstufe zur Hölle. Ob er das tatsächlich so meinte, konnte man sich nie sicher sein, denn er pflegte eine sehr eigenwillige Art von Humor.

Jedenfalls war seine Anwesenheit in der Nähe ihrer Jungs – wobei der Ehemann automatisch dazuzählte – das Letzte, was eine progressive, aufgeklärte und in feministischen Überzeugungen verwurzelte Frau sich wünschte. Aber für Terry war Franz Brunner nicht weniger als die Rettung in der Not.

Aus der Sache mit dem Altenheim wurde nichts: zu rüstig, zu bewegungsfreudig, zu nörglerisch, die Liste war lang. Aber das wichtigste Gegenargument war Zacharias, der fast taube Hund von Opa. Zach, wie er liebevoll genannt wurde, und der alte Mann waren unzertrennlich, und es grenzte an ein Wunder, dass das ergraute Tier den Fahrradunfall in einem Korb überlebt hatte.

Die Folge war, dass sie jetzt noch stärker aneinander hingen, und eine Trennung wegen eines Altenheimes, das bekanntlich keine Hunde duldet, nicht einmal als entfernte Lösung in Frage kam. Und so blieb Großvater Brunner bei seiner Familie.

Jemand musste ihm oft zur Hand gehen und aufpassen, dass er nicht wieder irgendwo stolperte. Für diese Dienste wurde Terry, als jüngstes Kind, auserkoren, und so verbrachten die beiden viel Zeit miteinander. Das geschah, zu seiner gut verborgenen Freude, auf Kosten der Klavierstunden. Mit dem Schachspielen verhielt sich die Sache anders, denn Großvater Brunner war ein gewiefter Taktiker, und es machte Spaß, gegen einen solchen Gegner anzutreten. Auch wenn seine Mutter diese intensive Beschäftigung mit dem Großvater skeptisch betrachtete, so ließ sie ihn gewähren und konzentrierte ihre pädagogischen Bemühungen auf die Abiturvorbereitungen der Zwillingsbrüder.

Das alles spielte sich zu der Zeit ab, als in der Schule ein zweiwöchiges Schnupperpraktikum anstand. Der Sinn des Ganzen war, dass jeder der Schüler sich über eine mögliche Berufslaufbahn Gedanken machen sollte. In der Familie Brunner war die Mutter der festen Meinung, für ihren jüngsten Sohn bereits das Richtige gefunden zu haben.

„Tertius, Musiklehrer ist ein schöner Beruf. Und dein Praktikum kannst du bei uns in der Schule machen. Wir sind sicher“,

sagte sie, und schaute zu Terrys Vater, um die Form zu wahren,

„… dass es für dich das Beste ist. Wir müssen deinen Wunsch rechtzeitig anmelden und dann ist alles in Ordnung. Wo sind die Formulare für das Praktikum?“

Bester Laune schwang sie schon den Kugelschreiber.

„Mama, weißt du, eigentlich habe ich mir gedacht…“

In diesem Augenblick nahmen die Augenbrauen der Mutter die vertraute V-Form an, um kindliche Wunschträume wie Polizist, Astronaut oder Feuerwehrmann im Keim zu ersticken.

„Ich möchte evangelischer Pfarrer werden, so wie Opa!“

Einige Augenblicke lang war die nachfolgende Stille fast mit den Händen zu greifen. Bei der kritischen Haltung, die Tertius Mutter ihrem hartgesottenen Schwiegervater gegenüber hatte, kam diese Aussage einem Schlag unter die Gürtellinie gleich. In Ermangelung einer besseren Idee tat Terrys Mutter etwas höchst Seltenes: Sie drehte sich zu ihrem Mann um und suchte nach einem willigen Verbündeten.

„Sag auch du etwas! Du siehst, was dein Vater dem Kind in den Kopf gesetzt hat!“

Zu Terrys Überraschung machte sein Vater eher den Versuch einer Vermittlung, anstatt wie gewohnt die ihm zugedachte Rolle zu übernehmen.

„Lass ihn machen, Schatz. Vielleicht merkt er jetzt, wie gut es ist, dass du ihm die Musik so ans Herz gelegt hast. Du weißt ja, wie viel sie in der Kirche singen… Und sowieso, ein solches Praktikum dient der Orientierung, und da kann er lernen, was es bedeutet, eigene Entscheidungen zu treffen. Auch wenn es nicht immer die richtigen sind.“

So war der Hausfriede, den der Vater über alles liebte, wieder hergestellt, alle nahmen die Sache hin, und Terry absolvierte das zweiwöchige Praktikum in der evangelischen Kirchengemeinde ihres Stadtviertels.

Er verteilte Gesangbücher zu Beginn des Gottesdienstes, half beim Einsammeln der Kollekte, begleitete die Pfarrerin zum Konfirmandenunterricht und erfreute mit seinen Klavierkünsten die Frauenhilfe. Eine ruhige Zeit, in der alles richtig, aber nicht besonders aufregend verlief. Und wenn es dabei geblieben wäre, dann hätte Terry dieses Praktikum nur als eine flüchtige Episode in seinem Leben abgehakt. Doch es kam ganz anders.

Als die zwei Wochen vorbei waren, mussten alle Schüler seiner Stufe einen Bericht über ihre Erfahrungen in der Arbeitswelt verfassen.

Terry staunte nicht wenig über das, was da zusammenkam.

Seine Klassenkameraden schienen die tollsten Dinge erlebt zu haben: Architekturbüro, Tierarztpraxis, Reisebüro, Tiefbaufirma, Fernfahrer und sogar Polizei und Bundeswehr waren dabei. Jeder konnte spannende Erlebnisse berichten und war der Meinung, dass es kaum etwas Interessanteres geben konnte.

„Und du, Terry, wo warst du denn?“

„Fleißig Mozart im Altenheim gespielt?“

Es folgte ein allgemeines Gelächter. In Sekundenschnelle liefen vor seinem inneren Auge die vergangenen zwei Wochen ab: Die Frauenhilfe, die Mahlzeiten für Obdachlose, der Kirchenchor und die Orgellieder vergangener Jahrhunderte…

Damit sollte er die Tierarztpraxis, oder die Polizei übertrumpfen?

Keine Chance, dachte Terry und in seinem Schädel ratterten alle Rädchen auf der Suche nach einer Lösung.

„Tertius Brunner, jetzt bist du dran mit deinem Bericht.“

Es war der Klassenlehrer, der eine Antwort erwartete, und jetzt verstummte auch das Gelächter der anderen.

„Was hast du während deines Praktikums erlebt?“

Terry wusste, dass die Zeit zu überlegen vorbei war. Er wartete noch ein paar Sekunden bevor er ganz ruhig erwiderte:

„Ich habe Gott getroffen.“

Niemand lachte mehr. Kein Witz, kein Ton. Die Blicke huschten zwischen Terry und dem Klassenlehrer hin und her.

„Brunner, ich habe schon lustigere Späße gehört!“

Er wartete einige Augenblicke, aber es kam nichts weiter.

„Also, dass du bei deinem kirchlichen Praktikum etwas über Gott erfahren hast, das kann ich verstehen. Aber was hast du daraus für deine Zukunft gelernt?“

Terry begriff, dass ihm der Klassenlehrer durch diese Frage einen Ausweg bot, und fast hätte er davon Gebrauch gemacht, wenn die Haifischaugen seiner Klassenkameraden ihn nicht so fixiert hätten. Sie hingen förmlich an seinen Lippen und hofften, dass er sich mit einem Rückzieher blamierte. Spott und Hohn wären ihm sicher gewesen.

Also hielt Terry nicht nur an seiner ersten Antwort fest, sondern legte noch eins drauf.

„Sie meinen, was ich noch Wichtiges gelernt habe bevor oder nachdem Gott zu mir sprach?“

Was Gott ihm gesagt hatte, wollte er natürlich nicht erzählen.

„Das ist eine ernste Angelegenheit, und ich habe nicht den Eindruck, dass ihr mich ernst genug nehmt.“

Das war Terrys letztes Wort in dieser Sache.

3

In der nächsten Lehrerkonferenz stand dieses Thema auf der Tagesordnung, und für Terrys Eltern war es nicht leicht, die Wogen zu glätten. Aber seine Mutter war auch Lehrerin, und sie wusste ganz genau, was empörte Kollegen hören wollen, um sich wieder zu beruhigen.

Was blieb, war die Erkenntnis, dass auch ein bislang erstklassiger Schüler manchmal unberechenbar sein konnte.

Viel schlimmer war es auf dem Schulhof, denn scheinbar hatten alle von dieser Geschichte erfahren.

„Na, hat Gott dich heute angerufen? Vielleicht kannst du ihn fragen, welches Thema unsere nächste Physik-Klausur hat?“

Spätestens jetzt erfuhr Terry, dass man es auch übertreiben konnte mit dem Wunsch nach Anerkennung und Aufmerksamkeit. Was seine Eltern betraf – die waren ziemlich ratlos und hielten ihm endlose Vorträge über Ehrlichkeit und Verantwortung. Nur von seinem Großvater kam Unerwartetes. Als er die Geschichte erfuhr, sagte er seelenruhig zu Terrys Mutter:

„Also, nur mit der Ruhe. Wer kann schon mit Bestimmtheit sagen auf welche Weise uns Gott anspricht? Die Bibel ist voll von Berichten über Menschen, mit denen Gott sprach, und es waren nicht immer Helden, Könige oder… Lateinlehrerinnen!“

Terrys Mutter schluckte ihre Wut runter, denn einem Pastor, auch wenn er längst in Pension war, konnte sie in einer Glaubenssache schlecht widersprechen.

„Zu wem Gott spricht, und warum die anderen Menschen kaum davon Notiz nehmen, das ist und wird für immer ein Geheimnis bleiben.“

Als Großvater Brunner mit Terry darüber redete, geschah es ohne Zeugen und er machte ihm keine Vorwürfe. Sogar der alte Zacharias wedelte mit seinem etwas kahlen Schwanz hin und her und leckte seine Hand ab, um ihm zu zeigen, dass alles in Ordnung war.

„Tertius, mein Junge, manchmal tut man Dinge im Leben, die eine ganz bestimmte Bedeutung haben. Ob eine gute oder eine schlimme Sache daraus wird, hängt immer von einem selber ab. Aber wenn man Gott ins Spiel bringt, dann sollte es sich um etwas Wichtiges handeln. Was meinst du dazu?“

Terry konnte darauf nichts antworten.

„Opa, was soll ich jetzt tun?“

„Siehst du Tertius, darauf habe ich gewartet. Kein Trübsal blasen, sondern klar die Lage im Blick behalten und eine Lösung suchen. Was du tun musst, ist ganz klar: Du solltest dein Vertrauen zu dir selbst zurückgewinnen.“

Er machte eine Pause, um zu signalisieren, dass es jetzt wirklich ernst wurde.

„Immer wahrhaftig und standhaft sein. Du hast allen erzählt, dass du mit Gott gesprochen hast – und jetzt bist du deswegen unsicher!“

Terry nickte zögernd.

„Wenn es nur das ist, dann ist die Lösung einfach, aber nicht leicht: sprich mit Gott und kläre das mit ihm, dann wird es dir gleich sein, was die anderen von dir denken.“

Terry war überrascht, aber er spürte, dass sein Großvater wirklich meinte, was er sagte, und er wollte unbedingt Schluss machen mit dieser verfahrenen Situation, die ihn seit Tagen gefangen hielt.

„Wie soll ich das machen – mit Gott sprechen?“

„Genauso, wie du jetzt mit mir redest, Tertius, ganz genauso. Aber vorher musst du etwas Bestimmtes lernen, sonst verstehst du nicht, was er dir antworten wird. Du musst seine Sprache lernen.“

„Seine Sprache? Wie meinst du das, Opa? Spricht Gott nicht jede Sprache?“

„Das stimmt, mein lieber Tertius“,

antwortete ihm sein Großvater lächelnd,

„aber was ich meine, ist nicht die Sprache an sich, sondern was Worte tatsächlich bedeuten, wenn sie in einem bestimmten Sinn benutzt werden. Wenn es um das Verstehen der Worte Gottes geht, um seine Sprache, dann kannst du das nur aus der Bibel lernen.“

Er erhob sich aus seinem alten Ledersessel, ging zum Regal und holte eine kleine, zerfledderte Bibel heraus.

„Das ist sie, die Lösung deines speziellen Problems und vielleicht sogar ein bisschen mehr als das, wenn du dafür genug Geduld und Verstand hast.“

„Und du meinst, wenn ich das lese….“

Terry wollte weiter fragen, aber da war nichts mehr zu holen.

„Wenn du genug Verstand hast, habe ich gesagt! Wenn die Juden 5861 in ihrer babylonischen Gefangenschaft so sehr mit ihrem Schicksal gehadert hätten wie du jetzt, dann hätte sie Gott nie nach Hause zurückgeführt. Und jetzt raus mit dir, Taten sprechen mehr als Worte!“

Es war tatsächlich der letzte Satz, den Terry hörte, bevor er aus dem Zimmer geschoben wurde. Aber er hatte verstanden, dass Großvaters Rezept ihn retten konnte: Alle, die ihn belächelt hatten, weil er mit Gott gesprochen hatte, sollten merken, dass es da nichts zu lachen gab. Er war jetzt sicher, dass er allen zeigen konnte, auch seinen Eltern, dass er die Sprache Gottes beherrschte, und dass er mit Gott reden konnte, wenn er wollte. Plötzlich erschien ihm alles so einfach und klar, nur eine Sache war nötig: Die Bibel lesen.

Auch wenn der Plan auf den ersten Blick einfach aussah, erforderte er doch viel Zeit und Geduld. So kam es, dass kaum jemand Terry in den Sommerferien draußen antraf. Er hütete sein Zimmer und verfolgte eifrig sein Vorhaben: das Buch der Bücher Seite für Seite zu lesen. Ganz nebenbei ergab es sich, dass ihm auf diese Weise Begegnungen mit grinsenden Kollegen, die dumme Fragen stellten, erspart blieben.

Schnell merkte er, was jeder merkt, der ernsthaft vorhat, sich mit der Bibel zu beschäftigen: Das Buch war wirklich dick, und am Anfang verlor er immer wieder die Geduld bei den schier unendlichen Einzelheiten, Namenslisten und so manchen Wiederholungen, deren Sinn er kaum verstand, und außerdem redete heute kein Mensch mehr so.

Zum Glück war Opa Brunner da, wenn es darauf ankam. Der wusste auf alles eine Antwort, die erstaunlich kurz und einprägsam sein konnte und fast immer mit der gleichen Aufforderung endete:

„…und nun mach weiter so, Junge. Je mehr du liest, umso besser und klarer wirst du alles verstehen können.“

Dennoch, trotz aller Mühe und Zeit, schaffte er es kaum, das Alte Testament bis zum Ende der Ferien ganz zu lesen.

1  Etwa im August 587 vor Christus wurde Jerusalem von Nabukadnezar, dem babylonischen Herrscher, erobert. Ab 586 befanden sich viele Mitglieder der sogenannten Oberschicht, darunter die königliche Familie, Adlige, Großgrundbesitzer und ausgesuchte Handwerker der Königreiches Juda, im Exil in Babylon.

4

Die Spannung am ersten Schultag war für Terry kaum zu ertragen. Schon am Eingang des Schulgebäudes erwartete er jeden Augenblick, von irgendeinem Klassenkameraden als „Vertrauter Gottes“ angesprochen zu werden oder noch Schlimmeres.

Aber zu seinem Erstaunen geschah nichts dergleichen. Irgendwie hatten die sechs Wochen Sommerferien wohl ein Wunder bewirkt. Er war wieder der alte Klavier-Schach-Streber, der keinem auffiel, mit dem Unterschied, dass ihm jetzt diese Rolle gar nicht mehr so übel erschien. Auch seinen Lehrern war es offenbar lieber, „die alte Geschichte“ nicht aufzuwärmen. Nur bei seinem Klassenlehrer hatte Terry den Eindruck, dass er noch eine Weile aufmerksam im Auge behalten wurde, aber mehr auch nicht.

So kam das neue Schuljahr langsam in Gang, mit einer typischen Mischung aus alten Gewohnheiten und neuen Herausforderungen. Dazu zählte auch eine Besonderheit, die Terrys Jahrgangsstufe erwartete: Die traditionelle einwöchige Fahrt nach Frankreich zu ihrer Partnerschule. Schon die sehr lange Busfahrt und der Wegfall des normalen Unterrichtes waren toll, aber dieses Jahr gab es etwas Einmaliges, was sie unter allen anderen Jahrgängen für immer auszeichnen würde.

Am Ende der Woche, als Höhepunkt der Reise, sollten sie gemeinsam am Point du Hoc, auf einem Felsen an der normannischen Atlantikküste, eine totale Sonnenfinsternis erleben!

Für mehr als zwei Minuten würde um die Mittagszeit in einem schmalen Korridor von etwa einhundert Kilometern Breite dunkelste Nacht herrschen. Es ging dabei um eine sehr seltene astronomische Besonderheit. Der Mond sollte am helllichten Tag die Sonne bedecken, und dadurch würde es, für eine kurze Zeit „sonnenfinster“.

Schon bevor die Fahrt nach Frankreich losging wurden sie, um ohne Gefahr das ganze Spektakel verfolgen zu können, mit getönten Filtersonnenbrillen ausgestattet. Durch diese Errungenschaft geadelt, konnten sie voller Stolz auf alle anderen Schüler herabschauen, die nicht das Glück hatten, dazuzugehören.

Was die Anfahrt und die ersten Tage anbelangte, gab es nicht viel zu sagen. Die Eltern hatten sie – wie erwartet – so verabschiedet, als würden sie sich jahrelang nicht mehr sehen. Die Mütter waren dem Weinen nah und die Väter bemühten sich, die Koffer ihrer Kinder in die Busse zu stopfen. Sogar Opa und Zach waren gekommen, obwohl die Reise sehr früh am Morgen startete. Kurz bevor es losging, steckte ihm Opa Brunner seine kleine Bibel zu.

„Sowas sollte man immer dabei haben, wenn man unterwegs ist, hörst du?“

Ohne ein weiteres Wort ließ Terry das schwarze Büchlein sofort in seiner Jackentasche verschwinden in der Hoffnung, dass keiner etwas bemerkt hatte.

Die Busreise dauerte über vierzehn Stunden, und als sie ihren Zielort erreichten, waren sie völlig gerädert.

Die Schüler der Partnerschule empfingen sie mit einem französischen und einem deutschen Lied, waren sehr nett und trotz oder vielleicht wegen der mäßigen Verständigungsmöglichkeiten, besonders lustig. Am zweiten Tag, obwohl alle noch sehr müde waren, folgten nach dem regulären Schulbesuch ein Rundgang zum Bürgermeister, zum Stadtmuseum und abends ein Theaterbesuch. Beim letzten Programmpunkt waren die meisten in den gemütlichen Sesseln eingeschlafen. Täglich ging es so weiter: Frühstück mit Milchkaffee und Croissants, Programm ohne Ende. Und dann kam der große Tag der Sonnenfinsternis.

Aus drei Bussen herausströmend wurde die Küste in Höhe von Point du Hoc in Besitz genommen. Die mobilen Eisverkäufer der Gegend machten an diesem Tag ihr Geschäft des Sommers.

Von den hohen Klippen war die Sicht auf den Atlantik atemberaubend, und bis auf das nervige Geschrei der Möwenscharen, die in der normannischen Felswand zuhause waren, schien es ein verheißungsvoller Nachmittag zu werden. Alle aßen Eis, schleuderten Steine in den Atlantik, und schauten ungeduldig auf ihre Armbanduhren.

Die Filtersonnenbrillen lagen längst bereit, und jeder wartete auf den großen Augenblick, in dem der Kernschatten des Mondes anfangen würde, die Sonne zu verdunkeln.

Um 11.13 Uhr war es soweit. Der Mond schob sich vor und ließ die Sonne aussehen, als hätte jemand ein Stück von einem Keks abgebissen, wobei dieser ‚Biss’ von Augenblick zu Augenblick größer wurde.

Dann war alles dunkel. Stockfinster. Und merkwürdig still. Plötzlich und gleichzeitig verließen Tausende von Möwen die steile felsige Küste, drehten völlig durch und kreischten wie verrückt in wilder Panik.

Eine unheimliche Atmosphäre.

Verstärkt durch die Filterbrillen erschien die Dunkelheit noch finsterer als sonst. Man hörte die bekannte Stimme des einen oder anderen Lehrers, der jetzt versuchte, die Gemüter zu beruhigen.

„Bald ist alles vorbei. Die totale Dunkelheit wird nur knapp zwei Minuten anhalten.“

Obwohl Terry wusste, dass er keine Angst zu haben brauchte, kam er sich klein und unwichtig vor. Dieses gewaltige Naturspektakel brachte ihn auf den Gedanken, dass der Mensch nur ein winziger Teil dieser Erde, und dass das Universum unermesslich war.

Die zwei finsteren Minuten müssten jetzt bald vergangen sein, und Terry erwartete jeden Augenblick, die Sonne wieder zu sehen. Gerade jetzt sollte die Brille nützlich sein. Direkt in die Sonne zu schauen sei gefährlich – davor hatten die Lehrer oft genug gewarnt. Also passte Terry genau auf und hielt sogar die kleine Bibel, die er nicht im Bus lassen wollte, als zusätzlichen Schutz vor seine Augen.

In diesem Augenblick spürte er einen kaum wahrnehmbaren Ruck. Merkwürdigerweise wurde er begleitet von einer tiefen Stille. Kein nerviges Gekreische der Möwen mehr, keine beruhigenden Stimmen der Lehrer und auch kein blöder Witz von seinen Kollegen war zu hören. Nichts. Er fragte sich, ob irgendjemand mit der Information über die Dauer der Finsternis daneben lag.

„Hey!“

Keine Antwort.

„Hallo?!“

Nichts. Kein Wort von einem Mitschüler, noch irgendein anderes Geräusch. Als wäre da kein Wind und kein Ozean mehr. Nichts. Einfach nichts. Terry schaute sich seine Hände an, aber er konnte nicht einmal die Umrisse seiner Finger erkennen. Nur die Leuchtziffern seiner Armbanduhr waren sichtbar.

In dieser völligen Finsternis erstrahlte plötzlich ein bläulicher Lichtkegel, der ihn sehr präzise erfasste. Vor Schreck machte er zwei Schritte rückwärts und nahm wahr, dass der Boden eine andere Beschaffenheit besaß. Er schaute nach unten und merkte, dass er gerade von einem hauchdünnen Graskreis herunter getreten war. In diesem Augenblick erweiterte sich der Lichtkegel blitzschnell.

„Im Namen des Schöpfers aller Dinge, sei gegrüßt!“

Die Stimme sprach fast ohne Schwingung.

„Mein Gott“,

sagte Terry leise,

„wohin bin ich geraten?“

Nach drei endlosen Sekunden ertönte die monotone Stimme erneut.

„Willkommen in unserer Mitte, Anbeter des Einzigen!“

Der bläuliche Lichtkegel erweiterte seinen Radius, und Terry, halb geblendet, fand sich auf der untersten Ebene eines trichterförmigen Raumes wieder. In mehreren plattformartigen Etagen erkannte er Gestalten, die an unterschiedlichsten Geräten arbeiteten. Die Umrisse waren noch zu undeutlich, um sich sicher zu sein, was er tatsächlich sah. Aber zumindest war die gespenstische Ruhe jetzt vorbei. Eine Flut von unbekannten Geräuschen stürmte auf ihn ein.

Starr vor Schrecken entdeckte Terry eine Gestalt, die in der Dunkelheit offenbar die ganze Zeit neben ihm gestanden hatte. Ein hagerer, großer Mann, der einen papageiähnlichen Schnabel im Gesicht trug. Sein Kinn war so in die Länge gezogen, dass man vermuten konnte, es sei ein Bart. Die Haut hatte eine helle, mattgraue Farbe, und er war ganz in ein schimmerndes Dunkelblau gekleidet. Auf seinem, im Vergleich zu seiner Statur ziemlich kleinen Kopf, trug er eine eng anliegende halbrunde Kappe, die aus Metall zu sein schien. Mit schwarzen Augen sah er Terry an, und nach einigen Sekunden sprach er mit einer erstaunlich freundlichen Stimme:

„Willkommen in unserer Mitte, Anbeter des Einzigen!“

Diesmal klangen die Worte nicht mehr monoton und ohne Schwingung, wie Terry sie vorher vernommen hatte. In einer langsamen Bewegung beschrieb die hagere Gestalt mit ihrer rechten Hand einen weiten Bogen durch die Luft und verbeugte sich – was einer zeremoniellen Begrüßung nahe kam.

„Du bist sicherlich überrascht, dass du nicht vor dem Zeitmeister stehst, nicht wahr? Aber da du jetzt hier bist, bin ich sicher, dass wir ihm bald begegnen werden.“

Der Blaugekleidete deutete erneut eine leichte Verbeugung an.

„Mein Name ist Mlouff. Ich bin wie du ein Priester des Meisters der Zeit und Höchsten des Universums. Der Rat der TaGoRa hat mich beauftragt, dich mit allen Ehren zu empfangen.“

„Ich… was…?“

Mehr brachte Terry nicht heraus. Es lief ihm kalt über den Rücken.

„TaGo… wie?! Was ist das überhaupt für ein französischer Abschiedsscherz?“

Während er das sagte, liefen ihm blitzartig die Erzählungen über französische Schulabschiedsscherze der letzten Jahre durchs Gedächtnis. Aber dann vergrößerte sich der orange Lichtkegel, und der ganze Raum wurde sichtbar. Er schaute angespannt in die Runde und erkannte, dass nicht alle Wesen, die um ihn versammelt waren, gleich aussahen. Überhaupt sahen sie nicht wirklich wie Menschen aus. Auch die Gestalten, die er auf den unterschiedlichen Plattformen erkannt hatte, waren keine Menschen. Und die Ausmaße des Raumes ließen ihn daran zweifeln, dass alles nur ein Scherz oder eine Täuschung war.

„Ich habe euch gesagt, dass die Bewohner dieses Systems noch viel zu primitiv sind. So was geschieht immer, wenn man die Kontaktprotokolle missachtet. Wenn wir uns strikt an das Raumfahrtgesetz in der ursprünglichen Korron-Fassung gehalten hätten, dann wäre das hier nie passiert. Und was haben wir davon? Eine Kuriosität an Bord!“

Die Gestalt, die das gesagt hatte, kam einige Schritte auf Terry und Mlouff zu. Ihre Körperform war annähernd humanoid, hatte aber praktisch keinen Hals und einen fast zylindrischen Kopf. Beide Arme waren sehr hoch angesetzt und wirkten kräftig. Die Augenbrauen umrahmten die Augen vollständig und erinnerten an eine sehr altmodische Schildpattbrille oder ein Marinefernglas. Das Wesen strahlte bei etwas über eineinhalb Metern Größe sehr viel Kraft aus, und als es sich bewegte, mutete das fast mechanisch an. Es trug ein langes, braun-gelbliches Gewand, das verschiedene geometrische Symbole auf Brust und Schultern erkennen ließ. Als es sprach, klang die Bassstimme guttural, und Terry vermutete deswegen, dass er es mit einem männlichen Exemplar zu tun hatte.

„Wie auch immer, auch eine Sondergenehmigung ist eine Genehmigung, und was der Rat beschließt und eine gültige Registriernummer erhält, das wird genau ausgeführt! Jemand hat sich ab sofort um diesen…“,

er überlegte einen Augenblick lang,

„… diesen Wasserplanetarier zu kümmern und ihm alles so zu erklären, dass er uns nicht im Wege steht. Er muss so schnell wie möglich produktiv integriert werden. Mlouff, Sie übernehmen diese Aufgabe.“

Er drehte sich um und entfernte sich ohne ein weiteres Wort.

„Entschuldige die Schroffheit von ThreBark. Nicht alle Korron sind so. Er hat als Astronavigator und Erster Offizier dieses Schiffes wenig Verständnis für geistliche Angelegenheiten. Aber wir geben die Hoffnung nicht auf, nicht wahr?“

Mlouff erzeugte eine Art Kichern und klapperte einige Male schnell mit seinem Schnabel.

„Lass uns den Empfangsraum verlassen. Ich werde dir alles erklären, was nötig ist. Aber vorher willst du bestimmt ein Reisegebet sprechen. Wollen wir zum Tempel gehen?“

Mlouff zeigte ihm die Richtung und berührte dabei seine linke Schulter mit der Spitze seiner hellgrauen Finger, die im eigentlichen Sinne gar keine waren, sondern lange und schuppige Federn. Und doch schien er sie biegen und damit etwas festhalten zu können. Spätestens jetzt war Terry klar, dass er sich nicht in einem merkwürdigen Traum befand, sondern in einer total abgedrehten Wirklichkeit.

Da gab es plötzlich keine französischen Felsen in der Normandie mehr, keine Sonnenfinsternis, keine Schulklasse und auch keine Busreise zurück nach Hause. Dafür aber ein Raumschiff?! Was blieb ihm jetzt anderes übrig, als seinen ganzen Mut zusammen zu nehmen und einfach mitzumachen? Er entschloss sich, Mlouff zu folgen, der gerade im Begriff war, den trichterförmigen Raum zu verlassen.

Sie bestiegen eine durchsichtige, sitzlose Zelle. Diese erinnerte an einen Aufzug, konnte aber nicht nur nach oben und unten, sondern auch horizontal gleiten. Obwohl die Zelle ständig an einer unsichtbaren Schiene zu hängen schien, war sie eher Fahrzeug als Fahrstuhl. Unterwegs erblickte Terry unzählige Räume, die in verschiedene Licht-und Farbtöne getaucht waren. Was fest stand, war, dass er keines der Geräte oder der Einrichtungen, die er sah, einordnen konnte. Eigenartige Geschöpfe bewegten sich durch die Flure und Gänge, verließen oder betraten Räume und bedienten computerähnliche Gebilde oder andere Anlagen, deren Bedeutung rätselhaft blieb. Wie viele unterschiedliche Arten von Wesen es gab, war bei der Geschwindigkeit des Zellenfahrzeugs nicht festzustellen. Aber mindestens eine Spezies fiel Terry unter ihnen auf, die sehr menschenähnlich aussah – und das machte ihm Mut.

Schließlich stoppte das durchsichtige Gefährt, und sie stiegen durch eine sich geräuschlos öffnende Luke aus. Die Halle, die sie betraten, war riesig, zylindrisch und sehr hoch. Der glatte, rotorange Fußboden hatte einen Durchmesser von mindestens einhundert Metern. In der Mitte erhob sich ein Podest, auf dem sich ein schwarzes, eiförmiges Gebilde befand. Es war so groß, dass Terry sofort an einen Heißluftballon denken musste.

Gemeinsam kamen sie dem „Ei“ so nah, dass sie sich darin spiegeln konnten. Mlouff blieb stehen, betrachtete es und breitete seine Arme aus, wobei er seine federartigen Finger spreizte. Mit einer völlig anders kleingenden Stimme als bisher, begann er rhythmisch zu sprechen:

„Wohl dem, der auf dem Weg des Lichts schreitet! Wohl dem, der deine Weisungen entgegen nehmen darf, o, Du Meister der Zeit! Höre meinen Gesang, und gib uns den Geist der Ewigen Meditation!“

Er wartete eine Weile.

Es vergingen lange Minuten, bis er sich zu Terry umdrehte und ihn wieder ansprach.

„Wir, ich und das ganze debonische Volk, leben aus diesem Geist. Unsere Kraft liegt im Fluss der Zeit und in der Unveränderlichkeit des Seins. Aber die TaGoRa braucht jetzt mehr als das. Wir brauchen einen konkreten Hinweis, eine Richtung, der wir weiter folgen können. Zu dir, als Priester eines so jungen Volkes, spricht der Hohe Geist des Universums auf eine Weise, die wir längst vergessen haben. Mache ihn auf uns aufmerksam, erzähle ihm von unserer Suche!“

Terry war so überrascht von dieser Bitte, dass er gar nicht auf den Gedanken kam, zu widersprechen. Was meinte das graue Vogelwesen mit Priester eines jungen Volkes? Und wer waren, was suchten, und vor allem was wollten diese Leute von ihm?

Das alles war beeindruckend und so Furcht erregend zugleich, dass er verzweifelt versuchte, sich an irgendetwas festzuklammern. Er steckte reflexartig seine Hände in die Jackentaschen, und presste dabei seine Fäuste fest zusammen. Da spürte er einen vertrauten Gegenstand.

„Mein Gott“,

dachte er – und in diesem Augenblick wusste er schon, was er zu tun hatte.

Er holte aus seiner Jacke seine zerfledderte Bibel heraus, und ohne zu zögern öffnete er sie auf Geratewohl in der Mitte. Er stellte sich vor das riesige „Ei“, genauso wie er es bei Mlouff beobachtet hatte, und begann laut vorzulesen:

Wenn ich rufe, erhöre mich, Gott meines Rechtes! Der du in Drangsal mir Raum geschafft, sei mir gnädig und erhöre mein Gebet! Ihr Männer…“2

Weiter kam er nicht, denn hinter sich hörte er mehrere Stimmen und Lärm von zwei sich nähernden Personen.

„Wie ich sehe, hoch verehrter Mlouff, sind Sie schon dabei, ihren männlichen Universalschlüssel für die Erlösung der Galaxie einzusetzen.“

Einer der beiden Neuankömmlinge war der Erste Offizier ThreBark, dem Terry schon bei seiner Ankunft begegnet war. Aber die Stimme, die so ironisch sprach, gehörte nicht ihm, sondern einer jungen Frau, die auf den ersten Blick beinahe wie ein Mensch aussah. Sie hatte glänzend schwarzes Haar, das fast schon bläulich schimmerte, eine sehr schmale Taille und breite Hüften. Ihre Augen waren wirklich groß und das hübsche Gesicht erinnerte an ein japanisches Manga-girl. Sie begrüßte den vogelartigen Priester mit einer tiefen Kopfbeugung, und wandte sich danach Terry zu.

„Mein Name ist Tala. Ich bin die Leiterin der Xenoforschungsabteilung an Bord dieses Schiffes. Und, um das von Anfang an klarzustellen: auch wenn du nur ein Mann bist, erwarte ich trotzdem Einiges von dir. Übrigens – die Einladung zu dieser Reise durchs Universum verdankst du meinem Vorschlag.“

Sie blinzelte einige Male mit ihren großen Augen, die jetzt fast noch größer schienen.

„Also, willkommen auf der TaGoRa, unserem Forschungsschiff. Wie der Hohepriester Mlouff dir sicherlich bereits sagte, scheinst du Einiges über den Meister der Zeit zu wissen. Tja, der Priesterberuf ist offenbar ziemlich verbreitet in den Galaxien.“

Tala lächelte einen Augenblick und zeigte dabei eine spitze, rosa Zunge. Terry war nicht ganz klar, ob ihre Feststellung nicht einen Funken Ironie in sich barg, aber sie ließ ihm kaum Zeit, darüber nachzudenken.

„Na ja, wie dem auch sei: Wie nennt dich dein Volk?“

Na, endlich, dachte Terry und stellte fest, dass ihm gerade die erste Frage gestellt wurde, die er überhaupt beantworten konnte. Zumindest eine Sache war klar: Was auch immer hier los war, sie wollten etwas von ihm. Worum es dabei ging, spielte jetzt keine Rolle, aber der einzige, der ihn seit seiner Ankunft stets wohlwollend und respektvoll behandelt hatte, war dieser komische Mlouff. Und der war offenbar Priester und übte eine von allen anderen anerkannte Funktion aus.

Priester zu sein, zumindest für eine Weile, erschien Terry gar keine so schlechte Alternative. Er streckte den Rücken, nahm eine – seiner Meinung nach – bedeutungsvolle Pose ein und sprach so klar und deutlich er konnte:

„Mein Name ist Tertius, aus dem Hause der Brunner.“

Schemenhaft hatte er diese Art der Vorstellung in Erinnerung aus einem alten Film, den er einmal gesehen hatte.

„Ich gehöre zur Priesterschaft des Höchsten und einzigen Gottes, dessen Name lautet: Ich bin der Ich bin. “3

Das war, milde gesagt, nicht ganz richtig, aber Terry dachte an seinen Großvater, der ihm einmal etwas vom Priestertum aller Gläubigen4 erzählt hatte. So betrachtet, stimmte also die Sache doch, und er fuhr mit einem Gefühl der zunehmenden Selbstsicherheit fort:

„Nur auf Terra, im Kloster der Brunnerpriesterschaft, werde ich bei diesem Geheimnamen gerufen. Ihr aber dürft mich Terry nennen.“

Mlouff beugte sich zeremoniell vor, flatterte elegant mit seinen Federfingern und gluckste erfreut.

„Seid gegrüßt, Priester Terry aus dem Hause der Brunner.“

Zufrieden blickte er zu den beiden anderen.

„Seht ihr, ich habe es immer gesagt, dass der Zeitmeister überall im Universum angebetet wird. Wir dürfen nie aufgeben, einen sicheren Pfad zu ihm zu suchen. Und mit Terry an Bord sind wir unserem Ziel einen großen Schritt näher gekommen.“

„Das wird sich erst zeigen, Hohepriester. Ich glaube immer noch nicht daran, dass etwas Nützliches von einem primitiven Wasserplaneten kommen kann.“

ThreBark hob als Zeichen seines mangelnden Vertrauens seine muskulösen Arme. Die Bewegung hatte etwas Roboterhaftes, und Terry zuckte unwillkürlich zusammen, aber nicht vor Angst, denn das Bild, das sie zusammen boten, wirkte eher komisch als bedrohlich. Ein fast zwei Meter langer, dünner Vogelpriester, eine sexy Manga-Wissenschaftlerin und ein zweiarmiger sprechender Baumstumpf plauderten mit ihm in der Nähe eines haushohen Eies über die Geheimnisse des Universums.

Darüber musste er sich jetzt Klarheit verschaffen und entschloss sich, in die Offensive zu gehen.

2  Psalm 4, 2

3  2.Mose (Exodus) 3,14

4  1.Petrus 2,5-9